Psychologie
Soziale Phobien – Wenn Scham sich in Panik verwandelt
Veröffentlicht am:05.08.2021
8 Minuten Lesedauer
Schweißausbrüche, Kurzatmigkeit, schneller Herzschlag, Panik und Erröten – das alles erleben Menschen mit sozialer Phobie in sozialen Situationen, wie zum Beispiel bei einem Referat oder auf einer Party. Der Experte Prof. Dr. Andreas Ströhle spricht über die Ausmaße einer sozialen Phobie, die Ursachen und Therapiemöglichkeiten.
Prof. Dr. Andreas Ströhle ist Leitender Oberarzt, Leiter des Fachbereichs Affektive Störungen und der AG und Spezialambulanz für Angsterkrankungen an der Berliner Charité. Er spricht im Interview mit der AOK über Soziale Phobien und Therapieansätze, die dabei helfen, Ängste zu überwinden.
Herr Prof. Dr. Ströhle, was ist eigentlich eine soziale Phobie?
Menschen mit einer sozialen Phobie haben in sozialen Situationen oder in Leistungssituationen ausgeprägte Ängste. Die können von körperlichen oder von psychischen Symptomen begleitet werden, wie ein beschleunigter Puls, Atemnot und Schwitzen. Bei sozialen Phobien kommen auch Gefühle des Errötens hinzu, oder es schießt einem tatsächlich das Blut in den Kopf und man wird rot. Auch Konzentrationsstörungen können auftreten.
Ängste während bestimmter Situationen führen in der Regel auch dazu, dass Betroffene diese Situationen vermeiden. Sie melden sich in der Schule beispielsweise nicht, wollen kein Referat, keinen Vortrag halten, sind in Gruppen von Menschen sehr zurückhaltend oder vermeiden es sogar, auf Partys zu gehen oder sich mit Mitmenschen zu verabreden.
Erwachsene können dazu neigen, Leistungsanforderungen zu vermeiden. Häufig ist neben der Symptomatik der Angsterkrankung also die Vermeidung der angstauslösenden Situationen das eigentliche Problem. Dieses Vermeidungsverhalten kann die Betroffenen beeinträchtigen und sie in ihrer Entfaltung behindern. Eine häufige Befürchtung der Betroffenen ist, sie könnten sich peinlich verhalten oder andere Menschen könnten den Eindruck bekommen, dass sie nicht kompetent seien – solche Ängste führen schnell dazu, dass sie sich sehr zurückhaltend oder ängstlich verhalten.
Gerade in der Pubertät sind viele Menschen generell verunsichert und möchten sich vielleicht nicht unbedingt vor vielen Leuten zeigen. Kann man eine soziale Phobie überhaupt eindeutig definieren?
In manchen Zeiten überwiegt im Leben eines Menschen tatsächlich persönliche Unsicherheit und manchmal Schüchternheit. Gerade die Pubertät ist ein gutes Beispiel dafür und zeigt, dass einfach viele Ängste zum menschlichen Leben und zur menschlichen Entwicklung dazugehören.
Doch die Entwicklungsaufgabe und das Ziel eines jeden ist, zum Beispiel gerade in der Pubertät, mit diesen Ängsten und Unsicherheiten klarzukommen, diese in den Griff zu bekommen, um dann doch mit anderen Menschen Freundschaften zu schließen und in Gruppen zurechtzukommen. Wenn dieser Schritt nicht erfolgreich gegangen wird und die Betroffenen es bis zu einem gewissen Punkt nicht schaffen, auf andere Menschen zuzugehen und mit ihnen zu interagieren, kann es wirklich sein, dass das dann das weitere Leben beeinflusst.
Es gibt unterschiedlich starke Ausprägungen von sozialen Phobien. Das heißt, es kann theoretisch auch mit großer Angst vor einem Referat in der Schule beginnen?
Genau. Bei Jugendlichen ist jedoch von Vorteil, dass diese in der Regel ein Umfeld haben, das darauf achtet, dass sie noch „funktionieren“ und soziale Kontakte pflegen.
