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Sucht

Sportwetten waren für Mathias wie die Spritze für einen Junkie

Veröffentlicht am:13.08.2024

10 Minuten Lesedauer

Zehn bis zwanzig Wetten gleichzeitig am Laufen halten, das war lang für Mathias normal. Der heute 40-Jährige hat durch seine Spielsucht fast alles verloren. Heute will er mit seiner Geschichte anderen zeigen, dass es Wege aus der Sucht gibt.

Eine nicht erkennbare Person sitzt im Dunkeln vor einem Notebook und schaut auf ein Glücksspiel eines Online-Casinos.

© iStock / audioundwerbung

Sportwetten als Droge

Mathias steht vor einem Gebäude auf einem gepflasterten Weg und blickt in die Kamera.

© AOK

Mathias, 40, gelernter Maschineneinrichter, lebt mit seiner Frau und den zwei Kindern am Stadtrand einer Großstadt. Der passionierte Fußballfan trainiert in seinem Verein eine Mädchenmannschaft und engagiert sich ehrenamtlich in der Suchtprävention.

Spielen, auch um Geld, war in Mathias Familie normal

Mathias sitzt in einem Café in der Innenstadt. Die Aprilsonne scheint, es ist warm. Der 40-Jährige trägt ein schwarzes T-Shirt, auf seinem linken Oberarm erkennt man ein Tattoo mit dem Emblem seiner Fußballmannschaft aus Kindertagen. Seit er sechs Jahre alt ist, spielt er Fußball, genau wie sein älterer Bruder und sein Vater. Die Geschichte, wie er spielsüchtig wird, fängt viel später an. Er erzählt sie oft und gern. Er will andere über Glücksspielsucht aufklären und deutlich machen, dass es Wege gibt, die aus der Sucht wieder hinausführen. „Außerdem hilft es mir selbst, spielfrei zu bleiben, wenn ich immer wieder darüber spreche“, sagt Mathias.

Daran, wie er aufgewachsen ist, lag es nicht, sagt Mathias. Mit viel Fußball und dem Vater als Trainer. “Ich hatte eine absolut tolle Kindheit”, erzählt Mathias. „Mir hat es wirklich an nichts gefehlt. Ich habe alles bekommen, was ich wollte, wir haben große Reisen gemacht. Ich habe viel Liebe bekommen, keine Gewalt erlebt, da war wirklich alles in Ordnung“.

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In Mathias Familie wird schon immer gespielt

Gespielt wird in Mathias Familie schon immer. Wenn sie auf den Rummel gehen, kaufen sie Glückslose. Bei Familienfeiern oder wenn Besuch kommt, wird gepokert, auch um größere Summen. Mit acht Jahren darf auch Mathias mal mitspielen. „Ich bekam dabei oft noch etwas von meiner Oma zugesteckt und habe so immer mal wieder mein Taschengeld aufbessern können“, erinnert sich Mathias.

Glücksspiel hat Mathias immer schon fasziniert. „Ich habe oft zugeschaut und gestaunt, wenn die Erwachsenen Geld gewonnen haben“. In seiner Stimme schwingt Begeisterung mit. Seine Mutter spielt schon immer Lotto. Mathias und sein Bruder freuten sich jedes Mal darauf, die Zahlen zu kontrollieren. Sein Vater schließt ab und zu Sportwetten ab. Als Mathias achtzehn Jahre alt ist, wettet er auch, aber nur ab und zu. Die Männer der Familie gucken regelmäßig gemeinsam Fußball und vergleichen dabei ihre Wettscheine. „Das hat immer großen Spaß gemacht, war aber alles total im Rahmen. Mal hat man Glück gehabt, mal verloren, aber es ging nicht um viel Geld. Wir hatten einfach Spaß dabei“, sagt Mathias.

Das Leben geht seinen geregelten Gang: Ausbildung zum Industriemechaniker, der erste Job bei einem großen Industrieunternehmen, die erste eigene Wohnung, die Freundin, die heute seine Frau ist. Erst ein Kind, dann das zweite, schließlich das Haus am Stadtrand.

