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Psychologie

Jähzorn – wie kann ich mit meiner Wut umgehen?

Veröffentlicht am:16.12.2024

10 Minuten Lesedauer

Es gibt „normale“ und nachvollziehbare Wut – auf Menschen oder bestimmte Situationen. Und es gibt unkontrollierte Wutanfälle. Im Deutschen sprechen wir auch von Jähzorn. Wo diese heftige Wut herrührt und wie sie sich beherrschen lässt.

Ein Geschäftsmann in Hemd und Sakko telefoniert in einem Büro. Er schreit wütend in sein Smartphone und gestikuliert mit der linken Hand.

© iStock / skynesher

Wenn die Wut aus dem Ruder läuft: Was ist Jähzorn?

Jähzorn und Wutanfälle sind belastend für das soziale Umfeld der Jähzornigen und für diese selbst. Wie kommt es zum Kontrollverlust und wie gehen Betroffene und Angehörige am besten damit um? Wir sprechen darüber mit Theodor Itten, Psychotherapeut und Autor des Buches: Jähzorn. Psychotherapeutische Antworten auf ein unberechenbares Gefühl, das 2020 in einer erweiterten Neuauflage erschienen ist.

Für die Erstauflage des Buches von 2007 haben der Autor und sein Team in der Schweiz unter fast 600 Personen eine Umfrage durchgeführt, die sich an der qualitativen Sozialforschung orientiert. Demnach

  • sind 24 Prozent der Bevölkerung in der deutschen Schweiz jähzornig,
  • erleben sich 22 Prozent der Bevölkerung als Opfer von Jähzorn,
  • kommen 36 Prozent der befragten Personen in ihrem familiären Umfeld in Kontakt mit Jähzorn,
  • werden 68 Prozent der befragten und zu Jähzorn neigenden Personen meistens in ihrer Familienumgebung jähzornig.

Es handelt sich also um kein Randphänomen – Grund genug zu klären, wann die Grenze zwischen Wut und Jähzorn überschritten ist.

Worin besteht der Unterschied zu „normaler“ Wut?

Wut kann eine heilende Kraft nach emotionalen Verletzungen sein. Wut im Bauch bekommen wir, wenn unser Gerechtigkeitssinn verletzt wurde. Wut ist das Zischen des Menschen. Die mildere Form dieses heftigen Gefühls ist das Sichärgern, wenn etwas nicht so geht, wie ich es mir vorstelle. Dieses Gefühl dient, in normalen sozialen Situationen, als Anreiz zur Selbstbehauptung und Selbstentfaltung.

Zorn dagegen ist eine Grundemotion. Altenglisch torn bedeutet „bitter, grausam“. Das Wort geht zurück auf „trennen“, „spalten“, „zerren“, „zerreißen“. Im Zorn wird etwas aufgerissen, etwas gespalten. Es kann sein, dass dieses Gespaltensein durch einen Zornanfall gespürt und erkannt wird. „Jäh“ leitet sich vom mittelhochdeutschen Wort gäch her. Wir sind jählings, also plötzlich, zornentbrannt.

Ist Jähzorn eine psychische Störung?

Diagnostisch könnte Jähzorn in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) zu den Impulskontrollstörungen gehören. Jähzorn ist ein nicht zu bändigendes Zorngefühl. Jähzornige verschweigen meist ihren Groll, wenden das Gefühl des Ärgers gegen sich und platzen jäh vor Zorn, um die Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen. Jähzorn schwächt, während mitgeteilter Ärger und Wut uns stärken. Trotzdem: Jähzorn ist ein Versuch, das Gefühlsleben wieder in Fluss und Balance zu bringen.

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Wie äußert sich Jähzorn?

Zorn gehört, zusammen mit Liebe, Hunger, Angst, Furcht und Trauer, zu den primären Gefühlen in unserem Leben als Menschen. Im Jähzorn werden wir von dem bis dahin unterdrückten Zorn überwältigt. Der gesund mitgeteilte Zorn stärkt unser Selbst und ermöglicht es uns, unsere persönlichen und sozialen Grenzen zu schützen. Es ist eine kontinuierliche Lebensaufgabe, den eigenen jähen Zorn so abzubauen, dass unser Zorn andere nicht mehr versehrt. Sich in seinen wahren Gefühlen zu zeigen, ist für viele, vor allem Männer, üblicherweise ein riskantes Unterfangen. Gefühle zeigen wird oft gleichgesetzt mit Schwäche zeigen.

