Psychologie
Somatoforme Störungen: reine Kopfsache?
Veröffentlicht am:20.08.2021
9 Minuten Lesedauer
Nicht für alle Schmerzen oder körperlichen Beschwerden lässt sich eine körperliche Ursache finden, die das Ausmaß der Beschwerden hinreichend erklärt. So wie eine Schnittwunde wehtut, kann auch eine seelische Wunde reale Schmerzen oder andere Beschwerden verursachen. In diesem Fall handelt es sich um eine somatoforme Störung. Auslöser sind in der Regel verschiedene Faktoren, die über längere Zeit wirken, etwa traumatische Erfahrungen, außergewöhnliche Belastungen, soziale Konflikte oder Lebenskrisen. Doch wie lässt sich feststellen, ob es sich um somatoforme Beschwerden handelt und welche Behandlung kommt dann in Frage?
Inhalte im Überblick
- Wie äußern sich somatoforme Beschwerden?
- Welche Arten somatoformer Störungen gibt es?
- Wie entstehen somatoforme Störungen?
- Körper und Psyche können bei der Schmerzwahrnehmung nicht klar voneinander getrennt werden, warum nicht?
- Wie werden somatoforme Störungen behandelt?
- Wann kommt eine Psychotherapie in Betracht?
- Was können Patienten selbst tun – helfen Entspannungsübungen?
- Entspannt leben: Die AOK hilft dabei
Dr. Peter Tamme ist Facharzt für Spezielle Schmerztherapie und Psychotherapie.
Er erklärt, warum somatoforme Beschwerden keineswegs eingebildet sind, und wie verschiedene Hilfsangebote Patienten unterstützen können.
Wie äußern sich somatoforme Beschwerden?
Die traditionelle Medizin verabschiedet sich zunehmend von dem Denken, dass Beschwerden nur in „körperliche“ oder „seelische“ (psychische) Erkrankungen eingeordnet werden. Zunächst änderte sich das für chronische Erkrankungen, deren bio-psycho-sozialer Aspekt nicht zu leugnen war. Die neue Auffassung, dass es sich bei einer Erkrankung (also der Abwesenheit von Gesundheit) um das Zusammenwirken körperlicher, seelischer und sozialer Faktoren handelt, lässt sich auch auf sehr viele akute Erkrankungen anwenden.
Heutzutage überwiegt unter den modern ausgebildeten Medizinern die Überzeugung, dass jede Erkrankung ein zusammengesetztes Phänomen darstellt aus körperlichen, psychischen und sozialen Komponenten, die sich gegenseitig verstärken und aufrechterhalten. Das stellt insofern unmittelbar therapeutische Weichen, als dass der Therapeut gleich von Beginn an in Form einer Arbeitshypothese die drei Komponenten prozentual gewichtet und die Arbeitsschwerpunkte danach ausrichtet, bei jeder Patientenbegegnung diese Gewichtung erneut überprüft und eventuell aktualisiert.
Man könnte auch anders formulieren: Die kausale Suche (woher kommt das Problem? Lässt sich die Ursache abstellen?) wird zielführend in eine komplexe Krankheitsdebatte umgewandelt (wozu hat das geführt und wie können wir Leid lindern?). Insgesamt verbessert sich dadurch die Situation der Betroffenen.
Diese Art des Umdenkens führte dazu, dass Erkrankungen mit einem sehr hohen psychogenen Anteil (anders formuliert: mit „sehr aktiven psychischen Verstärkern“) dann häufig als „psychosomatisch“ bezeichnet werden. Besonders häufig finden sich Beschwerden wie:
- chronische Schmerzen in unterschiedlichen Körperregionen, zum Beispiel Kopf-, Gelenk-, Muskel- und Bauchschmerzen
- unspezifische Verdauungs- oder Kreislaufstörungen, Schwindel
Welche Arten somatoformer Störungen gibt es?
Es gibt Beschwerden (Symptome), die sich typischerweise durch einen hohen psychogenen Teilaspekt auszeichnen. Die Experten sprechen dann von sogenannten „funktionellen“ Beschwerden, die sich durch organstrukturelle Besonderheiten nicht hinreichend erklären lassen. Hiermit sind somatoforme Störungen, die teilweise auch als psychosomatische Störungen bezeichnet werden, gemeint. Die unklaren körperlichen Beschwerden sind mit Funktionsbeeinträchtigungen im Alltag und erheblichem Leidensdruck der Betroffenen verbunden und dauern über einen längeren Zeitraum, in der Regel mindestens sechs Monate, an. Man unterscheidet folgende unterschiedliche Arten somatoformer Störungen.
