Psychologie
Wie fühlt sich ein Burnout an?
Veröffentlicht am:11.03.2022
15 Minuten Lesedauer
Aktualisiert am: 22.03.2022
Der Unternehmer, Podcaster und Aktivist Lars Tönsfeuerborn setzt sich insbesondere für queere Themen und psychische Gesundheit ein. Er selbst erlitt 2012 eine schwere Depression und ein Burnout und beschreibt in seinem Tagebuch, wie er gelernt hat damit umzugehen.
Was ist ein Burnout?
Beim Burnout-Syndrom handelt es sich um Symptome und Leid, die meist mit der Arbeitswelt in Verbindung gebracht werden und dort besonders deutlich zutage treten. Sie werden im zukünftigen Klassifikationssystem ICD-11 als Faktoren mit großem Einfluss auf die Gesundheit eingestuft. Die wissenschaftlichen Diskussionen der Expertenwelt sind aber weiter im Gange. Symptome eines Burnout sind schwer von denen einer Depression abzugrenzen. Art und Schwere der Symptome variieren von Mensch zu Mensch. Die Behandlungsstrategien sind ähnlich und passen sich immer dem individuellen Fall an. Vielen Menschen erleichtert der Begriff „Burnout“, professionelle Hilfe und Veränderung zu suchen, denn dieser Begriff wird von vielen Menschen nicht als so stigmatisierend empfunden wie der Begriff „Depression“.
Unser Experte Prof. Dr. Ulrich Voderholzer ist Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Schön Klinik Roseneck, einer Fachklinik für psychische und psychosomatische Erkrankungen. Er ordnet die Tagebucheinträge von Lars Tönsfeuerborn für Sie ein.
Seine Expertise beruht dabei nicht auf einer persönlichen Begegnung mit dem Protagonisten.
Lars Tönsfeuerborns Tagebuch: Woche 1
Aktuell läuft ein großes Projekt in meiner queeren Agentur PTO Media, in dem es auch um die seelische Gesundheit queerer Menschen und deren Schicksalsschläge geht. Somit bin ich häufig mit der Belastung junger Menschen konfrontiert, was wiederum auch mich sehr belasten kann. Aber wie gehe ich damit eigentlich um? Klar ziehen mich Schicksale runter und lassen mich die Arbeit automatisch mit nach Hause nehmen. Aber wenn ich eine Sache in meinem stationären Aufenthalt in der Klinik vor vielen Jahren wirklich gelernt habe, ist es, dass es unumgänglich ist, meine seelische Gesundheit an die erste Stelle zu setzen. Gesunden Egoismus nenne ich das. So entscheide ich dann auch bewusst, mich einen Tag aus der Arbeit rauszuziehen und Abstand zu den Geschehnissen zu bekommen. Denn nur wenn mein Kopf gut funktioniert und gesund ist, kann ich mit meiner Arbeit anderen helfen. Es ist ein großes Privileg, die Freiheit zu besitzen, mich einfach rauszunehmen. Für diesen großen Luxus bin ich sehr dankbar.
Was tue ich an so einem Tag für mich? Erst mal lasse ich alles, was mich mit der Arbeit konfrontiert, aus dem Auge. Ich schlafe aus, starte gemütlich in den Tag, gehe mit dem Hund raus. Putzen hilft mir auch sehr, denn so, wie die Wohnung aussieht, so sieht es auch in meinem Kopf aus. Nach einem entspannten Start und einer Runde mit dem Hund, packe ich meine Tasche und gehe zum Sport, den habe ich in diesem Jahr wieder für mich entdeckt. Ich merke erst jetzt wieder, wie viel mir meine tägliche Einheit Bewegung gibt. Denn dort schalte ich ab und kann alle negativen Energien rauslassen und gleichzeitig neue positive Energie schöpfen. Da muss aber am Ende jeder seinen eigenen Weg finden, vor allem, wenn man sich gerade nur schwer motivieren kann, also in einem Loch steckt. Den restlichen Tag mache ich einfach Dinge, die mich glücklich machen, und ich nutze etwas Zeit davon zur Selbstreflexion. Was macht mich gerade glücklich? Was zieht mich runter und wie kann ich die Schrauben neu einstellen? Am Ende hat der Tag mir wieder viel Kraft gegeben und die Zeit, meine aktuelle Lage genau zu durchleuchten und zu optimieren. Ob es in den nächsten Tagen umgesetzt wird und ich meine positive Energie halten kann, wird sich zeigen. Aber meine Woche war nicht nur anstrengend!