Wenn wir zürnen, zeigen wir, noch vor der verbalen Kommunikation, einen zornigen Blick. Im Zorn wird etwas in uns aufgerissen. Nämlich die Daunendecke der Vernunft – die Verbundenheit des Menschen mit seiner Tiernatur wird spürbar. Im Zorn schlägt unser Herz viel stärker, unser Gesicht läuft rot an, unsere Atmung wird intensiver. Wir zittern am ganzen Leibe, unsere Stimme wird kreischend laut. Die ganze Muskulatur wird durch heftige, autonom gesteuerte Aktionen in höchster Alarmbereitschaft angespannt. Säugetiere aller Arten können sich noch, wenn sie als Beutetiere angegriffen werden, mit der durch Zorn ausgelösten körperlichen Abwehrmacht wehren. Zorn dient also der finalen Selbstverteidigung. Diese Emotion ist eine vererbte Gewohnheit.

„Der gesund mitgeteilte Zorn stärkt unser Selbst und ermöglicht, unsere persönlichen und sozialen Grenzen zu schützen.“

Porträt von Theodor Itten

Theodor Itten
Psychotherapeut und Autor des Buches: Jähzorn. Psychotherapeutische Antworten auf ein unberechenbares Gefühl

© privat

Gibt es typische Auslöser von Jähzorn?

Die meisten Jähzornauslöser in unserer Umfrage sind: schwere Gefühle (Ohnmacht, Enttäuschung), Konflikte mit Mitmenschen, emotionale Einengung und manchmal banale Dinge wie ein Teelöffel, der auf den Boden fällt. Diese Irritation kann die jähe Empörung im Zorn auslösen. Wenn wir unsere Gefühle, meist die schwierigen, nicht ausdrücken dürfen, können oder wollen, dann bildet sich ein innerer Stau, den wir nie ganz kontrollieren können, so dass wir doch im jähen, hasserfüllten Zorn explodieren.

Gibt es einen Unterschied zwischen Jähzorn und Wutanfällen bei Kleinkindern, Kindern und Erwachsenen?

Viele Kinder zerstören in ihrem Jähzorn Dinge, schmeißen sie herum. Kinder trampeln mit den Füßen und brüllen entsetzlich. Wenn wir erkennen, als Kinder (und danach als Erwachsene), dass wir uns durch diese Art, den Zorn auszuleben, kurzfristig durchsetzen können, gebrauchen wir gerne auch später den Jähzorn als Inszenierung, um anderen emotional oder physisch weh zu tun.

Obschon in unserer Umfrage von 575 Personen 117 zugestimmt haben, unter dem Jähzorn eines Elternteils gelitten zu haben, waren es insgesamt 45, die unter dem Vater und nur 11, die unter der Mutter gelitten haben. In der Familienwelt werden Frauen anders jähzornig als Männer: Ihr jäher oder schneller Zorn ist generell weniger gewaltsam verletzend als derjenige der Männer. In der Berufswelt zeigen Frauen hingegen eher als Männer ihre wahren, aufgestauten Zorngefühle. Hier sehen wir die Ergebnisse der Sozialisation von genderspezifischem Gefühlsverhalten.

Leiden jähzornige Menschen selbst unter ihrer mangelnden Kontrolle?

Die Wucht des Jähzorn-Ausbruches erschreckt die Mitmenschen genauso wie die Jähzornigen und nach dem Anfall sinken sie meist in eine niedergeschlagene, trübsinnige Stimmung. Die Erfahrung eines Jähzorn Anfalls ist eine emotionale Katastrophe, die gleichzeitig auch eine Möglichkeit der eigenen Emanzipation ist: sich von dieser Art, den Zorn auszuleben, zu befreien. Jedes Mal, wenn dieses verheerende Unglück eines emotionalen Kontrollverlustes passiert, bekomme ich, als den Zorn jäh Auslebender, die Möglichkeit, mich von diesem Zustand des Widerholungszwangs zu befreien.

Woher kommt unser Jähzorn?

Zorn wird durch das Schaltnetz unseres Nervensystems ausgelöst, wobei die primären Gefühlssysteme von Zorn und Furcht ineinander vermischt sind. Wenn einem menschlichen Säugling die Arme auf der Seite festgehalten werden, somit seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird, kann das einen Zornanfall produzieren. Unsere durch evolutionäre Prozesse und Erfahrung geprägten Gehirne wurden konditioniert, die Gründe für starke Gefühle außerhalb von uns zu suchen.

Je mehr wir über die Gefühlsaffektschaltungen im Gehirn wissen, desto besser können wir mit diesem Wissen einen Teil unserer Zorn-Gefühlsbasis verstehen. Das können wir als Grundlage für die weitere Evolution unserer Gefühlswelt sehen. Als reife erwachsene Menschen können wir dank jahrelangem sozial-kognitivem Lernen unsere primitiven Gefühlsimpulse durch Worte in Sprache bringen.

