Psychologie
Gibt es Hochsensibilität wirklich?
Veröffentlicht am:04.01.2023
5 Minuten Lesedauer
Hochsensible Menschen reagieren stark auf äußere Reize – sie nehmen Geräusche oder Licht intensiver wahr. Oft zeigen sie auch stärkere Gefühlsreaktionen. Ein Experte erklärt, warum es für Hochsensibilität keine Diagnose gibt.
Univ.-Prof. Dr. Philipp Yorck Herzberg ist Professor für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Er erklärt, was Hochsensiblen bei der Lebensgestaltung helfen kann.
Was ist Hochsensibilität und wo liegen die Ursachen?
Aus psychologischer Sicht liegt bei einer Hochsensibilität eine veränderte Wahrnehmungsschwelle vor. Betroffene zeigen sich sehr empfindlich gegenüber Sinnesreizen. Sie nehmen beispielsweise Gerüche, Lichteindrücke, Geräusche oder etwas auf ihrer Haut wie einen kratzigen Pullover viel eher wahr als Personen ohne Hochsensibilität. Außerdem verarbeiten Hochsensible die Reize intensiver. Sie denken zum Beispiel nach einer Auseinandersetzung mit einem Arbeitskollegen oder einer Arbeitskollegin noch lange über das Gespräch nach. Hochsensible neigen also durch das intensivere und längere Verarbeiten von Reizen häufig zum Grübeln.
Erstaunlicherweise ist bis heute noch recht wenig über die Ursachen der Hochsensibilität bekannt. Es gibt aber verschiedene Erklärungsversuche. Zum einen könnte eine biologisch veränderte Wahrnehmungsschwelle bei Betroffenen bestehen, diese wäre dann angeboren. Das würde erklären, warum Hochsensibilität bereits bei Kindern ein Thema ist. Zum anderen könnte eine psychologisch bedingte Reizempfindlichkeit eine Rolle spielen. Menschen sind womöglich durch negative Erfahrungen achtsamer gegenüber Umweltreizen und nehmen diese dann entsprechend frühzeitiger wahr. Ein Beispiel: Personen, die gelernt haben, dass laute Geräusche ihnen nicht guttun, reagieren vielleicht bereits auf Musik in Zimmerlautstärke empfindlich.
Warum ist Hochsensibilität noch immer umstritten?
Es gibt zwei grundlegende Meinungen zur Hochsensibilität. Einige Psychologen und Psychologinnen gehen davon aus, dass es sich dabei um ein neues Persönlichkeitsmerkmal handelt. Andere sind der Ansicht, dass Hochsensibilität nichts Neues ist, sondern dem Neurotizismus entspricht. Dieses Persönlichkeitsmerkmal ist eine von fünf Dimensionen der Persönlichkeit und beschreibt die Fähigkeit zur Emotionskontrolle. Menschen, die in diesem Bereich hohe Werte erreichen, neigen zu Unsicherheit, Ängstlichkeit und Nervosität. Die Forschung beschäftigt sich derzeit damit, inwieweit sich Hochsensibilität und Neurotizismus überschneiden. Damit könnten Forschende klären, ob die Hochsensibilität ein eigenständiges Merkmal oder eine Erweiterung des Neurotizismus ist.
Welche Hochsensibilitäts-Symptome gibt es?
Hochsensible weisen verschiedene Symptome oder Merkmale auf. Sie besitzen viel Einfühlungsvermögen und eine ausgeprägte Vorstellungskraft. Außerdem lassen sie sich durch Ästhetik stärker beeindrucken. Menschen mit Hochsensibilität entdecken oft grafische Anreize, die andere nicht bemerken. So können sie von einer Spiegelung oder Lichtstimmung sehr angetan sein. Manchmal halten sie auch inne, weil sie der Musikkomposition im Radio intensiv lauschen. Als Folge der intensiven Verarbeitung der Umweltreize ziehen sich Hochsensible häufig sozial zurück. Das machen sie, um einer Überreizung entgegenzuwirken.
„Als Folge der intensiven Verarbeitung der Umweltreize ziehen sich Hochsensible häufig sozial zurück.“
Univ.-Prof. Dr. Herzberg
Professor für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Helmut-Schmidt-Universität
Gibt es einen Test, um Hochsensibilität zu erkennen?
Es gibt einen Fragebogen, der verschiedene Bereiche im Leben der Befragten näher beleuchtet. Dieser Test fragt beispielsweise ab, ob Menschen intensiv auf Reize von außen reagieren und wie stark sie Musik oder bildende Kunst anspricht. Psychologen und Psychologinnen können den Test in der Praxis anwenden. Auch wenn der Fragebogen dazu beitragen kann, eine Hochsensibilität zu erkennen, eine entsprechende Diagnose gibt es nicht – schließlich hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Hochsensibilität bisher nicht als Erkrankung eingestuft. Derzeit gilt Hochsensibilität als sogenanntes Temperamentsmerkmal. Das sind angeborene Merkmale, aus denen sich etwa im Alter von 12 bis 14 Jahren eine Persönlichkeit entwickelt – dabei helfen Lebenserfahrungen und äußere Einflüsse.