Vor einigen Wochen bekam ich eine Nachricht aus dem Landtag. Eine Einladung zum persönlichen Gespräch mit einer dort vertretenen Fraktion. Man möchte gerne etwas mit mir machen, die Thematik kann ich frei mitgestalten. Für mich ist es selbstverständlich, meine wichtigsten Themen zu positionieren: seelische Gesundheit und die queere Community.
Was mich aber so glücklich macht: Ich habe wieder die Möglichkeit, meine Reichweite für die wirklich wichtigen Dinge zu nutzen und somit wieder einen neuen Kreis an Menschen zu erreichen. Vielleicht rege ich Politiker*innen sogar zum Nachdenken an. Was aber am wichtigsten ist, wenn ich nur einem einzigen Menschen damit helfe, dann habe ich mein persönliches Ziel erreicht. Ich verlasse den Landtag beflügelt und freue mich auf das Projekt.
„Bei anhaltender Überlastung und Erschöpfung besteht ein erhöhtes Risiko dafür, beispielsweise eine Depression zu entwickeln.“
Prof. Dr. Ulrich Voderholzer
Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Schön Klinik Roseneck, einer Fachklinik für psychische und psychosomatische Erkrankungen
© Schön Klinik
Die Einschätzung unseres Experten Prof. Dr. Ulrich Voderholzer
Zunächst der Hinweis, dass ein Burnout keine eigenständige Erkrankung ist. In Untersuchungen konnten die Symptome nicht deutlich genug von denen einer Depression abgegrenzt werden, daher gibt es keine anerkannte psychische Diagnose. Aus psychiatrischer Sicht ist Burnout keine psychische Erkrankung – bei anhaltender Überlastung und Erschöpfung besteht aber ein erhöhtes Risiko, beispielsweise eine Depression zu entwickeln. Diese wird dann in der Psychotherapie behandelt. Während die Behandlung einer schweren Depression länger dauert, kann ein typisches Burnout-Erleben in vielen Fällen rasch gebessert werden, wenn Betroffene wieder auf einen regelmäßigen Schlaf-wach-Rhythmus, auf ausreichend Bewegung, gegebenenfalls auch weniger Alkoholkonsum und soziale Kontakte achten. Die Gesundheit an erste Stelle zu setzen, ist also immer eine gute Maßnahme. So tut es auch Herr Tönsfeuerborn. Faktoren, wie überfordernden Situationen aus dem Weg zu gehen, Sport zu treiben, achtsam mit sich umzugehen, tragen alle zur psychischen Balance bei.
Burnout-Betroffene berichten sowohl von Überforderung als auch von Unterforderung. Wie es damals genau bei Herrn Tönsfeuerborn war, wissen wir nicht – vermutlich Überforderung. Unterforderung, vor allem soziale, zeigt sich zum Beispiel bei großer Einsamkeit und sozialer Isolation. Diese können ebenso zu einem Burnout führen wie dauerhafter Stress, Leistungsdruck, wenig Wertschätzung oder mangelnde Identifikation mit der eigenen Arbeit.
Bei Unterforderung und fehlenden sozialen Kontakten ist es zum Beispiel nicht ratsam, sich freizunehmen. Ein Verlust von Tagesstruktur kann eine depressive Entwicklung dann eher noch verschlimmern. Anders bei Überforderung: Hier kann eine zeitlich umgrenzte Krankschreibung schon mal notwendig sein und Entlastung schaffen. Langfristig ist eine Balance aus Engagement und Erholung wichtig, um sich zu schützen.