Anhaltende Schmerzstörungen
Insbesondere solche chronischen Schmerzen, für die keine hinreichende körperliche Ursache gefunden wird, finden sich im Rahmen von Kopf-, Rücken-, Muskel- oder Gelenkschmerzen. Es kommt oft vor, dass der Arzt zwar körperliche Erklärungen für Schmerzen findet, dass diese aber das Ausmaß an Beschwerden nicht hinreichend erklären.
Somatisierungsstörungen
Die betroffenen Patienten leiden unter vielen verschiedenen unklaren körperlichen (somatische) Beschwerden, die wechseln können und häufig mit einer gestörten sozialen und familiären Interaktion einhergehen. Die Beschwerden bestehen seit mindestens zwei Jahren. Bei einer undifferenzierten Somatisierungsstörung kann die Symptomatik auch weniger stark ausgeprägt sein oder erst über kürzere Zeit bestehen.
Hypochondrische Störungen
Bei dieser Erkrankung quält die Betroffenen die Möglichkeit, an schweren körperlichen Krankheiten zu leiden. Sie sind daher stark mit körperlichen Phänomenen beschäftigt, interpretieren normale Körperwahrnehmungen oft als abnorm und berichten über unterschiedliche körperliche Beschwerden, die sie häufig als Anzeichen schwerer Erkrankungen deuten. Medizinische Untersuchungen, die gegen das Vorliegen körperlicher Erkrankungen sprechen, lindern diese Ängste nur vorübergehend.
Sonstige somatoforme Störungen
Auch Störungen der Wahrnehmung und Körperfunktion, die nicht durch das vegetative Nervensystem vermittelt werden – wie etwa Atmung, Herzschlag und Stoffwechsel – und mit belastenden Ereignissen oder Problemen eng in Verbindung stehen, können den somatoformen Störungen zugeordnet werden. So kann Juckreiz körperliche Ursachen haben, aber auch psychisch bedingt sein. Solche psychogenen Juckreizattacken treten meist kurz vor dem Einschlafen auf, bei Langeweile oder Ärger, auch bei geistiger Anspannung und in Wartesituationen.
Das vegetative Nervensystem ist ständig in Betrieb und kümmert sich um Körperfunktionen, die nicht bewusst gesteuert werden. Dazu zählen beispielsweise der Stoffwechsel, der Herzschlag und die Atmung.
„Oftmals geht der Patient davon aus, dass bestimmte stressbeladene Rahmenbedingungen ursächlich sind. Doch viele Faktoren treffen bei der Entstehung einer Psychosomatose zusammen.“
Dr. Peter Tamme
Facharzt für Spezielle Schmerztherapie und Psychotherapie
Wie entstehen somatoforme Störungen?
Die Ursachen für somatoforme Störungen sind vielfältig, man sagt auch „multifaktoriell“ oder „multikausal“: körperliche, psychische und soziale Faktoren, genetische, umweltbezogene, kulturelle Aspekte, Persönlichkeit und Veranlagung sind möglich. Es müssen mehrere Faktoren zusammenkommen, damit eine Psychosomatose entsteht. Genauso müssen mehrere therapeutische Bausteine eingesetzt werden, damit man da wieder rauskommt.
Oftmals geht der Patient davon aus, dass bestimmte stressbeladene Rahmenbedingungen ursächlich sind. Allerdings ist es das Zusammentreffen äußerer krankheits-begünstigender Rahmenbedingungen (Stress, Beziehungs-, Arbeitsprobleme) mit falschen Stressbewältigungsstrategien , das zur Krankheit führt. Schließlich spielt auch unsere Sozialisierung eine Rolle: wie verhielten sich unsere wichtigen Bezugspersonen in Krisensituationen, waren sie strafend oder fördernd, trugen sie Eigenverantwortung für ihr Schicksal und gab es eine Tendenz, sich als Opfer zu sehen und andere für das eigene Leid verantwortlich zu machen?
Das mit der Psychosomatose verbundene Leid hängt auch mit der Empfindlichkeit zusammen, der Resilienz (Widerstandskraft) und den Bewältigungsstrategien. Das ist sehr bedeutsam, da das Faktoren sind, auf die wir erheblich Einfluss nehmen können: die Wahrnehmung, die Verarbeitung, die Bewältigung. Fragen wie: Muss ich beschwerdefrei sein, um mit einer Therapie zufrieden zu sein, – oder darf ein Therapieziel auch Linderung anstatt Heilung sein. Das gilt es bereits am Anfang zu besprechen, wenn der Patient in die Praxis kommt.
