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Gesundheitsmagazin

Psychologie

Was bedeutet die Diagnose „Tourette-Syndrom“ wirklich?

Veröffentlicht am:19.05.2022

8 Minuten Lesedauer

Die meisten Menschen verbinden mit dem Begriff „Tourette“ das unkontrollierte Ausrufen von obszönen Worten. Tatsächlich hat das mit dem sogenannten Gilles-de-la-Tourette-Syndrom jedoch nicht viel zu tun. Was aber steckt dann dahinter?

Rothaariger Junge mit Tourette-Syndrom blinzelt und lacht mit breitem Grinsen in die Sonne.

© iStock / driftlessstudio

Porträt von Prof. Dr. Alexander Münchau,  Direktor des Instituts für Systemische Motorikforschung (ISMS) an der Universität zu Lübeck.

© Christoph Westenberger

Prof. Dr. Alexander Münchau ist Direktor des Instituts für Systemische Motorikforschung (ISMS) an der Universität zu Lübeck, Facharzt für Neurologie und Sprecher des Lübecker Zentrums für Seltene Erkrankungen. Seine Patienten sind Menschen mit Bewegungsstörungen aller Altersgruppen.

Im Interview erklärt Prof. Dr. Münchau, was sich wirklich hinter der Diagnose „Tourette-Syndrom“ verbirgt, worauf im Umgang mit Betroffenen zu achten ist und welche Folgen die verzerrte mediale Darstellung der Spektrum-Störung haben kann.

Was ist das Tourette-Syndrom?

Herr Dr. Münchau: Das Tourette-Syndrom ist eine sogenannte Spektrum-Störung, die sich durch das Vorkommen mehrerer motorischer und mindestens eines vokalen Tics auszeichnet, welche wiederum vor dem 18. Lebensjahr beginnen und länger als ein Jahr anhalten. Ein Syndrom ist immer eine Zusammensetzung von verschiedenen Zeichen beziehungsweise Phänomenen. Beim Tourette-Syndrom ist der chronische Tic das entscheidende Hauptkennzeichen, sozusagen das Wesen des Syndroms.

Doc Felix erklärt in seinem Video, welche Arten von Tics es bei der Erkrankung Tourette gibt und woraus diese resultieren können.

Wie kann man sich die motorischen Tics vorstellen?

Motorische Tics sind Bewegungen, die willkürlichen Bewegungen stark ähneln und die wir alle in unserem natürlichen Bewegungsrepertoire haben – zum Beispiel die Augen zusammenkneifen, zwinkern, blinzeln, den Mund aufmachen oder verziehen. Allerdings treten diese Bewegungen bei Tics häufiger auf, mitunter sehr viel, und werden oft auch schneller durchgeführt. Dadurch erscheinen sie manchmal wie eine Art Karikatur von „normalen“ Bewegungen. 

Welche Symptome können neben den Tics auftreten?

Was häufig auftritt, sind die sogenannten Echophänomene, also das automatische Nachahmen von Bewegungen, die der Betroffene sieht. Beispielsweise werden Bewegungen wie das Aufreißen der Augen oder Grimassieren von anderen Menschen durch Tourette-Betroffene nachgemacht, ohne dass sie es in dem Moment wirklich merken. Dieses Phänomen kommt besonders bei Kindern häufig vor.

Außerdem gibt es auch die sogenannten Koprophänomene – darunter versteht man obszöne Wörter oder Gesten. Tatsächlich verbinden die meisten Menschen Tourette mit unkontrollierten Ausrufen. Das liegt daran, dass die Störung in den Medien und auch in Filmen völlig verzerrt dargestellt wird. Der Großteil der Betroffenen hat dieses Symptom allerdings nicht und es ist auch keines der Merkmale, die vorhanden sein müssen, wenn man von Tourette spricht. Klassische vokale Tics bei Menschen mit Tourette sind einfache Laute wie Räuspern, Husten, Fiepen oder auch tier-ähnliche Geräusche, zum Beispiel meerschweinchen- oder katzenähnliche Tiergeräusche.