Aber im schlimmsten Fall kann es sein, dass sich erwachsene Menschen zu Hause mehr oder weniger verkriechen, weil es ihnen schon unangenehm ist, wenn sie auf die Straße gehen. Sie haben die Sorge, dass andere Menschen sie beobachten könnten, und einfach denken: „Was ist das für ein komischer Mensch, wie verhält der sich?“ Das wäre die ganz extreme Ausprägung einer sozialen Phobie.
Eine mittlere Ausprägung kann zum Beispiel dazu führen, dass sich ein junger Mensch gegen eine bestimmte Berufsausbildung entscheidet, weil der Beruf letztendlich häufige soziale Interaktion oder häufige Prüfungsleistungen bedeutet. Auch das ist schon eine deutliche Beeinträchtigung.
Zieht sich ein Mensch immer mehr zurück und hat keine Sozialkontakte, kann es sein, dass er im Laufe der Zeit immer mehr vereinsamt und letzten Endes isoliert ist. Die Folgen können Depressionen oder andere psychische Erkrankungen sein.
Die Folgen können gravierend sein. Kann man einen solchen Menschen als Freund oder Angehöriger unterstützen? Kann man sagen: „Ich mach mir Sorgen um dich?“
Es ist das eine, dem Gegenüber zu vermitteln, dass man sich Sorgen macht und gerne helfen möchte. Oftmals weiß der Betroffene noch gar nicht über eventuelle Therapiemöglichkeiten Bescheid. Dieses Wissen kann der Angehörige oder Freund dann weitervermitteln.
Auf der einen Seite erwarten Therapeuten, dass sich Menschen, die eine Therapie suchen, selber melden. Erwartet man jedoch von jemandem mit einer schweren sozialen Phobie, dass der zum Telefon greift und einen Termin beim Therapeuten ausmacht, beißt sich die Katze selber in den Schwanz – das funktioniert bei Weitem nicht immer. Da kann es dann schon mal sinnvoll sein, dass das Umfeld sagt: „Mensch, wenn du das nicht schaffst, dann helfe ich dir.“
Wie viele Menschen leiden in Deutschland unter einer sozialen Phobie?
Es gibt relativ gute epidemiologische Untersuchungen zu den Häufigkeiten von psychischen Erkrankungen der Allgemeinbevölkerung. In diesen Untersuchungen wird nicht konkret gefragt: „Haben Sie eine soziale Phobie?“ oder „Haben Sie eine Depression?“, sondern es wird nach Symptomen gefragt. In Abhängigkeit davon wird eine Diagnose zugrunde gelegt.
Insgesamt haben Angsterkrankungen eine Lebenszeitprävalenz, also eine Wahrscheinlichkeit, über die Lebensspanne hinweg aufzutreten, von ungefähr 20 Prozent. Ähnlich wie Depressionen oder auch Suchterkrankungen.
„Es kann schon mal sinnvoll sein, dass das Umfeld sagt: „Mensch, wenn du das nicht schaffst, dann helfe ich dir.““
Prof. Dr. Andreas Ströhle
Leitender Oberarzt und Leiter des Fachbereichs Affektive Störungen und der AG und Spezialambulanz für Angsterkrankungen an der Berliner Charité
Gibt es Ursachen für eine soziale Phobie? Und kann diese auch genetisch veranlagt sein?
Genetische Faktoren spielen wie bei anderen psychischen Erkrankungen eine gewisse Rolle. Aber auch äußere Faktoren wie Erziehung und Familienbeziehung können Einfluss haben. Wenn Kinder ihre Eltern als Vorbilder haben und sehen, dass diese sozial sehr ängstlich sind, dann wird dadurch häufig ein entsprechend schwieriger Umgang mit sozialen Situationen oder auch mit Leistungssituationen vermittelt.
