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Gesundheitsmagazin

Sucht

Cannabis zum Frühstück

Veröffentlicht am:09.09.2024

8 Minuten Lesedauer

Die ersten Joints raucht Cedrik zur Entspannung, dann aus Gewohnheit – bis der Konsum zur Sucht wird. Seine Geschichte zeigt, wie der Cannabiskonsum allmählich seinen Alltag beherrscht und welche schwerwiegenden Folgen das für sein Leben hat.

Zwei Joints und Marijuana, teilweise aus Plastiktütchen herausragend, liegen auf einem Holztisch. Im Hintergrund sind verschwommen weiße Blättchen zu sehen.

© iStock / gradyreese

Cannabis – Cedriks Weg aus der Sucht

Ein junger Mann mit dunkelblonden Haaren und zwei blaugefärbten Haarsträhnen in einem grün-weiß-schwarz gestreiftem Hemd lehnt an einer weißen Wand, auf die zur Hälfte ein Schatten fällt.

© AOK

Cedrik, 25, arbeitet im Bereich Film- und Mediendesign und lebt allein in einer norddeutschen Großstadt. Seitdem er nicht mehr kifft, treibt Cedrik Sport und meditiert, um runterzukommen.

Cannabis entspannt mich, dachte Cedrik lange

Wenn Cedrik einen Raum betritt, tut er es meist leise, als wolle er nicht auffallen. Doch sein Äußeres sagt etwas anderes. Das ist bunt: ein weiß-grün-schwarz gestreiftes Hemd mit kurzen Ärmeln, dazu eine grüne kurze Hose und grüne Chucks. Es ist ein heißer Tag, Ende Mai. Seine Haare sind kurz, nur vorn hängen zwei blau gefärbte Haarsträhnen ins Gesicht. Schwarze Ohrringe an beiden Ohren, ein Septum-Piercing in der Nase, dunkelblau lackierte Fingernägel. Selbst in Berlin fällt der 25-Jährige auf.

Das mit dem Kiffen fing schon in der Schule an, erzählt Cedrik. Das erste Mal nach einer Schulveranstaltung, das nächste Mal, viel später, im Sommer mit Freunden am See. Kurz vor dem Abi war das. „Da habe ich dann öfter gekifft, wenn es mir angeboten wurde. Ich habe da schon gemerkt, dass es entspannend wirkt.“

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Erst ist Kiffen eine Gewohnheit, dann ein Bedürfnis

Das Kiffen wird schnell zur Gewohnheit. Vor allem, wenn sie im Sommer im Park oder am See abhängen. „Wir haben es dann so geplant, dass wir vorher etwas kaufen“, erinnert sich Cedrik. Bevor er spricht, macht er kurze Denkpausen und antwortet dann klar und bedacht. Seine grünen Augen strahlen Ruhe aus.

Anfangs raucht Cedrik nur in der Gruppe, bald aber auch allein – „wenn ich noch etwas da hatte oder wenn kein anderer Zeit hatte“, sagt er. Damals gibt es noch längere Pausen zwischen den Joints. Erst als er anfängt, Informatik zu studieren, geht es richtig los mit dem Kiffen. Vor allem, weil ihm das Studium keinen Spaß macht, glaubt er. Zur Entspannung raucht er immer öfter. Zuerst nur abends. Mit dem Stress des Studiums und seiner Unzufriedenheit steigert sich Cedriks Cannabiskonsum, bis er anfängt, auch tagsüber zu rauchen. Oft geht er dafür zwischen zwei Vorlesungen in den Park. „Das hat mir geholfen, runterzukommen, den Stress aus der Uni mal für eine halbe Stunde zu vergessen.“ Zunächst wohnt er noch bei seinen Eltern, die zwar wissen, dass er ab und an einen Joint raucht, aber nicht in welchem Ausmaß. Im dritten Semester zieht Cedrik mit einem Freund zusammen – der ebenfalls viel kifft.