Zorn als Überlebensstrategie

Bevor wir Menschen dank unserer Entwicklung von Waffen zu raubtierartigen Jägern wurden, waren wir gejagte Beutetiere. Beutetiere sind Fluchttiere. Das einzelne Fluchttier wird erlegt und gefressen. Die Gattung jedoch hat sich meist so weit entwickelt, dass sie überleben kann. Zorn ist neben dem Reflex, sich totzustellen, die zweite existentielle Verhaltensstrategie, um als Beutetier dem immanenten tödlichen Biss doch noch zu entkommen. Zorn und Jähzorn sind wuchtige Energieschübe, die eventuell eine letzte lebensrettende Flucht ermöglichen können. Wir müssen diese dominierende Kraft des Gehirns, die wir als inneren Zornes-Druck erleben, annehmen und spüren, ehe sie uns dazu verleitet, zum Beispiel jemanden ins Gesicht zu schlagen.

Ist Jähzorn erblich?

Jede Person ist fähig, Zorn zu spüren. Ob sie ihn ausdrücken kann oder nicht, kommt auf verschiedene Faktoren an. Kinder spüren die Emotionen der Eltern ganz genau, haben nur meist nicht die Sprache, um es ihnen mitzuteilen. Eltern übertragen ihren Zorn oder ihre Wut auf uns als Kinder. Oft können wir uns nicht davon lösen. Wir übernehmen diese Verhaltensweise. Wir nennen das in der Psychotherapie eine transgenerationale Delegation von Gefühlen. Leider werden wir als Kinder dann oft für die gleiche Reaktion bestraft, die für unsere Eltern „normal“ ist. Sie kennen sicher die Erziehungsformel: „Tue das, was ich sage, nicht was ich selbst tue.“ Als Kinder könnten wir auf so was verzichten, da es uns belastet und entweder ins Schweigen nach innen und außen bringt oder in sogenanntes „asoziales“ Verhalten.

„Eltern übertragen ihren Zorn oder ihre Wut auf uns als Kinder.“

Porträt von Theodor Itten

Theodor Itten
Psychotherapeut und Autor des Buches: Jähzorn. Psychotherapeutische Antworten auf ein unberechenbares Gefühl

© privat

Wie verhindere ich einen Wutausbruch?

Wichtig ist: Die wahren Gefühle zeigen. Es gibt Menschen, die ihre Gefühle von Ärger, Wut und Zorn lieber „herunterschlucken“. Andere wiederum versuchen diese wegzutrinken, wegzurauchen oder anderweitig zu verdrängen, anstatt sie auszudrücken. Ich empfehle eine Skala von Gefühlen, die bei „Ich fühle mich genervt“ oder „Ich fühle mich gestört“ beginnt. Wenn ich diese Gefühle ausdrücke, am besten in „Ich-Botschaften“, fühlen sich die anderen nicht angegriffen. Die innere Gefühlsspannung, oft mit negativem Stress verbunden, kommt dadurch wieder runter in die Grund-Entspannung.

Falls ich diese Gefühle nicht artikulieren kann oder will, komme ich eine Stufe höher zum: „Du ärgerst mich“. Sollte ich das nicht aussprechen, werde ich wütend. Ärger und Wut sind Gefühle, die durch unser soziales Leben ausgelöst werden. Zornig werden wir erst dann, wenn es uns als Ganzes zerreißt und die eigene Existenz angegriffen wird. Wenn es uns gelingt, die Auslöser des eigenen Zorns zu spüren und zu benennen, haben wir den ersten Schritt gemacht, uns vom vulkanähnlichen Gefühlssturm zu befreien.

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Was ist die beste Hilfe für Menschen mit Jähzorn?

Erstens muss ich mir meinen Jähzorn eingestehen. Zweitens hilft das Erkennen der Auslöser meines Jähzorns. Wissen, wie und wann sich mein Jähzorn immer wieder zeigt. Erst dann kann ich Maßnahmen zur Linderung meiner Attacken kultivieren. Unter anderem hilft eine Psychotherapie, eigenes Musikmachen, Sport und Bewegung allgemein, sowie Meditation und innere Selbstwahrnehmung. Es braucht lebbare Alternativen, um das Gefühl von Zorn nicht jäh und aggressiv destruktiv, sondern positiv und kraftvoll ausleben zu können.