Lars Tönsfeuerborns Tagebuch: Woche 2
Diese Woche kann nur gut werden, da bin ich mir absolut sicher! Es steht ein Projekt in Berlin an und ich sehe viele liebe Menschen bei meinem Besuch dort wieder. Ich korrigiere – die Woche hätte gut werden können. Fangen wir bei Montag und Dienstag an: Ich sehe die Tage als recht neutral, ich bin gut gelaunt, mir geht keiner auf die Nerven, mein Kopf ist frei und nichts belastet mich. Genau die richtige Laune, um sich zwei Tage in eine Finanz- und Liquiditätsfortbildung zu setzen. Endlich Mittwoch! Ab nach Berlin, ich freue mich auf das Projekt. Aber bevor es losgeht, noch ein Shooting für die Firma. Unter anderem mit einem neuen Teammitglied, über dessen Start wir echt happy sind. Danach geht es direkt zum Bahnhof und nach Berlin.
Aber wie könnte es anders sein? Natürlich musste die Woche noch irgendetwas passieren, was nicht positiv ist. Zur Erklärung: Bis letztes Jahr habe ich neben meiner Arbeit eine ältere Dame betreut. Leider musste ich den Job im September aufgrund meiner immer weiter wachsenden Selbstständigkeit beenden. Der Kontakt und Besuche blieben trotzdem. So auch vor zwei Wochen. Da so langsam absehbar war, dass ihre Zeit zu Ende geht, bin ich hingefahren, habe ihre Lieblingsblumen besorgt und mich von ihr verabschiedet. Auch wenn mir der Prozess des Sterbens durch meine frühere Tätigkeit in der Pflege bekannt ist und ich es für mich sehr gefasst ertragen kann, haut mich die Nachricht von ihrem Tod wirklich um. Nun sitze ich im ICE und kämpfe mit den Tränen, sage mir, reiß dich zusammen, bis du im Hotel bist. Aber warum eigentlich? Ist es falsch, öffentlich zu weinen? Ist es falsch, weil ich ein Mann bin und von der Gesellschaft erwartet wird, dass Männer nicht weinen? Ich bin halt keine Maschine, also lasse ich die Tränen laufen und scheiße wie so oft darauf, was andere denken könnten. Mir wird wieder klar, wie viel wir gesellschaftlich noch vor uns haben. Erschreckend finde ich die Reaktionen der anderen Reisenden. Für mich wäre es logisch zu fragen, ob alles okay ist oder ob man helfen kann – aber Fehlanzeige. Das Einzige, was ich an Aufmerksamkeit bekomme, sind gefühlt angewiderte Blicke. Mein persönliches Fazit: Leckt mich doch! Ich merke, wie es meinen Kopf belastet, also alles. In Berlin angekommen, lasse ich alle Emotionen raus und falle nur noch ins Bett.
Neuer Tag, neues Glück – oder Unglück? Ich wache auf und fühle mich einfach krank, Kopf zu, es schüttelt mich und ich fühle mich ausgebrannt. Das ist ein Zeichen und vor allem kann ich so an keinem Set auftauchen. Damit hat sich das Projekt und jeglicher Tatendrang auch verabschiedet. Ich sage ab, buche mir die Bahn und fahre zurück nach Düsseldorf. Dort angekommen, mache ich genau das, was ich jetzt brauche, ich mache mir Tee, decke mich mit Erkältungsmitteln ein und bleibe zu Hause, okay, mit Ausnahme von nächtlichen Spaziergängen. Ich setze mich auf „Reset“ und kümmere mich mal wieder bewusst um mich, meinen erkrankten Körper und die überlastete Seele. Ende.
„Gefühle zu verdrängen ist nie gut. Sich ständig einzureden, funktionieren zu müssen, führt eher zum Gegenteil.“
Prof. Dr Ulrich Voderholzer
Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Schön Klinik Roseneck, einer Fachklinik für psychische und psychosomatische Erkrankungen
© Schön Klinik
Die Einschätzung unseres Experten Prof. Dr. Voderholzer
Es ist immer ratsam, sich seinen Gefühlen zu stellen und diese nicht zu verdrängen. Viele Menschen, die Gefühle zeigen, empfinden sich selbst als schwach und verwundbar. Diesen Konflikt beschreibt auch Herr Tönsfeuerborn. Dabei ist es eine Stärke, in der Lage zu sein, Gefühle auch zu zeigen. Es ist nichts falsch daran, in der Öffentlichkeit zu weinen oder wenn man sich einräumt, Hilfe zu benötigen. Sich ständig einzureden, dass man funktionieren muss, führt im Endeffekt eher zum Gegenteil: einer Dysfunktion. Unverarbeitete Trauer kann zu einer lange dauernden Belastung werden. Besonders deutlich sehen wir dies im Fall von Traumatisierungen. Hier ist es sogar oftmals erforderlich, sich ganz gezielt noch mal mit dem Erlebten auseinanderzusetzen – um langfristig stabil zu werden.
