Psychologie
Wie fühlt sich eine Anpassungsstörung an?
Veröffentlicht am:11.03.2022
11 Minuten Lesedauer
Aktualisiert am: 22.03.2022
Moritz Neumeier, Stand-up-Comedian und Podcaster, über sich: „Ich habe eine Anpassungsstörung, weil es für eine richtige Depression nicht gereicht hat.“ In seinem Tagebuch schreibt er über Herausforderungen, die die Krankheit tatsächlich mit sich bringt.
Was ist eine Anpassungsstörung?
Bei Personen mit einer Anpassungsstörung können zum Beispiel depressive Stimmung, Angst, Besorgnis, Überforderungsgefühl, Anspannung und Einschränkungen bei der Bewältigung des Alltags auftreten. Konkrete Umstände verursachen dabei einen Prozess, der mit Leid und Symptomen einhergeht, welche aber nicht so schwer und anhaltend sind, dass die den Diagnosekriterien einer Depression entsprechen. Treffen Diagnosekriterien einer Depression zu, dann sollte entsprechend behandelt werden.
Unser Experte Prof. Ulrich Hegerl ist Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Seit mehr als 30 Jahren ist er führend auf dem Gebiet. Er forscht zu Depressionen und Suizidprävention und kommentiert die Tagebucheinträge von Moritz Neumeier.
Diese Kommentare sind allgemein gehalten und beziehen sich nicht direkt auf den Protagonisten, da Herr Hegerl diesen nicht persönlich getroffen und untersucht hat.
Moritz Neumeiers Tagebuch: Woche 1
Ich merke, wie mein Stresslevel im Moment steigt. Die drei kleinen Kinder sind immer da – da kann ich jetzt wenig gegen tun, was legal wäre – aber gerade sanieren wir ein Haus, bei dem wir dachten, dass wir es nur zu renovieren brauchen. Montagmorgen bin ich aufgewacht mit einer gewaltigen Liste im Kopf. Und die ist gefährlich – ich weiß das. Listen führen dazu, dass ich das Gefühl habe, vor einem gewaltigen Berg zu stehen, den ich erklimmen muss. An manchen Tagen wirkt schon der schiere Anblick dieses Berges so lähmend auf mich, dass ich am liebsten nicht aufstehen würde. Früher habe ich das dann einfach nicht getan – heute habe ich Kinder.
Ich erinnere mich ziemlich deutlich an den Moment, an dem endgültig klar war, dass ich eine Therapie brauche. Ich saß allein auf unserer Veranda, meine Frau und die damals noch zwei Kinder saßen drin und ich hatte eine Panikattacke. Ich saß da und wusste nicht genau, was mit mir geschieht. Ich wusste nur, dass alles zu viel ist. Da war so viel in meinem Kopf, so viele Kleinigkeiten, die gemeinsam aber ein so gewaltiges Ausmaß angenommen hatten, dass sie mich wie eine Welle wegzuspülen drohten. Mein Herz raste, in meinem Kopf wurde es immer enger und ich hatte das Gefühl, von innen her zerdrückt zu werden.
Am nächsten Tag habe ich angefangen Therapeut*innen anzurufen. Dass in mir schon seit langer Zeit etwas schwelt, das ich nicht alleine bewältigen kann, war mir klar, aber ich brauchte diesen Zusammenbruch, um zu erkennen, wie dringend und wichtig dieser Schritt ist. Heute weiß ich, wie ich mit meinem Stress besser umgehen kann, aber in Wochen wie diesen fällt es mir immer noch schwer, auf mich zu achten. Darauf zu hören, wann mein Limit erreicht ist, ich die Geräte ablegen und mich selbst hinsetzen sollte. Es ist schwer, auf sich selbst aufzupassen.