Gefühle äußern und anerkennen

Laut meiner Umfrage haben nur solche Jähzornige etwas unternommen, welche an ihrem Jähzorn mitleiden. Wenn durch eine Psychotherapie der Umgang mit den eigenen Gefühlen – nicht nur Zorn, sondern auch Freude, Liebe, Angst, Furcht, Ärger und viele mehr – verbessert oder erst richtig ermöglicht wird, motivieren neugewonnene Einsichten zur Veränderung. Was sofort wirkt ist, die eigenen Gefühle nicht mehr runterzuschlucken, zu verdrängen oder abzuwürgen, sondern sie offen und ehrlich zu äußern. Eine Psychotherapie, die integrativ und körperorientiert vonstattengeht, bietet die Chance, sich aus der Gewohnheit, den eigenen Zorn jäh ausleben zu müssen, zu befreien und in eine neue psychosoziale Zufriedenheit hineinzufinden.

„Was sofort wirkt, ist die eigenen Gefühle nicht mehr runterzuschlucken, zu verdrängen oder abzuwürgen, sondern sie offen und ehrlich zu äußern.“

Theodor Itten
Psychotherapeut und Autor des Buches: Jähzorn. Psychotherapeutische Antworten auf ein unberechenbares Gefühl

Mit der Psychotherapie an den kindlichen Wurzeln ansetzen

Weil die Wurzeln meist im frühen Kinder-Leben liegen, ist es wichtig, die Lebensbedingungen, unter denen wir aufgewachsen sind, hinterfragend zu klären, um die unbewussten, also die nichtkommunizierten Gefühle und Motivationen wahrzunehmen und in Kontakt zu treten mit dem, was diese Gefühle ausgelöst hat.

Das kann in einer Therapie gelingen. Wenn ich den Mut habe, die Gefühlsknoten nochmals anzuschauen, sie aufzulösen und den Geist des zurückgehaltenen Wutschmerzes „aus der Flasche herauszulassen“, komme ich zum Urgrund meines damaligen Erlebens. Ich bin noch in der früheren Situation, doch zur gleichen Zeit als Erwachsener auch in der heilenden Gegenwart eines anderen Erwachsenen, des Therapeuten oder der Therapeutin.

Eine junge Frau sitzt auf einem Sofa im Sprechzimmer eines Psychotherapeuten. Der Therapeut sitzt ihr mit einem Klemmbrett auf dem Schoß in einem Sessel gegenüber.

© iStock / mixetto

Eine Psychotherapie verbessert den Umgang mit den eigenen Gefühlen – und damit auch mit dem Zorn.

Langzeittherapie ist oft zielführend

Das Ziel muss sein: Nicht ich werde vom Gefühl beherrscht, sondern ich beherrsche das Gefühl. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen nähren sich aus der eigenen Wahrheit unserer Gefühle. Das Verhalten im Jähzorn steht im Zusammenhang mit der gesamten Persönlichkeit und sämtlichen Erfahrungen mit der umgebenden Welt. In einer Langzeitpsychotherapie verändern sich die grundlegenden Persönlichkeitsstrukturen eher als in einer Kurzzeittherapie, mit der man die Symptomatik schnell verändern kann. Die Gewohnheitsmuster lassen sich nur verändern, wenn kontinuierlich neue Gewohnheiten, in unserem Fall der Gefühlsregulation von Zorn, im Alltag eingeübt werden. Seelische Störungen haben verschiedene Geschichten und brauchen deshalb variable Lösungswege.

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Wie können sich Angehörige verhalten, um den Jähzorn zu mildern und sich selbst zu schützen?

Einer der wichtigsten Tipps für Opfer von Jähzorn-Ausbrüchen ist, nicht der Versuchung zu erliegen, „Feuer mit Feuer zu bekämpfen“. Opfer von Jähzorn sollten nach Möglichkeit versuchen, die Situation zu beruhigen. Diskussionen kann man später führen, wenn die Atmosphäre sich beruhigt hat. Im schlimmsten Fall nicht zögern, Hilfe zu holen. Professionelle Hilfe kann Leidtragenden auch das oft quälende Gefühl nehmen, schuld am Aggressionsausbruch zu sein.

Als Paar ist es gut möglich, einen Warncode auszumachen, um eine erneute Eskalation sofort zu stoppen. Analog einem Time-Out in einigen Sportarten. Rausgehen aus der Situation, um sich selbst klarzumachen, was gerade passiert ist, was die Auslöser dieser Situation waren. Damit kommen wir danach ins Gespräch, ohne Schuldzuweisungen, die nicht nur nichts nützen, sondern erneut Hassgefühle auslösen können. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Das schnellste Pferd kann ein im Zorn gesprochenes Wort nicht einholen.“

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