Wenn negative Gedanken und Emotionen überhandnehmen, einen ständige innere Unruhe umtreibt, anhaltende Schlafstörungen bestehen und man sich bei der Arbeit nicht mehr konzentrieren kann, sollte ärztliche Hilfe in Anspruch genommen und eine Krankschreibung erwogen werden.
Zum Glück gibt es eine positiv zu bewertende Entwicklung, was die Anerkennung von Depression und Burnout in der Arbeitswelt angeht. Der Faktor Arbeit im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit spielt historisch gesehen mittlerweile eine große Rolle. Auch dank Personen wie Herrn Tönsfeuerborn, die mit ihrer Krankheit an die Öffentlichkeit gehen und somit zu einer Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen beitragen.
Lars Tönsfeuerborns Tagebuch: Woche 3
Nachdem ich seit Ende der Woche zu Hause bin, um mich auszukurieren, geht es mir langsam besser. Allerdings werde ich mir selbst noch zwei Tage Auszeit zu Hause verordnen, einfach für mich.
Leider beginnt die Woche mit einer traurigen Nachricht: Meine Tante ist nach einem längeren Leidensweg von dieser Welt gegangen. Für sie eine Erlösung, für die Angehörigen sehr schmerzlich – wie Abschied und Trauer nun mal sind. Am meisten denke ich dabei an meinen Onkel, seine Kinder und Enkelkinder. Ihren Verlust kann ich mir kaum vorstellen. Ich schreibe eine Karte, denn meiner Ansicht nach wird man bei einem Trauerfall schon mit genügend Menschen und Faktoren konfrontiert. Ich werde mich nach der Beerdigung in Ruhe bei ihnen melden. Ich merke, wie mich die Tatsache, dass die Tante nicht mehr unter uns ist, sehr traurig macht. Sie war eine Gute! Meist gut gelaunt und immer einen lockeren Spruch parat. Du wirst fehlen! Und wieder gilt: Nicht nur trauern, sondern das Leben und die gemeinsame Zeit, die wir mit den Menschen hatten, einfach feiern!
Am Mittwoch wage ich mich wieder vor die Tür, zumindest bis ins Büro, wo ich dann stumpf meiner Arbeit nachgehe. Ich schreibe und zahle Rechnungen und bearbeite Mails. Ein ganz normaler Tag ohne große Vorkommnisse. So halte ich es auch mit dem Donnerstag, allerdings gehe ich auch wieder zum Sport und merke direkt, wie sehr mir dieser Ausgleich gefehlt hat. Und zack, bin ich einfach wieder glücklich. Der Kopf ist frei und auch vor der anstehenden Beerdigung graut es mir nicht allzu sehr.
Dann ist es Freitagmorgen und ich stehe in Schwarz auf dem Friedhof. Heute verabschieden wir aber nicht meine Tante, sondern die Dame, die ich bis letztes Jahr betreut habe. Der Anblick ihrer Tochter macht mich traurig, ich sehe, wie sehr sie leidet. Wir betreten die Kapelle und es ist alles sehr schön hergerichtet: schlicht, ohne viel Kitsch. Der Sarg, einige Kerzen und schöne Blumenkränze und Gestecke. Die Pfarrerin hält eine sehr schöne und würdevolle Predigt. Während „Amazing Grace“ läuft, denke ich an unsere gemeinsame Zeit, blicke auf das aufgestellte Porträt von ihr und denke an ihr Lachen, ihre Blicke und die manchmal freche Art. Ich lasse den Tränen freien Lauf, wenn nicht hier, wo sonst? Am Grab dann ein letzter Blick auf den Sarg, ein paar Gedanken und ich fühle mich trotz des traurigen Anlasses frei – ein Grund, mich deswegen schlecht zu fühlen? Nein! Ich nehme Abschied und es ist ein sehr trauriger Moment, allerdings denke ich jetzt eben lieber an die schönen Momente und bin glücklich auf ihrem letzten Weg dabei gewesen zu sein. Leb wohl!