Auch andere schlechte Erfahrungen können eine Rolle spielen. Wenn ich wirklich bei einem Vortrag mal eine unangenehme Erfahrung gemacht habe, etwas sehr peinlich war oder irgendwie gewaltig schieflief, dann kann es sein, dass ich zukünftig vor neuen Vorträgen Angst habe.
Wenn man bestimmte Lernerfahrungen immer wieder macht, dann kann das die Entwicklung von Fähigkeiten behindern oder auch soziale Ängste verstärken.
Das heißt, dass soziale Phobien jeden Menschen treffen können, auf der anderen Seite einige Menschen aber vielleicht anfälliger als andere sind durch das, was sie oder die Familie bereits erlebt haben?
Genau.
Können bei einer leichten sozialen Phobie auch kleine Tricks helfen, vor einer angsteinflößenden Situation zu entspannen?
Wenn eine gewisse soziale Ängstlichkeit vorliegt, kann diese durch gezielte Übungen durchaus reduziert werden. Ich kenne das auch. Früher, zu Beginn meiner Tätigkeit in der Forschung, waren Vorträge für mich eine Riesenherausforderung. Ich habe mir schon Tage vorher Gedanken darüber gemacht, wie ich das alles möglichst gut in den Griff kriege. Das hat dazu geführt, dass ich versucht habe, mich besonders gut vorzubereiten. Auf der anderen Seite habe ich den Vortrag zu Hause für mich wiederholt und gemerkt, dass ich gut vorbereitet bin und ich mir keine Sorgen machen muss. Dadurch ist die Belastung einfach im Verlauf immer weniger geworden.
Was noch so ein bisschen vorhanden ist, ist ein gewisses Lampenfieber. Aber das darf ja auch sein.
Kann man soziale Phobien aktiv behandeln?
Ja, allerdings kann es sein, dass der Betroffene Hilfe braucht, sich für eine Therapie zu entscheiden. Wenn es sich wirklich um eine schwer ausgeprägte soziale Phobie handelt, kann man davon ausgehen, dass es dem Betroffenen nicht möglich ist, da alleine gegen anzukommen.
Es gibt unterschiedliche Strategien, die mithelfen können, die Ängste erfolgreich in den Griff zu bekommen. Es gibt sehr gute Behandlungsmöglichkeiten bei sozialen Phobien, vor allem psychotherapeutisch, aber auch medikamentös. Medikamente können in manchen Situationen hilfreich sein. Sie können helfen, konkrete Anforderungen, die in einer bestimmten Lebensphase an Menschen gestellt werden, erfolgreich bewältigen zu können. Danach können dann die nächsten Schritte angegangen werden.
Welche Medikamente wären das denn beispielsweise?
Primär sind es Antidepressiva, die regelmäßig über einen gewissen Zeitraum eingenommen werden müssen. Sie wirken bei unterschiedlichen Angsterkrankungen gegen Ängste. Dadurch können sie bei einer sozialen Phobie ebenfalls sinnvoll sein. Allerdings handelt es sich dabei um keine Medikation, die nur vor einem Vortrag eingenommen wird und dann dazu führt, dass da die Angstreaktion geringer wird. Das Medikament wird mindestens über mehrere Monate eingenommen und hilft dabei, dass Menschen positive Erfahrungen in Situationen machen, die in ihnen vorher Ängste ausgelöst haben. Im zweiten Schritt werden sie es hoffentlich schaffen, Angstmomente zukünftig auch ohne diese Unterstützung erfolgreich zu bewältigen.
Wie sähe denn eine Psychotherapie aus? Muss diese zwangsläufig mit der Medikation verknüpft sein, oder?
Nein, das muss sie nicht. Die am besten untersuchte psychotherapeutische Behandlungsform bei Angsterkrankungen allgemein und auch bei der sozialen Angsterkrankung ist die kognitive Verhaltenstherapie. Im Verlauf geht es schon darum, durch aktives Aufsuchen der Situation eine neue Lernerfahrung zu machen.