„Eine Anpassungsstörung muss sorgfältig diagnostiziert werden, schon um auszuschließen, dass sich dahinter eine Depression verbirgt.“
Prof. Ulrich Hegerl
Vorsitzender Stiftung Deutsche Depressionshilfe
© Katrin Lorenz
Die Einschätzung unseres Experten Prof. Dr. Hegerl
Bei Patienten mit einer Anpassungsstörung muss immer geprüft werden, ob dies tatsächlich eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände ist oder doch eine depressive Erkrankung vorliegt. Das Gefühl tiefer Erschöpfung, das Kreisen negativer Gedanken, Herzrasen und Ängste, wie es Herr Neumeier beschreibt, sind durchaus Krankheitszeichen, wie sie für eine Depression typisch sind. Meist kommt noch das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, Schuldgefühle, Appetitstörungen und eine tiefsitzende Freudlosigkeit dazu. Manche depressiv erkrankte beschreiben den Zustand wie eine innere Daueranspannung – so wie vor einer Prüfung. Nachts liegen Betroffene oft wach und grübeln, machen sich Vorwürfe. Alles kommt ihnen wie ein unüberwindbarer, unglaublich kräftezehrender Berg vor – ein quälender Zustand. Da die Depression alles Negative vergrößert und ins Zentrum rückt, beispielsweise Stress auf der Arbeit, körperliche Beschwerden, zwischenmenschliche Konflikte, werden diese Faktoren oft als Ursache der Depression fehlinterpretiert. Dies kann zu falschen Lebensentscheidungen führen. Auch wenn jeder Mensch sich in der depressiven Krankheitsphase gestresst und überfordert fühlt, sind meist nicht der Job oder zu viel Stress Ursachen der Depression. Nach Abklingen der Depression bestehen viele dieser Lebensprobleme weiter, sie schrumpfen aber wieder auf Normalmaß und werden wieder Teil des bewältigbaren Lebens. Es ist die Erkrankung selbst, die Job, Stress und Rückschläge so überwältigend erscheinen lassen.
Eine Anpassungsstörung muss sorgfältig diagnostiziert werden, schon um auszuschließen, dass sich dahinter eine Depression verbirgt. Die beiden Hauptbehandlungssäulen bei Depression sind die Antidepressiva und die Psychotherapie. Anlaufstellen für Betroffene sind der Hausarzt, der Facharzt (Psychiater) oder der Psychotherapeut. Wurde eine Depression oder Anpassungsstörung erfolgreich behandelt, kommt auch die Freudfähigkeit wieder und die dauerhafte Anspannung schwindet.
Moritz Neumeiers Tagebuch: Woche 2
Zu all dem Stress mit dem Haus und der Schule meines Sohnes, die ich mit verwalte, kommt diese Woche noch mein eigentlicher Job dazu. Er ist die größte Gefahr für meine Balance. Es ist ein bisschen so, als würde ich schon einen riesigen Teller mit mir herumtragen, auf den täglich noch ein bisschen mehr aufgefüllt wird, und mein Job ist ein gigantisches Brathähnchen, von dem ich eigentlich weiß, dass es keinen Platz mehr hat. Ich habe das die ganze Woche schon gewusst. Und deswegen verdrängt. Ich war über Weihnachten, Silvester und eigentlich auch den ganzen Januar abgetaucht. Kein Instagram, kein Neues-Material-Schreiben, keine Gespräche mit der Agentur über die Arbeit, die bald wieder ansteht. Und jetzt versuche ich krampfhaft, diesen Zustand so lange wie möglich aufrechtzuerhalten – obwohl ich weiß, dass er endet. So als würde ich versuchen, mein Leben noch ein bisschen länger auf „Snooze“ zu stellen, nur noch fünf Minuten, einmal noch umdrehen.
Mein Kopf ist doch sowieso schon voll genug. Also verdränge ich den Stress. Es ist der Wunsch, einfach abzutauchen – ich merke, wie ich am liebsten im Bett liegen bleiben würde, um mich nonstop in einen Serienmarathon zu stürzen und alles um mich herum zu vergessen. Das ist, was ich früher in diesen Momenten getan habe. Einfach abtauchen mit dem Wissen, dass danach nichts besser, eher noch dringender und damit schlimmer wird – aber immerhin muss ich mich dem Ganzen in dieser Sekunde nicht stellen.
„Lange Bettzeiten, zu viel Schlaf und Schonung sind bei psychischen Erkrankungen meist nicht förderlich.“
Prof. Ulrich Hegerl
Vorsitzender Stiftung Deutsche Depressionshilfe
© Katrin Lorenz
Die Einschätzung unseres Experten Prof. Dr. Hegerl
Ist ein Angehöriger an einer Depression erkrankt, so ist es zunächst wichtig, sich selbst über die Erkrankung zu informieren (www.deutsche-depressionshilfe.de), um das veränderte Verhalten besser einordnen zu können. Besonders wichtig ist es auch, den Erkrankten dabei zu unterstützen, sich professionelle Hilfe zu holen. Viele Erkrankte schaffen das nicht. Sie sind erschöpft, hoffnungslos und geben sich selbst die Schuld an ihrem Zustand. Angehörige können den entscheidenden ersten Gang zum Arzt mit Nachdruck unterstützen und organisieren. Mut zusprechen und versuchen, gemeinsam was zu unternehmen, kann richtig sein. Lange Bettzeiten, zu viel Schlaf und Schonung sind meist nicht förderlich. Wichtig ist aber, zu verstehen und zu akzeptieren, dass bei schwereren Depressionen die Betroffenen auch bei bestem Willen es oft nicht mehr schaffen, aufzustehen und auch kleine Dinge zu erledigen. Das ist Ausdruck der Krankheit.
