Psychologie
Was ist passiv-aggressives Verhalten?
Veröffentlicht am:03.03.2023
6 Minuten Lesedauer
Passiv-aggressive Menschen vermeiden offene Konflikte. Negative Gefühle werden von ihnen nur indirekt ausgedrückt. Zum Beispiel, indem sie zunächst positiv auf einen Vorschlag reagieren, um ihn später vollständig zu ignorieren.
Passiv-aggressiv – versteckte Ablehnung statt offenen Konflikt
„Schatz, kannst Du bitte einmal auf einer Feier mit meinem Bruder nicht über Politik reden? Du weißt doch, dass ihn deine Meinung immer so aufregt.“ „Ich rede, worüber ich möchte. Auch mit deinem Bruder.“ Diese Antwort auf eine Bitte ist zwar nicht höflich, aber ehrlich; eine direkte und aktive Weigerung, einer Aufforderung nachzukommen. Wer so antwortet, scheut keine Auseinandersetzung und muss seine Position womöglich im Streit mit dem Partner oder der Partnerin verteidigen. Streiten ist zwar nicht schön, kann aber besser sein, als nur deshalb in etwas einzuwilligen, um einen Konflikt zu vermeiden – und womöglich hinterher das Gegenteil zu tun.
Zustimmung ohne innere Überzeugung
In dem angeführten Beispiel ist eine andere mögliche Antwort auf die Bitte: „Okay, ich rede mit deinem Bruder nicht über Politik.“ Man kann aus Einsicht so antworten, weil einem selbst friedliche Familienfeiern am Herzen liegen. Oder man antwortet so, obwohl man sich vom Partner oder der Partnerin gegängelt und in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt fühlt – allerdings ist man nicht in der Lage, das offen auszudrücken. Wenn man später auf der Feier dann entgegen der als Bevormundung empfundenen Bitte den Bruder mit politischen Anspielungen provoziert und den Abend ruiniert, ist das ein typisches Beispiel für passiv-aggressives Verhalten.
Passiv-aggressiv: Definition
Es gibt nicht „die“ Definition von passiv-aggressivem Verhalten. Einigkeit besteht unter Fachleuten darin, dass es sich um eine sogenannte negativistische Störung handelt. Damit ist gemeint, dass Menschen eine Tendenz zeigen, Anweisungen oder Ratschläge ohne nachvollziehbaren Grund nicht zu befolgen, auch wenn diese sinnvoll und zielführend sind. In diesem Fall erfolgt der Widerstand nicht aktiv und direkt, sondern passiv und indirekt. Betroffene sind wütend auf die Person, die einen Ratschlag gibt, aber nicht in der Lage, diese Wut oder verletzte Gefühle ehrlich und offen zu artikulieren. Stattdessen wird die Wut indirekt ausgedrückt, indem eine Bitte oder Anweisung im Nachhinein nicht befolgt wird. Es handelt sich also um eine passive, verzögerte Form des Widerstands statt um eine aktive Widersetzung.
Passiv-aggressives Verhalten: psychische Krankheit oder nicht?
Der Begriff passiv-aggressiv stammt ursprünglich aus dem amerikanischen Militär und bezeichnete Soldaten, die den Befehlen ihrer Vorgesetzten nicht Folge leisteten. Und das, indem sie vorgaben, Anordnungen nicht verstanden oder vergessen zu haben. Der Begriff ging in die psychiatrische Forschung ein. Aber Fachleute sind sich uneins, ob passiv-aggressives Verhalten als eine eigenständige spezifische Persönlichkeitsstörung betrachtet werden kann. Eine solche liegt dann vor, wenn Persönlichkeitsmerkmale Betroffener sich so stark von denen ihrer Mitmenschen unterscheiden, dass für die Betroffenen selbst und für ihre Umgebung ein hoher Leidensdruck und Probleme im Alltag bestehen. Das kann auch bei Menschen, die ständig Konflikte meiden, der Fall sein.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) listet in ihrer Klassifikation der Krankheiten die passive Persönlichkeitsstörung unter den in ihrer Schwere nicht näher bezeichneten Persönlichkeitsstörungen auf. Die American Psychiatric Association betrachtet das Phänomen nicht als eigenständige Störung, sondern eher als Teil anderer psychischer Krankheiten wie Depression, narzisstische Persönlichkeitsstörung oder Borderline-Störung.
Passiv-aggressives Verhalten kann also ein Merkmal verschiedener psychischer Erkrankungen sein. Es können aber auch psychisch gesunde Menschen konfliktscheu sein und zu passivem Verweigerungsverhalten neigen – ohne dass eine Persönlichkeitsstörung vorliegen muss. Allerdings beeinträchtigt ausgeprägtes passiv-aggressives Verhalten soziale Beziehungen und verursacht ernsthafte Schwierigkeiten im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz. Wenn man bei sich selbst oder bei Angehörigen passiv-aggressive Verhaltensmuster als Grund für soziale oder berufliche Probleme vermutet, ist es daher hilfreich, ärztliche Hilfe zu suchen.