Vom Feierabendjoint zum Dauerkonsum: Wie die Pandemie Cedriks Abhängigkeit verschlimmert

Jetzt ist immer jemand da, mit dem er rauchen kann. „Die Hürde war viel geringer“, erzählt Cedrik. „Ich musste ja nur an die Tür gegenüber klopfen, wenn ich nichts mehr hatte.“ Schließlich bricht er sein Studium ab und arbeitet weiterhin im Supermarkt. „Da habe ich schon täglich konsumiert. Aber nicht vor der Arbeit, das war mir noch total wichtig. Ich wollte gute Arbeit machen.“

Doch als die Coronapandemie ausbricht, wird Cedriks Arbeit im Supermarkt durch die Maskenpflicht und die Hygienemaßnahmen deutlich stressiger. Jetzt raucht er auch morgens, vor der Arbeit. „Ich habe probiert, mir die Arbeit entspannter und erträglicher zu machen. Und generell mein Leben besser zu machen. Ich war sehr unzufrieden, wusste nicht, was ich machen soll mit meiner Zukunft“, sagt er. Ein Jahr später entscheidet er sich für ein neues Studium und fängt an, Film- und Mediendesign an einer privaten Hochschule zu studieren. Er nimmt sich vor, weniger zu rauchen und sich aufs Studium zu konzentrieren. Anfangs klappt das auch ganz gut – bis die Vorlesungen wegen der Pandemie nur noch online stattfinden. „Ab da wurde es richtig schlimm“, sagt Cedrik.

Was ist Cannabissucht?

Nicht jeder, der einmal an einem Joint zieht, wird süchtig – es wird auch nicht jeder, der ein Bier trinkt, sofort alkoholabhängig. Aber je länger und öfter man kifft, desto größer ist die Gefahr, psychisch und auch körperlich abhängig zu werden. Das gilt besonders für Jugendliche.  Was als entspannter Zeitvertreib beginnt, kann sich schleichend zu einer handfesten Abhängigkeit entwickeln. Versuche, den Konsum zu reduzieren oder einzustellen, scheitern dann. Außerdem setzen Entzugssymptome ein wie Nervosität, innere Unruhe, Ängste oder depressive Verstimmungen. Diesen verhältnismäßig milden körperlichen Symptomen kann eine intensive psychische Abhängigkeit gegenüberstehen. Die Ursachen dafür liegen allerdings weniger in der Substanz selbst, als vielmehr in der psychischen Verfassung der Betroffenen. Etwa jede fünfte Person, die Cannabis konsumiert, entwickelt eine Abhängigkeitserkrankung. Bereits mehr als die Hälfte aller Erstkontakte zu Suchtberatungsstellen betreffen Probleme mit Cannabis.

„Ich saß zuhause vor den Online-Vorlesungen und habe dabei gekifft“

Cedrik hört im Supermarkt auf und arbeitet neben dem Studium als Werkstudent in einer Produktionsfirma. Das senkt den Cannabiskonsum für eine Weile. Zwei Tage in der Woche geht er ins Büro, zwei Tage in der Woche raucht er nur abends – zumindest versucht er es, erzählt er, und probiert an diesen Tagen nur abends zu konsumieren. Doch beim nächsten Lockdown sitzt Cedrik fast nur noch zuhause. Jetzt findet alles nur noch online statt – Studium und Arbeit. Und er raucht bei beidem. „Das hat ja niemand mitbekommen“, sagt Cedrik.

Lange redet er sich ein, dass sein Cannabiskonsum nicht problematisch, sondern eher hilfreich sei. Bei Stress oder um seine Gefühle zu regulieren. „Wenn ich traurig oder verletzt war, ging es mir durchs Konsumieren schnell besser“, sagt Cedrik. Da man sich durch die Coronamaßnahmen ohnehin nur noch mit einem recht kleinen Personenkreis treffen darf, fällt Cedrik zunächst nicht auf, wie sehr er sich sozial abkapselt. Wenn überhaupt, trifft er sich mit Freunden zum gemeinsamen Kiffen. „Das fing aber wahrscheinlich schon viel früher an, vielleicht sogar schon vor Corona“, sagt Cedrik.

Erst wirkt alles leichter – aber die negativen Folgen holen Cedrik ein

Cedrik zieht sich immer mehr zurück, verbringt fast seine gesamte Zeit allein, zuhause in seinem Zimmer. Er nimmt an Gewicht ab, sein Kurzzeitgedächtnis wird schlechter und er vergisst viel. Auf Briefe zu antworten, zum Beispiel. Die Briefe der Krankenkasse landen ungeöffnet in einer Schublade. „Nach dem zwanzigsten Brief habe ich mich auch gar nicht mehr getraut, da anzurufen“, gibt Cedrik zu. „Ich habe mich geschämt, dass ich es nicht hinbekommen habe, mich darum zu kümmern. Und dann habe ich eben noch mehr geraucht, um das alles auszublenden, zu verdrängen.“