Ein Erkennen einer Depression ist so wichtig, da es sich um eine schwere, aber gut behandelbare Erkrankung handelt. Nach der ärztlichen Diagnose kann entsprechend den Behandlungsleitlinien behandelt werden, meist mit Antidepressiva und/oder Psychotherapie.
Moritz Neumeiers Tagebuch: Woche 3
Es hilft, wenn ich mich strukturiere. In meinem Job ist es völlig normal, jede Sekunde, die man wach ist, über die eigene Karriere nachzudenken. Was fallen mir noch für Witze ein? Was kann ich für ein Video machen? Soll ich nicht doch in diese eine Sendung gehen? Was erzähle ich eigentlich bei dem Vortrag genau? Was seltener aufkommt, ist die Frage: Geht es mir gut?
Ich habe durch meine Therapie gelernt, mein Selbstwertgefühl anders zu generieren als durch den ununterbrochenen Zuspruch wildfremder Menschen im Internet – und ich habe gelernt abzuschalten. Wenn die Kinder im Bett sind, ist Feierabend. Und das gilt für alles. Kein Nachdenken mehr über den Job, keine Planung mehr für die Wohnzimmerwand oder eine Stunde im virtuellen Küchenplanungsstudio. Ein Ausgleich am Ende des Tages ist wichtig. „Wie soll man morgens mit 100 Prozent starten, wenn man sich vor dem Schlafengehen nicht auflädt?“, ist ein enorm kluger Satz meiner Orthopädin.
Mir hilft es, wenn ich den Wust in meinem Kopf sortiere, und das geht nur außerhalb des Kopfes. Also schreibe ich all das auf, was Platz in mir beansprucht. Ich trage meine Liste von innen nach außen, gucke, wann ich was mache und plane meine Woche. Schnell gewinne ich so einen Überblick und dabei bleiben Sachen übrig, für die ich keine Zeit habe. Ohne einen Plan fange ich vier Sachen gleichzeitig an, bringe nichts wirklich zu Ende und verzettele mich in dem Versuch, alles, aber auch alles schaffen zu wollen – und das ist manchmal unmöglich. Also sortiere ich, priorisiere und arbeite weg. Und was ich nicht schaffe, schaffe ich nicht.
So lange es gebraucht hat, mir selbst gegenüber einzugestehen, dass ich nicht perfekt bin, dass ich begrenzte Kräfte besitze und ein natürliches Limit habe – so schwer ist es auch heute noch, das nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Woche habe ich gemerkt, wie ich wieder mal versucht habe, allen in meiner Umgebung gerecht zu werden; wie ich von dem Versuch zerrieben werde, niemanden mit einer Absage zu enttäuschen, um am Ende sämtliche Kräfte aufgebraucht zu haben, die ich eigentlich für mich selbst benötige. Dann ist es wichtig, aufzuhören, Erschöpfung und Traurigkeit zuzulassen und sich einzugestehen, dass man manchmal Hilfe bei etwas braucht.
„Die innere Getriebenheit, das permanente Grübeln und Nicht –abschalten-Können sind typische Zeichen einer depressiven Erkrankung und klingen mit einer erfolgreichen Behandlung mit Antidepressiva und/oder Psychotherapie wieder ab.“
Prof. Ulrich Hegerl
Vorsitzender Stiftung Deutsche Depressionshilfe
© Katrin Lorenz
Die Einschätzung unseres Experten Prof. Dr. Hegerl
In der Klinik oder bei der Psychotherapie lernen Patienten, wie sie ihren Tag gut strukturieren können, um Selbstüberforderungen oder auch Inaktivität mit verstärktem Grübeln zu vermeiden. Herr Neumeier macht es daher richtig: Ein Wochenplan mit Pflichten und auch festen Erholungspausen ist ein wichtiger Schritt und ein üblicher Baustein in der Psychotherapie. Die meisten Menschen können durch Routinen, wie beispielsweise ein Buch zu lesen, Musik zu hören oder spazieren zu gehen, in der Regel gut vom Alltag abschalten. In der Depressionen fällt dies aber wegen Konzentrationsstörungen und der permanenten inneren Unruhe sehr schwer.