Ist die Hochsensibilität für Betroffene eine Belastung?
Betroffene können die Hochsensibilität in verschiedenen Lebensbereichen tatsächlich als Belastung empfinden. Zum Beispiel im beruflichen Alltag. Sie stoßen womöglich auf Unverständnis, wenn sie durch die Reizüberflutung häufiger Pausen einlegen müssen. Auch Konflikte im Kollegium können hochsensible Menschen belasten und im Nachgang noch lange ihre Gedanken kreisen lassen. Hochsensibilität kann in der Partnerschaft ebenfalls ein Thema sein. Betroffene können sich beispielsweise bei Streitigkeiten wenig belastbar und sehr empfindlich zeigen.
Können hochsensible Menschen lernen, weniger empfindlich zu sein?
Ja, in einem gewissen Umfang können Personen den Grad ihrer Empfindsamkeit trainieren. Möglich macht das die sogenannte Plastizität (Formbarkeit) der Sinneswahrnehmungen. Was das Training unterstützt, ist aber ganz individuell – einen allgemeinen Ratschlag für Hochsensible gibt es hier nicht. Oft hilft es Betroffenen aber auch, die guten Seiten der Hochsensibilität zu entdecken. Viele hochsensible Menschen haben ein reiches Innenleben – Künstler oder Künstlerinnen sind beispielsweise sehr häufig hochsensibel. Betroffene können sich aktiv dazu entschließen, die Empfindsamkeit gegenüber Sinnesreizen für sich zu nutzen, zum Beispiel, indem sie musizieren, malen oder anderweitig kreativ sind.
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Was tut hochsensiblen Menschen gut?
Zunächst tut es Hochsensiblen gut, sich und ihr intensives Empfinden anzunehmen. Dadurch, dass sie sich selbst kennenlernen und akzeptieren, können sie Strategien für den Alltag entwickeln. Häufig begegnen Menschen Reizen mit einem Automatismus – sie reagieren auf Sprüche dann beispielsweise reflexartig mit Rückzug oder einem Gefühlsausbruch. Betroffene haben aber auch die Möglichkeit, die Situation zu hinterfragen und beim nächsten Mal anders zu lösen. Hochsensible, die beispielsweise wiederholt verletzende Sprüche zu ihrer Empfindsamkeit von Arbeitskollegen bekommen, können einen Vorsatz fassen: „Beim nächsten Mal bleibe ich gelassen, schließlich hat er oder sie offensichtlich ein Problem mit meiner Hochsensibilität und nicht ich.“ Mit regelmäßigen Ruhepausen können Betroffene zudem einer Erschöpfung durch zu viele Reize entgegenwirken. Häufig quälen Hochsensible auch Schuldgefühle, weil sie beispielsweise nicht so leistungsfähig sind. „Ich gebe nicht das, was objektiv am besten ist, sondern was ich leisten kann“, wäre dann ein mögliches Mantra. Auch Achtsamkeitsübungen oder Meditation können Hochsensiblen helfen – hier finden Betroffene am besten selbst heraus, was ihnen guttut.
„Mit regelmäßigen Ruhepausen können Betroffene einer Erschöpfung durch zu viele Reize entgegenwirken.“
Univ.-Prof. Dr. Herzberg
Professor für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Helmut-Schmidt-Universität
Ist es sinnvoll, sich als hochsensibler Mensch zu outen?
Menschen, die sich offen zu ihrer Hochsensibilität bekennen, können aktiv um Akzeptanz werben. Das kann in einer Partnerschaft sehr hilfreich sein – der Partner oder die Partnerin kann dadurch Reaktionen womöglich besser nachvollziehen. Im Berufsleben können Betroffene ebenfalls auf ihre Empfindsamkeit aufmerksam machen: „Ich bin hochsensibel und versuche damit konstruktiv umzugehen, aber auch ich möchte mit meiner Persönlichkeit akzeptiert werden.“ Für Hochsensible ist es meist sehr wichtig, einen Beruf zu finden, in dem sie sich wohlfühlen – vielleicht gibt es ein Arbeitsumfeld oder eine Tätigkeit, die den Bedürfnissen oder Begabungen noch eher entspricht. Dahingehende Gedanken und wie Menschen ihre Hochsensibilität am besten ansprechen, darüber können sich Betroffene in Selbsthilfegruppen gut austauschen.