Danach geht es für mich erst mal zum Sport und dann ins Büro. Damit ich mich nicht direkt wieder übernehme, reicht es dann um 18.00 Uhr auch für die Woche und ich läute das Wochenende ein. Was habe ich vor? Eigentlich hätte ich arbeiten müssen, das wurde aber abgesagt. Also nichts! Und das ist gut so! Ich werde zum Sport gehen, lecker Essen und mit dem Hund raus. Gute Nacht.
„Eine positive Sicht auf die Dinge ist immer ein gutes Zeichen für eine stabile psychische Gesundheit.“
Prof. Dr. Ulrich Voderholzer
Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Schön Klinik Roseneck, einer Fachklinik für psychische und psychosomatische Erkrankungen
© Schön Klinik
Die Einschätzung unseres Experten Prof. Dr. Voderholzer
Beim Lesen der Tagebucheinträge fiel mir die positive Art der Texte gleich auf. Der Betroffene zeigt viel Empathie, pflegt innige Beziehungen zu anderen Menschen und legt eine sehr wertschätzende und positive Sicht auf die Dinge an den Tag. Das ist immer ein gutes Zeichen. Akut depressive Menschen sind dazu oft nicht in der Lage. Ihnen fällt es äußerst schwer, sich bei Rückschlägen wieder auf das Positive zu konzentrieren. Auch Weinen in der Öffentlichkeit ist für sie meistens nicht möglich. Dabei kann es sehr guttun, die Trauer mit anderen zu teilen.
Im Falle eines Todesfalles ist Trauer normal und stets individuell. Je nach Beziehungsgrad kann Trauer aber auch extrem sein: Wenn sich ein Mensch von einem anderen abhängig gemacht hat, keine Eigenständigkeit mehr bestand und eine Identifikation der eigenen Person nur noch über die der anderen funktionierte, kann der Verlust sehr groß sein. Früher war es nicht selten, ein ganzes Jahr lang über den Tod eines geliebten Menschen zu trauern.
Herr Tönsfeuerborn lässt seine Gefühle zu, kann sich selbst Grenzen setzen und auch gut abgrenzen von anderen Menschen. Er akzeptiert seine Umwelt und lebt mit ihr – das ist auch ein wichtiger Ansatz in der Therapie. Was zudem positiv auffällt, ist seine Selbstfürsorge. Er belohnt sich nach einer anstrengenden Woche mit positiven Aktivitäten wie Sport und einem guten Essen – Selbstmitgefühl ist ein wichtiger Aspekt.
Lars Tönsfeuerborns Tagebuch: Woche 4
Wie intensiv kann eine Woche sein? Die letzte Woche: Sehr! Die ersten Tage laufen entspannt, ich fühle mich ausgeglichen und es ist alles im Lot. Am Mittwoch habe ich nach Wochen wieder einen Termin mit meiner Therapeutin. Das Gespräch läuft sehr gut. Wir kommen gemeinsam zu dem Entschluss, dass ich zum aktuellen Zeitpunkt trotz aller Hochs und Tiefs nicht mehr auf ihre Hilfe angewiesen bin. Sie schlägt vor, nur noch auf Abruf bereitzustehen. Da ich, was meine seelische Gesundheit angeht, auf Sicherheit setze, vereinbare ich einen Termin in drei Monaten. So kann ich selbst schauen, wie gut mir Reflexion und der Ausgleich bei Belastungen gelingt, und noch mal mit ihr darüber sprechen. Das gibt mir Sicherheit und lässt mich heute verdammt stolz und glücklich die Praxis verlassen. Selbst wenn es mir noch nicht komplett gelingen wird, ohne Therapie klarzukommen, bin ich darauf vorbereitet und kann auch ein Scheitern akzeptieren. Ich bin mittlerweile aufgeräumt und weiß, was mir guttut, verarsche mich selbst nicht mehr und habe meine Mitte – vor allem meine Bedürfnisse – gefunden und bestimmt.