„Was auf vielen Social Media-Kanälen als „Tourette“ dargestellt wird, hat mit einem klassischen Tourette-Syndrom wenig oder nichts zu tun.“

Prof. Dr. Alexander Münchau
Direktor des ISMS an der Universität zu Lübeck

Was auf vielen Social Media-Kanälen als „Tourette“ dargestellt wird, hat mit einem klassischen Tourette-Syndrom wenig oder nichts zu tun und scheint überwiegend inszeniert, um Aufmerksamkeit zu bekommen, aus Sensationslüsternheit, für Klicks, für Geld – und das ist ein riesiges Problem. Nicht nur, weil tatsächlich Betroffenen das Syndrom dadurch oft abgesprochen wird, sondern auch, weil es bei ihnen vollkommen unnötige Sorgen und Ängste verursacht, wenn sie eine Diagnose vermuten oder bekommen.

Warum können bei Menschen mit Tourette ausgerechnet Schimpfwörter vorkommen?

Dabei handelt es sich nicht um ein freiwilliges Aussuchen – die Wörter kommen nun einmal einfach so herausgesprudelt. Emotional gefärbte Wörter entstehen in bestimmten Regionen im Gehirn und werden spontan abgerufen. Wenn Sie sich beispielsweise aus Versehen auf den Finger hauen, sagen Sie ja auch nicht „Blume“ oder „Wasser“. Über diese emotional gefärbten und im Gehirn schon vorbereiteten Worte hat man weniger Kontrolle – und das ist bei den Tics ähnlich.

Wie stark sind die motorischen und vokalen Tics in der Regel ausgeprägt?

Wie der Begriff „Spektrum-Störung“ schon sagt, gibt es eine große Variationsbreite. Bei vielen Menschen sind sie nur minimal vorhanden und für Außenstehende kaum wahrnehmbar, bei anderen sind sie sehr stark ausgeprägt. 80 Prozent der Betroffenen haben nur wenige und leichte Tics. In diesen Fällen finden die Bewegungen hauptsächlich im Kopf- und Gesichts- beziehungsweise Schulterbereich statt. Die schwereren Tics und auch Tics am Rumpf, an Armen und Beinen sind weitaus seltener. Überhaupt ist Tourette meistens ziemlich schlicht und unauffällig – auch wenn uns unter anderem die sozialen Medien ein anderes Bild vermitteln. Viele Menschen mit Tourette wissen gar nicht, dass sie betroffen sind. Wenn man zum Beispiel eine Gruppe von 1.000 zufällig ausgewählten Personen heranzieht, ist davon auszugehen, dass wenige von ihnen, vielleicht fünf bis zehn, Tourette haben – von denen es mit großer Wahrscheinlichkeit ungefähr die Hälfte gar nicht wissen.

Gibt es bestimmte Erkrankungen, die häufig in Verbindung mit Tourette auftreten?

Etwa 60 Prozent der Menschen mit Tourette sind auch von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen, also ADHS, oder Zwangsstörungen betroffen, in manchen Fällen auch von beidem. Es ist meist eine Spektrum-Störung aus ADHS, Zwang und Tourette – die drei Störungen hängen sehr eng miteinander zusammen. Nur eine kleine Gruppe von Menschen hat ausschließlich Tics. Es sollte jedoch gesagt sein: Das Tourette-Syndrom geht nur in schweren Fällen mit gravierenden privaten oder beruflichen Einschränkungen für die Betroffenen einher. Meist ist die Symptomatik nicht mit starken Beeinträchtigungen verbunden und ist dann eher eine Variation, eine Spielform des Normalen.

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Wo liegen die Ursachen vom Tourette-Syndrom?