Das Haus verlässt Cedrik meist nur noch, um seinen Dealer zu treffen. „Der Cannabiskonsum hat meinen Alltag und meine Gedanken komplett bestimmt“, sagt er. Nach dem Aufwachen schaut er als Erstes nach, wie viel Gras er noch hat und wie lang es noch reicht. Während der Arbeit denkt er darüber nach, wann er den Dealer treffen kann. Er verschränkt seine Finger ineinander, während er davon erzählt. An seinem linken Handgelenk hängen einige Festivalbändchen, am rechten trägt er eine silberne Uhr. „Ich habe so viel Energie und Gedanken darauf verschwendet“, ärgert sich Cedrik heute noch. Und der Cannabiskonsum kostet Geld. 
 

Was steht im Cannabisgesetz?

Am 1. April 2024 ist das Cannabisgesetz in Kraft getreten. Es regelt den legalen, privaten Eigenanbau durch Erwachsene zum Eigenkonsum sowie den gemeinschaftlichen, nicht-gewerblichen Eigenanbau von Cannabis in Anbauvereinigungen. Der Verkauf von Cannabis bleibt auch für Erwachsene verboten, die Weitergabe an Jugendliche ebenso. Wer Jugendlichen Cannabis anbietet, muss mit hohen Strafen rechnen. Für Jugendliche unter 18 Jahren bleiben Erwerb, Besitz und Anbau von Cannabis weiterhin verboten.

„350 Euro für Cannabis – jeden Monat“

Pro Tag raucht Cedrik jetzt ein bis zwei Gramm Cannabis. Das sind zehn bis fünfzehn Euro am Tag, etwa 350 Euro im Monat. „Das war viel Geld für mich, ich war ja noch Student“, sagt Cedrik. Das Konto ist häufig überzogen. Trotz des hohen Konsums schafft Cedrik sein Studium und fängt 2022 an, als Videoproducer in Vollzeit zu arbeiten. Für eine Weile schafft er es, weniger zu rauchen, „aber das hielt nicht lange an“, erzählt er. „An stressigen Bürotagen habe ich in der Mittagspause einen Joint geraucht, im Homeoffice sowieso.“ Bis Anfang 2023 dreht sich sein Leben hauptsächlich um den Konsum.

Dann steht der Gerichtsvollzieher bei seiner Mutter vor der Tür. Dort ist Cedrik noch immer gemeldet. Er hat Schulden bei der Krankenkasse, es droht eine Zwangsvollstreckung. Für Cedrik bricht die Welt zusammen. „Da habe ich beschlossen, dass es so nicht mehr weitergehen kann.“ Er geht zur Drogenberatung. Dort wird ihm zu einem Entzug im Krankenhaus und einer Therapie geraten. Seine Mutter und sein Stiefvater unterstützen ihn: Er zieht zunächst wieder zurück nach Hause. Auf einen Platz im Krankenhaus muss er mehrere Monate warten – und kifft erstmal weiter. Die Drogenberatung rät ihm dazu. Allein, das ist klar, schafft er es nicht. Mitte 2023 kommt er dann ins Krankenhaus und macht einen zweiwöchigen Entzug.

„Ich habe wieder angefangen zu träumen“

Viele Menschen, die Cannabis rauchen, träumen nur noch selten. Im Krankenhaus lernt Cedrik es wieder. Und er lernt, was er tun kann, wenn er den Wunsch verspürt, einen Joint zu rauchen. „Ich habe viel Origami gemacht, viel Sport, meditiert und Entspannungsmethoden gelernt. Vieles davon wende ich noch heute an“, sagt er. Nach dem Entzug zieht er wieder bei seinen Eltern aus, kehrt an seine Arbeitsstelle zurück und macht weiterhin eine ambulante Therapie. Er spielt wieder Gitarre. Der Balkon seiner 1-Zimmer-Wohnung in Berlin-Neukölln ist üppig bepflanzt. „Seit ich aufgehört habe zu konsumieren, habe ich meinen grünen Daumen entdeckt“, sagt Cedrik. Er ist froh, dass er nicht mehr raucht. „Mir geht es viel besser. Ich bin wieder strukturierter, organisierter. Auch körperlich bin ich wieder viel fitter“, sagt er. Ab und zu denkt er noch ans Rauchen, etwa, wenn er durch einen Park läuft und riecht, dass irgendwo jemand Cannabis raucht. „Dann denke ich immer an all die negativen Momente, die mir der Konsum gebracht hat“, sagt Cedrik. „Das hilft.“

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