Bei genauerem Hinsehen gibt es oft ein auslösendes Ereignis:
- beruflicher Stress, der keine Belohnung erfährt
- Entwertungserlebnisse, Herabsetzungen
- die Wahrnehmung nachlassender Leistungsfähigkeit
- Spannungen im Arbeitsumfeld, betriebliche Umstrukturierung
- Beziehungs-Konflikte
- Konfrontation mit dem Tod einer nahestehenden Person
- finanzielle Probleme, Arbeitslosigkeit
- ungelöste innere Konflikte aus der Kindheit
Diese Erlebnisse können eine langanhaltende seelische Anspannung verursachen, die auf vielfältige Weise auf den Körper einwirkt.
Es wird aber noch komplexer: Der Körper beeinflusst die Seele und umgekehrt. Miteinbezogen wird das unwillkürliche (vegetative) Nervensystem, das verantwortlich ist für Herzfrequenz, Verdauungsvorgänge, das Schwitzen und den Schlaf. Zudem kommt es zu Hormonausschüttungen, die den Stoffwechsel des Körpers verändern können oder das Immunsystem beeinflussen.
„Der Körper beeinflusst die Seele und umgekehrt.“
Dr. Peter Tamme
Facharzt für Spezielle Schmerztherapie und Psychotherapie
Folgen somatoformer Beschwerden betreffen in der Regel nicht die Lebenserwartung, sind aber Lebensqualitätseinschränkend, leistungsmindernd, sozial belastend mit der Folge von gesellschaftlichem Rückzug, Hilf- und Ratlosigkeit. Nicht selten führen somatoforme Erkrankungen zu einer frühzeitigen Rente.
Körper und Psyche können bei der Schmerzwahrnehmung nicht klar voneinander getrennt werden, warum nicht?
Das ist auch nicht erforderlich, da Schmerz als ein psychisches Phänomen definiert ist, selbst wenn er von einer körperlichen Struktur ausgesendet wird. Der Schmerz selbst bereitet uns ja auch nicht die Probleme, sondern vielmehr das damit verbundene Leid. Um aus Schmerz Leiden zu machen, bedarf es des Zusammenspiels vieler verschiedener Systeme, Erfahrungen und Erinnerungen. So ist auch erklärlich, dass die Individuen unterschiedlich unter Schmerzen leiden – von „lästig, aber erträglich“ bis zu „mörderisch und marternd“. Wenn sich Erinnerungen und Bilder zu Leid zusammenfinden, kommt es zu Schilderungen wie „es fühlt sich an, als hätte ich ein Messer im Rücken“ oder „unter der Bettdecke fühlen sich die Beine an wie in einem heißen Sprudelbad“.
Wie werden somatoforme Störungen behandelt?
Man unterscheidet Basismaßnahmen von spezialisierten bis zu hochspezialisierten Maßnahmen, die erst dann in Betracht gezogen werden, wenn die Basismaßnahmen nicht ausreichend Erfolg gebracht haben.
An erster Stelle der Basisversorgung steht die Psychotherapie, die „maßgeschneidert“ sein sollte, bei Psychotherapeuten mit einschlägiger Erfahrung. Entspannungstechniken zielen auf die Normalisierung des vegetativen Fehlgleichgewichtes ab und versuchen Sympathicus und Parasympathicus ins Gleichgewicht zu setzen, sodass wieder Ressourcen erschließbar werden. Sport, eine feste Tagesstruktur mit Aufstehen vor 7 Uhr und Zubettgehen vor 23 Uhr sind wichtig, auch wenn sich das zunächst banal anhört. Regelmäßiger moderater Ausdauersport, mindestens drei Mal wöchentlich, gehört ebenso dazu.
Pharmakotherapie, also die Einnahme von Medikamenten, erwies sich als Enttäuschung. Häufig stehen ungünstige Nebenwirkungen in einem Missverhältnis zu enttäuschender Wirkung. Sie sollte nur eingesetzt werden, wenn psychogene Beschwerden mit Krankheitscharakter vorliegen und verstärkend und aufrechterhaltend wirken, zum Beispiel Angst, Depression, Zwänge, Neurotizismus und Psychotizismus.
Neben den körperlichen sind es auch soziale Aktivitäten, die sich im Umgang mit psychosomatischen Erkrankungen als hilfreich erwiesen haben: Normale Alltagsaktivität, möglichst Verzicht auf Krankschreibungen, sportliche Betätigung, Hobbys und Kontakt mit anderen Menschen aktivieren die eigenen Kräfte und wirken somatoformen Beschwerden entgegen.