Wir handhaben es bei Behandlungen auch immer wieder mal so, dass Patienten in der Arbeitsgruppe einen Vortrag halten müssen. Anschließend gibt ihnen die Gruppe eine Rückmeldung, wie sie denn in der Situation gewirkt haben. Ob sie unsicher, ängstlich oder vielleicht eher souverän waren.
Wie groß sind die Arbeitsgruppen?
Die bestehen aus fünf bis zehn Personen. Dort geben sich Menschen mit einer sozialen Phobie gegenseitig Feedback, wie sie den anderen wahrgenommen haben.
Für viele ist das ein wahnsinniges Aha-Erlebnis, wenn sie von einem anderen, der auch eine soziale Phobie hat, hören: „Nein, man hat Dir das nicht angesehen, dass du aufgeregt oder ängstlich warst, oder dass Du Dich unwohl gefühlt hast.“ Diese Rückmeldungen, die sich Menschen gegenseitig geben, können wirklich Gold wert sein.
Das heißt, diese Rückmeldung ist aus dem Mund eines ebenfalls Betroffenen in diesem Moment wertvoller als von einem Menschen, der keine soziale Phobie hat?
Bei einem Menschen, der keine soziale Phobie hat, würde man unter Umständen denken: „Ach, der redet mir nach dem Mund, der möchte mir nur helfen“ oder ähnliches. Und bei anderen Betroffen wissen meine Patienten, dass es denjenigen ähnlich geht.
Wie oft finden diese Gruppensitzungen statt? Und wie lange dauert die Therapie?
Wir halten zehn Sitzungen in der Gruppe ab. Suchen Betroffene eine Psychotherapie, weisen wir sie darauf hin, sich zusätzlich einen Therapeuten zu suchen. Aber die Gruppentherapien sind in vielen Situation sehr hilfreich.
Sind manche Patienten verunsichert, wenn Sie von der Gruppentherapie erfahren?
Ja, manche sind schon eher ängstlich oder unsicher. Auf der anderen Seite – das muss ich gestehen – genießen wir einen ziemlichen Vertrauensvorschuss bei den Patienten unserer Angstambulanz. Viele melden sich einfach, weil sie von uns gehört haben oder davon ausgehen, dass wir gute Arbeit machen und sich auch drauf einlassen.
Es gibt aber natürlich auch immer wieder Menschen, die das nicht wollen. Oder bei denen wir denken, dass eine Gruppentherapie einfach nicht ausreichen wird.
Wie finde ich heraus, ob es sich bei meinen Sorgen eventuell um die Anfänge einer Phobie handelt und ich mir da Unterstützung suchen sollte?
Prinzipiell ist die Unterscheidung zwischen „normal“ und Krankheit da, wo ich beeinträchtigt und behindert werde. Und wo ich Dinge nicht mehr machen kann, die ich eigentlich machen möchte. Das ist für Betroffene nicht immer ganz einfach einzuschätzen.
Wichtig ist hier, ob eine Entwicklung festzustellen ist. Kommt die Unsicherheit nur in besonderen Situationen, beispielsweise bei einem Bewerbungsgespräch oder an einem neuen Arbeitsplatz, und bildet sich dann auch wieder zurück? Oder überträgt sie sich vielleicht auch auf den Alltag, sodass ich bestimmte Dinge vermeide oder vielleicht sogar gar nicht mehr mache? Wenn ich beispielsweise in einer unveränderten Lebenssituation bin und mich immer mehr zurückziehe, dann ist das das ein Hinweis dafür, dass es in die falsche Richtung geht und dass ich mir womöglich Hilfe suchen sollte.
Im Zweifelsfall sollten Sie lieber einen Fachmann aufsuchen und ihm die Situation schildern.
Wir haben in Deutschland ein sehr gutes Versorgungssystem, auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wenn der Therapeut dann im Rahmen eines Vorgesprächs Entwarnung gibt, müssen Sie sich keine Sorgen machen.