Ich mache mich auf den Weg nach Berlin. Dieses Mal bleibe ich hoffentlich gesund. Bei meinen letzten vier Besuchen wurde ich immer krank. Das kann auch mit dem Kopf zusammenhängen. Dies gilt es zu durchbrechen und es gelingt. Ich fühle Berlin wieder. Was ich aber gar nicht fühle, sind die Nachrichten vom Donnerstagmorgen. Der 24. Februar startet mit einer neuen Welt. Krieg! Und das nicht weit von uns entfernt, mitten in Europa. Macht es mir Angst? Natürlich, und es ist auch völlig okay, Angst zu haben. Denn es ist Krieg! Man darf sich aber auch einfach einmummeln und alles von sich wehren.
Ich halte es für mich anders: Ich stürze mich in die Nachrichten, setze mich intensiv mit dem Thema auseinander und erkenne für mich persönlich, wie wichtig es ist, jetzt nicht wegzuschauen und meinen Fokus genau darauf zu legen. Lange waren das freie Leben, welches wir genießen, die Demokratie und auch die Vielfalt nicht so sehr bedroht wie jetzt. Dafür möchte ich einstehen, zumal auch die queere Community in der Ukraine in großer Gefahr ist, sollte es einen Regierungswechsel nach den Wünschen Putins geben. Hier dürfen wir keinen Schritt weichen. Und meine Gedanken zu dem Thema sind schwer. Aber nicht zu schwer, ich reflektiere mich und achte genau auf meine Kräfte. Sollte es zu viel werden, nehme ich mich auch etwas zurück. Aber ich möchte meine Reichweite nutzen, um auf die Situation hinzuweisen. Damit ich aber eben meinen Ausgleich finde, schalte ich die Medien einfach zwischendurch ab, schnappe mir den Hund und gehe raus. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau und die frische Luft tut gut. Morgen ist auch noch ein Tag!
„Dass der Betroffene die Therapie noch nicht gleich abschließt, ist kein Zeichen von Schwäche.“
Prof. Dr Ulrich Voderholzer
Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Schön Klinik Roseneck, einer Fachklinik für psychische und psychosomatische Erkrankungen
© Schön Klinik
Die Einschätzung unseres Experten Prof. Dr. Voderholzer
In der Psychotherapie ist Selbstreflexion ein zentrales Thema. Nur wer in der Lage ist, sein eigenes Verhalten zu betrachten, kann an sich arbeiten. Selbstreflexion ist ebenso wichtig im Umgang mit anderen Menschen. Man kann daran sehr gut in der Einzel- und Gruppentherapie arbeiten. Patienten, die sich erst mal überwunden haben, empfinden Rollenspiele dabei als sehr hilfreich. Nur durch eine intakte Selbstwahrnehmung kann Herr Tönsfeuerborn gemeinsam mit seiner Therapeutin die Psychotherapie als erfolgreich beendet ansehen. Dass er diese noch nicht ganz abschließt, sondern lieber einen Anschlusstermin plant, ist kein Zeichen von Schwäche. Es zeigt eher ein wohlwollendes Maß an Selbstfürsorge und steht für eine intakte Selbstwahrnehmung. Zudem hat der Betroffene eine gute Balance, sorgt sich um sich selbst sowie um seine Mitmenschen und legt eine akzeptierende Haltung an den Tag. All diese Faktoren sprechen für eine gesunde Psyche.
Das Thema des Krieges bewegt im Moment sehr viele Menschen. Es ist normal und gesund, sich damit auseinanderzusetzen. Wichtig ist, ein für sich gesundes Maß an Informationen zu finden. Viele fühlen sich in diesen Tagen hilflos bei der Flut an schlechten Nachrichten. Um aus der Negativität wieder rauszukommen, kann es helfen, sich mit anderen zu solidarisieren oder sich an Hilfsaktionen zu beteiligen. Herr Tönsfeuerborn macht es da richtig und sucht sich bewusst einen Ausgleich zu den Nachrichten, indem er mit seinem Hund raus an die frische Luft geht. Depressive Menschen sind dazu oft nicht in der Lage, sie igeln sich vielmehr ein, sehen die Welt schwärzer und aktiv zu werden fällt ihnen schwerer.
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