Wann kommt eine Psychotherapie in Betracht?
Zunächst einmal hängt jeder Therapeutenbesuch vom Leidensdruck ab. Der Impuls einen Arzt oder Psychologen hinzuzuziehen, stellt sich von allein ein. Oftmals drängt das soziale Umfeld, nicht immer aus Sorge, manchmal auch, weil es zuweilen schwer auszuhalten ist, anhaltende Klagsamkeit ohne konkrete Benennung der Erkrankung auszuhalten. Wenn „das Kind dann seinen Namen bekommt“, führt das schon zur Entlastung.
Viele funktionelle Beschwerden sind leichtgradig, gehen von alleine vorüber und müssen nicht weiter untersucht oder behandelt werden. Bei Verdacht auf eine psychosomatische Erkrankung ist die Hausarztpraxis die erste Anlaufstelle. Je nach Beschwerden kann die Überweisung an einen geeigneten Facharzt erfolgen, vorzugsweise mit Spezialausbildung in „psychosomatischer Grundversorgung“ oder mit einer Ausbildung in Psychotherapie. Je früher diese Weichenstellung erfolgt, umso weniger gerät man in den Strudel des „doctorhopping“, des Aufsuchens sehr vieler (organisch ausgerichteter) Spezialisten.
Dabei hilft, dass psychosomatisch orientierte Ärzte inzwischen meist sehr gut interdisziplinär mit Ärzten anderer Fachrichtungen zusammenarbeiten.
„Je früher die Überweisung an einen geeigneten Facharzt erfolgt, umso weniger gerät man in den Strudel des „doctorhopping“, des Aufsuchens sehr vieler (organisch ausgerichteter) Spezialisten.“
Dr. Peter Tamme
Facharzt für Spezielle Schmerztherapie und Psychotherapie
Was können Patienten selbst tun – helfen Entspannungsübungen?
An erster Stelle muss eine gesunde Lebensführung stehen mit Bewegung und Sport, gesunder Ernährung (denn wir essen häufig zu viel, zu süß, zu salzig, zu fett), einer festen Tagesstruktur und meditativer Betätigung (beispielsweise im Rahmen von Tai Chi, Qigong, Yoga, Selbsthypnose oder autogenem Training).
Weitere Tipps sind:
- Eine Beibehaltung beruflicher Tätigkeit, wenn möglich Vermeidung von Krankschreibungen. Die heilsame Wirkung von Arbeit ist seit Jahrzehnten wissenschaftlich belegt, die Erwähnung dieses Sachverhaltes aber unpopulär.
- Verzicht auf Schonung und Passivität. Schonung ist eigentlich nur akzeptabel nach Operationen und Verletzungen, bei Infektionen und bei bösartigen Erkrankungen. Der Satz „Gesundheit geht vor!“ wird nur allzu oft benutzt, wenn es um die Legitimation unangebrachter Schonung geht.
- Auf die eigene Schlafhygiene zu achten oder die Schlafqualität zu optimieren, können Linderung verschaffen.
- Die eigenen Anzeichen für zu viel Stress oder andere Belastungen gut zu kennen, vielleicht auch ein Stressbewältigungstraining zu besuchen, idealerweise einen MBSR-Kurs (mindfulness based stress reduction = achtsamkeitsbasiertes Stressreduktionstraining) oder einen Stress-Präventionskurs Ihrer Krankenkasse.
- Die Beschäftigung mit Glückskonzepten, den sogenannten „PERMA-Konzepten“. PERMA ist ein Akronym, bei dem jeder Buchstabe einen Teilaspekt von Glück repräsentiert: P=positive emotions, E=engagement, R= relationship, M=Meaning und A=accomplishment.
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Kurse zur Stressbewältigung bei der AOK finden
Ein weiteres Angebot ist das Online-Training moodgym. Das Selbsthilfeprogramm richtet sich vor allem an depressive Menschen, kann aber auch bei somatoformen Störungen als Ergänzung zur ärztlichen beziehungsweise psychotherapeutischen Versorgung hilfreich sein. Die Idee dahinter ist, mit gezielten Übungen ungesunde Gedankenmuster zu durchbrechen und so das Denken und Handeln neu auszurichten. Moodgym ist an Prinzipien der Verhaltenstherapie angelehnt – die Wirksamkeit konnte in einer Studie der Universität Leipzig bereits belegt werden.