Es gibt eine Reihe von Risikofaktoren, die eine Rolle spielen. Tourette ist sehr stark genetisch bedingt, wobei es aber nicht nur ein einziges Gen gibt, das dafür verantwortlich ist. Fest steht: Sowohl bei den Menschen, die Angehörige mit Tics haben, als auch bei Betroffenen, bei denen die Tics neu in der Familie auftauchen, sind genetische Faktoren zu etwa 60 bis 80 Prozent verantwortlich. Umweltfaktoren, wie etwa das Familienumfeld, stehen eher im Hintergrund. Psychologische Faktoren – denen man Tourette früher oft zugeschrieben hat – sind nicht der allein entscheidende, bedingende Faktor. Allerdings sind sie wichtig, wenn es um die Ausprägung geht: Beispielsweise wird ein Mensch, der Tics hat, mehr Tics haben, wenn er gestresst oder mit Konflikten konfrontiert ist. Diese Faktoren führen aber nicht zur Entstehung eines Tourette-Syndroms. Niemand wird Tics entwickeln, weil sich beispielsweise seine Eltern getrennt haben. Diese Kausalität, die lange Zeit vermutet wurde, besteht nicht.

Welche Anzeichen sollten Eltern hellhörig werden lassen?

Meistens treten die ersten Tics im Vor- oder Grundschulalter auf. Es gibt aber keine definierbaren Warnzeichen, die vor diesen Tics beobachtet werden können. Manche Kinder fangen eben einfach an zu ticcen. Klassische erste Tics treten meistens im Gesichts- und Augenbereich auf, zum Beispiel ein Verdrehen der Augen nach oben oder zur Seite. Dann stellt sich immer die Frage: Ist das jetzt etwas Bedrohliches? Viele Eltern haben intuitiv schon das Gefühl: „Okay, das ist nichts Schlimmes, wir lassen das jetzt mal so laufen.“ Wenn Eltern aber Fragen oder Sorgen und Nöte haben, sollten sie natürlich einen Arzt aufsuchen.

Im Allgemeinen muss jedoch kein großes Gerede um Tics gemacht werden – viele Kinder bemerken ihre Tics auch gar nicht. Solange ein Kind sich nicht beschwert und nicht darunter leidet, muss man es meiner Meinung nach auch nicht darauf hinweisen. Probleme treten meist erst dann auf, wenn Menschen von außen das Kind auf die Tics ansprechen; wenn beispielsweise Lehrer oder andere Kinder fragen: „Was machst du denn da?“ oder „Warum machst du das?“.

Wann sollten Eltern mit ihrem Kind zum Arzt gehen?

Sobald Probleme auftreten. Wenn das Kind beispielsweise bedrückt ist, Fragen stellt, gehänselt wird, von den Tics Schmerzen im Nacken hat oder die Konzentration leidet, weil das Kind versucht, die Tics zu unterdrücken – also immer dann, wenn in irgendeiner Form ein Leidensdruck entsteht, sollte ein Arzt aufgesucht werden. Aber auch Eltern sollten nicht zögern, Beratung einzuholen, wenn sie sich Gedanken machen. Tourette ist in der Regel kein Grund zur Besorgnis, weshalb Eltern Sorgen auch erspart bleiben sollten – und ein Arzt kann ihnen diese Ängste nehmen.

Ist das Tourette-Syndrom als solches behandelbar?

Mittlerweile ist in diesem Bereich sehr vieles möglich. Wichtig ist aber zunächst die Aufklärung – dazu gehören natürlich die Eltern, aber auch die Schule oder das sonstige soziale Umfeld. Man sollte versuchen, das Ganze zu entdramatisieren. Wenn der vorhin genannte Punkt eintritt, in dem der Betroffene sagt: „Ich bin beeinträchtigt, ich bin geplagt“, sollte eine Therapie eingeleitet werden. Neben der allgemeinen Psychoedukation, also der Aufklärung, gibt es verschiedene Formen der Verhaltenstherapie. Eine Form fördert dabei beispielsweise die kognitive Kontrolle, bei der versucht wird, die Tics in andere Bewegungen umzulenken. Bei einer anderen lernen Betroffene, die Aufmerksamkeit auf Anderes zu verlagern.

