Zum Hauptinhalt springen
AOK WortmarkeAOK Lebensbaum
Gesundheitsmagazin

Stoffwechsel

Gendermedizin: Für eine individuelle Sicht auf die Gesundheit

Veröffentlicht am:19.05.2023

4 Minuten Lesedauer

Heute ist in der Medizin klar: Frauen zeigen oft andere Symptome oder benötigen eine andere Therapie als Männer. Ärztin Dr. Angela Smith spricht über das recht neue und wichtige Forschungsgebiet der Gendermedizin.

Eine Ärztin spricht mit einer Frau im Sprechzimmer über Gendermedizin.

© iStock / AJ_Watt

Dr. Angela Smith leitet seit zehn Jahren das Medizinische Kompetenzcenter der AOK Hessen. Gemeinsam mit ihrem Team berät sie die Fachbereiche zu medizinischen Themen. Das Thema Gendermedizin ist ihr erstmals während ihres Medizinstudiums begegnet, seitdem hat sie sich in dem Bereich laufend weitergebildet. Warum eine geschlechtersensible Medizin sogar Leben retten kann, verrät sie im Interview.

Frau Dr. Smith, womit befasst sich die Gendermedizin?

In der Gendermedizin schauen wir uns die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Krankheitsentstehung, Symptomen, Diagnostik und Therapie an. Und das noch gar nicht so lange: Erst in den 1980er-Jahren fiel auf, dass beispielsweise der Herzinfarkt bei Frauen mit anderen Symptomen auftritt als bei Männern. Frauen wurden daher oft zu spät ins Krankenhaus eingeliefert, erhielten weniger Therapie und verstarben häufiger.

Warum hat die Medizin diese Unterschiede erst so spät bemerkt?

Meine Wahrnehmung ist, dass die weibliche Perspektive erst durch die Frauenbewegung in der Gesellschaft präsenter wurde. Die Frauen waren nicht mehr bereit, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. Sie haben angefangen, Fragen zu stellen: Warum werden wir zu spät in die Klinik eingewiesen, warum bekommen wir keine passende Therapie? Von solchen Fragen ausgehend haben Mediziner und Medizinerinnen dann weitere Krankheiten unter die Lupe genommen.

Warum werden bis heute viele Krankheitsbilder oder die Wirkung von Medikamenten an Männern untersucht?

In der Pharmaforschung ist das zu einem großen Teil der Besonderheit geschuldet, dass Frauen schwanger werden können und Medikamente das Ungeborene schädigen können. Außerdem ist der weibliche Körper bis zur Menopause zyklusbedingten hormonellen Schwankungen ausgesetzt, die sich auf die Verstoffwechselung von Medikamenten auswirken können. Daher hat man in der Vergangenheit – der Einfachheit halber – überwiegend männliche Probanden eingesetzt. Das beginnt sich aber in letzter Zeit zu ändern.

Brauchen Frauen denn andere Medikamente als Männer?

Nicht unbedingt. Aber Ärzte und Ärztinnen müssen sehr genau auf mögliche Nebenwirkungen achten, die bei Männern selten oder gar nicht auftreten. Die häufigste Ursache dafür ist eine zu hohe Dosierung, denn Frauen haben ja meistens ein niedrigeres Körpergewicht als Männer. Außerdem ist im Verhältnis zu ihrer Muskelmasse der Fettanteil bei Frauen höher, auch das beeinflusst die Medikamentenwirkung. Daher müssen sich Ärzte und Ärztinnen zu Beginn der Therapie oft erst an die optimale Dosierung „herantasten“. Und die Frauen sollten gut beobachten, ob die Medikamente wirken und ob sich unerwünschte Nebenwirkungen zeigen.

Passende Artikel zum Thema

Werden Krankheiten schneller erkannt, wenn die behandelnden Ärzte und Ärztinnen den Faktor Geschlecht im Blick haben?

Es ist wichtig, dass beispielsweise ein Schlaganfall bei einer Frau nicht übersehen wird, weil sie über plötzliche Kopf- und Gliederschmerzen und Übelkeit klagt und keine Sehstörungen oder Lähmungserscheinungen hat. Wenn Ärzte und Ärztinnen die frauenspezifischen Symptome erkennen, können sie Menschenleben retten. Idealerweise sollten auch Patienten und Patientinnen wissen, dass Frauen andere Symptome zeigen, insbesondere bei akut lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Wenn ich beispielsweise weiß, dass eine Diabeteserkrankung oder Rauchen das Risiko für einen Herzinfarkt bei Frauen nach der Menopause deutlich stärker erhöht als bei Männern, dann kann ich meinen Patientinnen die Bedeutung eines gesunden Lebensstils vermutlich besser verdeutlichen. Und ich kann als Ärztin die Medikation so einstellen, dass das Risiko zusätzlich deutlich gesenkt wird.

Eine junge Wissenschaftlerin pipettiert in einem medizinischem Forschungslabor.

© iStock / Stígur Már Karlsson /Heimsmyndir

Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin sind Gegenstand vieler Forschungsarbeiten.

Profitieren auch die Männer von der Gendermedizin?

Ja, auf jeden Fall. Man weiß beispielsweise, dass Männer psychische Probleme deutlich häufiger als Frauen zu verdrängen versuchen. Wenn sie sich dann doch zu einer Therapie durchringen, äußern sie meistens „Hätte ich mich doch eher getraut, das anzusprechen“. Mit diesem Wissen können Ärzte und Ärztinnen versuchen, solche Hemmschwellen abzubauen. Außerdem gehen Männer ungern zu Check-ups. Für uns bedeutet das, dass wir bei Männern im Verdachtsfall stärker nachfragen und mehr erklären, welche Vorteile beispielsweise eine Krebsfrüherkennung für sie hat.

Anderes Training für Frauen und Männer?

Ein kleiner Exkurs zum Thema Sport und Bewegung – sollten Frauen anders trainieren als Männer?

Ja, Frauen sollten definitiv anders trainieren als Männer – aber auch ein Mann sollte anders trainieren als andere Männer. Grundsätzlich benötigt jede Person einen individuellen Trainingsplan. Es gibt ja nicht nur „hormonelle Unterschiede“, sondern auch zahlreiche Stoffwechselvarianten innerhalb einer scheinbar homogenen Gruppe. Um die Motivation nicht zu verlieren und auch langfristig zu trainieren, sollten wir unseren Sport immer je nach Leistungsniveau und Vorlieben für bestimmte Übungen oder Sportarten ausüben.

Was erhoffen Sie sich für die Zukunft der Gendermedizin?

Ich würde mir wünschen, dass das Thema Gendermedizin nicht nur für Studierende an den Medizinischen Hochschulen gelehrt wird. Auch praktizierenden Ärzten und Ärztinnen sollte das Thema in ihren Fortbildungen permanent präsent sein. Patienten und Patientinnen haben individuelle Beschwerden und Bedürfnisse und wollen nicht in eine Schublade gesteckt werden – auch nicht in eine „Männer-“ und eine „Frauenschublade“. Auch wenn die „Entdeckung“ der frauenspezifischen Aspekte in der Medizin ein wichtiger Anfang war, gehen wir mit der Gendermedizin weiter in Richtung einer individuellen Sicht auf Menschen und ihre Gesundheit.

Waren diese Informationen hilfreich für Sie?

Noch nicht das Richtige gefunden?