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Anzeichen von passiv-aggressivem Verhalten
Beim passiv-aggressiven Verhalten bedingt die Angst vor offenen Konflikten eine indirekte Weigerung, soziale Anforderungen oder berufliche Aufgaben zu erfüllen – und zwar meist durch Unterlassung. Die Liste möglicher Merkmale, die auf passiv-aggressives Verhalten hinweisen, ist umfangreich. Auffällig ist meist ein starkes Bedürfnis nach eigener Autonomie (man möchte sich nicht reinreden lassen) und nach Persönlichkeitsschutz (man ist, wie man ist, und das soll auch so bleiben). Konkrete mögliche Persönlichkeitsmerkmale sind:
- sich missverstanden und nicht gewürdigt fühlen
- Überbetonung der Selbstständigkeit und der eigenen Grenzen
- Mürrischkeit
- (unterdrückte) Streitsucht
- Missachtung von Autoritätspersonen
- Neidgefühle gegenüber oder Ablehnung von Menschen, die man als erfolgreicher/glücklicher wahrnimmt
- Wechsel von Trotz und Niedergeschlagenheit
Mögliche Verhaltensmerkmale können sein:
- unangemessenes Beklagen des eigenen Unglücks
- Verzögerungstaktiken, Hinhalten
- absichtlich ineffektive Arbeit
- ungerechtfertigte Proteste
- vermeintliches Vergessen von Verpflichtungen
- Ablehnung von Verbesserungsvorschlägen
- sich dumm stellen
- andere zum Sündenbock machen
- Sachverhalte falsch darstellen
- Widerstand gegen Veränderungen
- das Verhalten anderer sarkastisch kommentieren
- hinter deren Rücken über andere lästern
Bei den Verhaltensweisen ist oft ein deutliches Gefälle zwischen dem verbalen und dem faktischen Verhalten erkennbar. So können Betroffene auf eine Aufforderung mit ausdrücklicher Freundlichkeit reagieren: „Das mache ich sehr gerne.“ Wenn dann tatsächlich nichts passiert, ist die Enttäuschung auf der anderen Seite umso größer und das Zusammenleben oder Zusammenarbeiten mit Menschen, die passiv-aggressive Merkmale aufweisen, wird immer schwieriger.
Ursachen von passiv-aggressivem Verhalten
Eine eindeutige Ursache einer passiv-aggressiven Verhaltensweise lässt sich allgemein nicht benennen und auch im jeweiligen konkreten Einzelfall kann sie nicht immer ausgemacht werden. Soziale Erfahrungen und Persönlichkeitsfaktoren tragen ihren Teil zur Entwicklung des Phänomens bei, etwa die Art und Weise, in der Menschen im persönlichen Umfeld mit Konflikten umgegangen sind und welche Ressourcen im konstruktiven Austragen von Konflikten sie erworben haben.
So könnte passive Aggressivität zum Beispiel darauf zurückgehen, wie man selbst in der Kindheit Wut bei sich und anderen sowie die Reaktionen darauf erlebt hat. Wer oft direkte, explosive Formen von Wut bei Bezugspersonen, Schreien oder auch körperliche Aggression erlebt hat, hat womöglich Angst vor starken Emotionen entwickelt. Diese Angst kann sich auch darauf beziehen, selbst Wut offen zu zeigen. Wenn schon die Eltern einen passiv-aggressiven Umgang pflegen, können Kinder nicht lernen, wie man angemessen mit Konflikten auf offener kommunikativer Ebene umgeht. Im Erwachsenenalter ahmen dann solche Kinder manchmal das erlebte Konfliktverhalten früherer Bezugspersonen nach und neigen selbst zu einer passiv-aggressiven Vermeidungsstrategie.
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Umgang mit passiv-aggressiven Menschen
Ein Problem mit passiv-aggressiven Menschen ist, dass ein Streit über ihr Verhalten ins Leere läuft, weil sie eben schwer konfliktfähig sind. Typische passiv-aggressive Merkmale werden durch Streit noch bestärkt: Beschuldigte fühlen sich noch weniger verstanden, noch weniger wertgeschätzt und noch stärker in ihrem Selbstwertgefühl beeinträchtigt. Wichtig ist, passiv-aggressiven Menschen zu vermitteln, dass sie selbst nicht das Problem sind, sondern ihr Verhalten. Je nachdem, im welchem Lebensbereich die Schwierigkeiten besonders folgenreich sind und wie schwer die Auswirkungen sind, können Paarberatung, Familienberatung, Coachings oder ärztliche beziehungsweise psychotherapeutische Experten oder Expertinnen aufgesucht werden.
Das ist um so mehr geboten, wenn bei andauernder Arbeitsverweigerung ein Jobverlust droht. Dann gefährdet eine passiv-aggressive Störung nicht nur die sozialen, sondern auch die wirtschaftlichen Lebensumstände. Außerdem stehen manchmal psychische Erkrankungen im Raum, für die eine passive Aggressivität symptomatisch sein kann und eine diagnostische Einschätzung angestrebt werden sollte. Wenn man dies vermutet, kann auch die hausärztliche Praxis eine Anlaufstelle sein, um zu besprechen, welcher Weg konkret eingeschlagen werden könnte.
Eine anschließende Behandlung sollte immer erfolgen, wenn eine psychische Erkrankung wie zum Beispiel eine Borderline-Störung zu Grunde liegt. In der Regel ist das eine Psychotherapie, um krankmachende Verhaltensmuster aufzudecken und zu durchbrechen. Die Psychotherapie ist stark individualisiert und richtet sich nach der jeweiligen individuellen Konstellation.
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