Die Fokussierung auf Tics macht Tics oft schlimmer. Man kann jedoch gut üben, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu fokussieren. Natürlich können vorübergehend auch Medikamente verabreicht werden. Es gibt viele etablierte Medikamente, die keine schwerwiegenden oder langfristigen Nebenwirkungen haben. Operationen kommen nur sehr selten infrage. Ich behandle wirklich viele Patienten und habe seit zehn Jahren niemanden mehr operieren lassen. Eine Zeit lang wurden vermehrt Operationen bei Tourette-Patienten durchgeführt, die aber zweifelhafte Effekte und auch Nebenwirkungen hatten. Das steht also wirklich ganz im Hintergrund.

„Viele Tics sind nur kurzfristig und auch bei den Kindern, die länger betroffen sind, verschwinden sie meist nach der Pubertät.“

Prof. Dr. Alexander Münchau
Direktor des ISMS an der Universität zu Lübeck

Ich würde allen Eltern erst einmal raten, die Lage zu beobachten und einzuschätzen. Vieles lässt sich durch Aufklärung bereits regeln – wie zum Beispiel das Stoppen von Hänseleien. Jeder Fall ist individuell, weshalb auch jede Behandlung individuell auf den einzelnen abgestimmt werden muss. Viele Tics sind nur kurzfristig und auch bei den Kindern, die länger betroffen sind, verschwinden sie meist nach der Pubertät. Es gibt also quasi eine gewisse „Durststrecke“, die man überwinden muss, aber die Perspektive ist sehr gut, dass sie nicht anhält. Und auch für die Fälle, bei denen Tourette langfristig bestehen bleibt, gibt es inzwischen viele Möglichkeiten, gut damit klarzukommen.

Junge mit Tourette-Syndrom geht traurig vom Schulhof weg, weil er gemobbt wurde.

© iStock / fstop123

Wenn ein Kind mit Tourette-Syndrom unter seinen Tics leidet oder von Mitschülern gehänselt wird, kann ein Gespräch mit einem Arzt, Kind und Eltern helfen.

Welche Tipps erleichtern es Betroffenen, im Alltag mit Tourette zurechtzukommen?

Der entscheidende Tipp ist: „Nicht zu viele Sorgen machen, nicht so viel drum kümmern.“ Tourette ist nicht gefährlich, dem Gehirn sind Tics total egal. Daher gibt es auch keinen Grund – und es ist auch nicht förderlich – sich großartig Sorgen zu machen und den Tics zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Haltung hilft häufig dabei, mit der Störung umzugehen. Vor allem als Kind möchte man nicht auffallen, man möchte nicht anders sein. Deshalb ist einem Kind mit Tourette am meisten geholfen, wenn man darüber hinweggeht – solange es, wie zuvor erwähnt, nicht beeinträchtigt ist.

Kann das Tourette-Syndrom auch Vorteile mit sich bringen?

Wie gesagt, tritt Tourette häufig zusammen mit ADHS auf – und Menschen, die Züge von ADHS haben, haben mitunter Eigenschaften, die sehr hilfreich sein können. Sie sind nicht selten kreativer, flexibler und offener für Neues. Gleiches trifft häufig auch auf Menschen mit Tourette zu. Sie sind zwar oft impulsiver, aber auch eher bereit, auf Unbekanntes offen zuzugehen und Sachen aufzugreifen. Und was sie tatsächlich besser können, ist das Erlernen von Gewohnheiten. Das kann man sich zunutze machen, beispielsweise in der Musik. Musiker müssen Stücke immer und immer wieder wiederholen, um sie spielen zu können. Das scheint Menschen mit Tourette leichter zu fallen.

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