Gerade Menschen mit der Veranlagung zu Depression sind oft sehr hilfsbereite, verantwortungsvolle Menschen, die dazu neigen, sich für andere aufzuopfern, und sich leicht in eine Selbstüberforderung manövrieren, die dann ein Auslöser für eine Depression sein kann. Deshalb ist es wichtig zu lernen, die eigenen Bedürfnisse zu kennen und ernst zu nehmen. Das kann zum Beispiel bedeuten, sich auch mal Hilfe von anderen zu holen und im richtigen Moment Nein zu sagen, falls Anforderungen an einen herangetragen werden. Elegant Nein zu sagen ist für jemanden, der immer für andere da war, schwieriger, als man meinen sollte. Da können zum Beispiel Rollenspiele, in denen das in Alltagssituationen geübt wird, hilfreich sein.
Moritz Neumeiers Tagebuch: Woche 4
Ich glaube, mir wird es jetzt bewusst, wie sehr meine psychische Gesundheit und dass ich mich zu lange nicht um sie gekümmert habe, meine Persönlichkeit geprägt haben. Wenn man es gewohnt ist, morgens traurig aufzustehen, geht man irgendwann einfach davon aus, dass das ganz normal ist. Dass man einfach ein trauriger Mensch ist und „na ja, da kann man wohl nichts dran machen“. Wenn man es gewohnt ist, sich klein zu fühlen, dann wird man irgendwann klein.
Bis heute fällt es mir extrem schwer, für mich selbst einzustehen. Ich achte penibel darauf, dass es allen anderen um mich herum möglichst gut geht, und verliere mich selbst dabei aus dem Blick. Weil ich lange das Gefühl hatte, dass man mir nicht helfen kann, fällt es mir bis heute schwer, Hilfe anzunehmen. Und damit meine ich nicht einmal den Gang zu irgendeinem Experten – ich bin schon damit überfordert, mir von einem Nachbarn einen Spaten zu leihen; oder eine andere Mutter aus der Schule zu fragen, ob sie meinen Sohn auf dem Weg nach Hause, trotz eines kleinen Umweges, mitnehmen kann.
Manchmal hilft es mir, mich kurz rauszuzoomen. Mich für ein paar Minuten hinzusetzen, um mir darüber bewusst zu werden, dass im Großen und Ganzen alles o. k. ist in meinem Leben. Das ist der Song, den ich dann höre:
Wenn man eine lange Zeit traurig ist, dann verkriecht man sich Stück für Stück in sich selbst und es fällt einem immer schwerer, nach außen zu gehen. Bei mir ist das nicht anders: Auch wenn alle um mich herum glauben, ich sei durch meinen Job extrovertiert, stimmt das rein gar nicht. Ich bin introvertiert bis zum Erbrechen – vielleicht mache ich meinen Job genau deshalb. Die Bühne ist der einzige Ort ist, an dem ich mutig genug bin, um mir selbst Raum zu geben. Um laut zu sein, zu sagen, was ich will und fühle und denke. Ich will und werde das auch in der richtigen Welt lernen. Aber ich weiß auch, dass das noch Jahre braucht. Und einen stetigen Blick auf sich selbst. Meine Anpassungsstörung und die depressiven Verstimmungen sind nicht weg, nur weil ich mal eine Therapie gemacht habe. Aber ich lerne Stück für Stück, damit zu leben.
„Gelegentliche Selbstzweifel sind nicht zwangsläufig negativ zu bewerten. Oft sind sie auch ein Ausdruck von Intelligenz. In einer Depression können sie jedoch ein quälender Dauerbegleiter werden.“
Prof. Ulrich Hegerl
Vorsitzender Stiftung Deutsche Depressionshilfe
© Katrin Lorenz
Die Einschätzung unseres Experten Prof. Dr. Hegerl
Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl sind bei Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Oft haben Frauen ein geringeres Selbstwertgefühl beziehungsweise häufiger Selbstzweifel als Männer. Gelegentliche Selbstzweifel sind jedoch nicht zwangsläufig negativ zu bewerten. Oft sind sie auch ein Ausdruck von Intelligenz. In einer Depression können sie jedoch ein quälender Dauerbegleiter werden.
Herr Neumeier macht es ganz richtig und achtet dann auch auf positive Dinge in seinem Leben: die Familie, ein neues Haus, Erfolg im Job.
Hilfe beim Verdacht auf Depressionen
Erste Ansprechpartner beim Verdacht auf Depression und Suizidgefährdung sind Hausärzte, Psychiater und Psychotherapeuten (Psychologen oder Ärzte mit einer psychotherapeutischen Spezialausbildung). Wissen, Selbsttests und Adressen rund um das Thema Depression finden Sie auf den Seiten der Deutschen Depressionshilfe. Hilfsangebote für Angehörige gibt es beim AOK-Familiencoach Depression und auf den Seiten des BApK (Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e.V.). Wer Erfahrungen zum Thema austauschen möchte, findet im Diskussionsforum Depression ein fachlich moderiertes Online-Forum.