Onlinewetten als Einstieg

Als 2014 ein Freund beim gemeinsamen Fußballschauen dauernd auf sein Handy, statt auf das Spiel schaut, kommt Mathias zum ersten Mal mit Onlinewetten in Kontakt. Damals habe er sich noch aufgeregt, sagt er: „Ich habe es überhaupt nicht verstanden, wieso der die ganze Zeit aufs Handy schaut, anstatt dass wir gemeinsam das Spiel anschauen”. Kurze Zeit schließt Mathias während der Nachtschicht in einer Pause seine erste Sportwette ab. „Mir war langweilig und ich war neugierig“, erzählt Mathias und verschränkt dabei seine Hände. Er wettet auf ein Tennisspiel, das gerade irgendwo in Amerika stattfindet. „Eigentlich total absurd, ich hatte keine Ahnung von Tennis, nur von Fußball“, sagt Mathias. Er gewinnt die Wette und macht aus 20 Euro Einsatz 150 Euro. „Wie auf Wolke sieben habe ich mich gefühlt, als ich gewonnen hatte“, erzählt Mathias. „Extrem glücklich. Ich dachte, wow das ist ja so einfach, wie schnell man dort viel Geld verdienen kann.“

Was ist Spielsucht?

Alle Menschen spielen, es gehört zu unserem angeborenen natürlichen Verhalten.

Wird das Spielen jedoch zum alles bestimmenden Lebensinhalt und verursacht gravierende gesundheitliche, familiäre, berufliche und finanzielle Folgen, kann es zur Spielsucht werden. Anders als andere pathologische Verhaltenssüchte, wird Spielsucht von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als eigenständige psychische Erkrankung beschrieben. Spielsucht kann offline, zum Beispiel beim Lotto, im Spielcasino oder am Spielautomaten, oder online ausgelebt werden.

Aus einer Wette werden schnell viele – jeden Tag

Bald wettet Mathias täglich. Von Tennis steigt er schnell auf Fußball um, „Das ist ja eigentlich meine Sportart“, sagt er. Er schließt Livewetten ab, bei denen man nicht tagelang auf das Ergebnis warten muss. Nachts, während seiner Schichten, wettet Mathias auf Fußballspiele, die überall auf der Welt stattfinden. „Diese Live-Wetten, die haben mich fasziniert. Du kriegst direkt das Ergebnis und das gibt dir den Kick“, sagt er. Eine Wette reicht längst nicht mehr, oft sind es zehn bis zwanzig gleichzeitig. Anfangs gewinnt er oft und viel. Als er Kollegen davon erzählt, wird er bewundert. „Die haben mich gelobt, waren erstaunt, dass ich da so viel Geld gewonnen habe. 2.000 Euro habe ich teilweise an einem Arbeitstag gemacht. Das hat mir viel Selbstbewusstsein gegeben, ich hab’ mich wie der Größte gefühlt“, erinnert sich Mathias. Seine Familie merkt nichts davon. „Es ist ja heutzutage total normal, dass man andauernd aufs Smartphone schaut“, sagt Mathias.

Er wettet zu jeder Tages- und Nachtzeit. „Da war nicht der Gedanke, mal einen Tag Pause zu machen, auch nicht eine Stunde“, sagt Mathias. Er gewinnt immer wieder größere Summen – und verliert sie auch wieder. Drei Monatsgehälter kann er auf seinem Konto ins Minus gehen, das passiert oft in dieser Zeit. Es geht erstaunlich lange gut, fast ein Jahr lang. Als er aber 6.000 Euro verliert und Schulden bei der Bank hat, muss er es seiner Frau erzählen. „Sonst wäre es ja aufgeflogen, das Geld war ja weg“, sagt Mathias. Seine Frau sucht ihm eine Onlinesuchtberatungsstelle raus, aber dass er ein Problem hat, sieht er damals noch nicht. „Ich habe aufgehört zu spielen, aber nur ihr zuliebe, ich habe überhaupt nicht eingesehen, dass ich süchtig bin.“

Mit einem Rubbellos beginnt der Kreislauf von vorn

Anderthalb Jahre hält Mathias durch. Dann kauft er nach dem Einkaufen an einem Kiosk ein Rubbellos – und gewinnt. „So ging alles wieder von vorne los, nur noch schlimmer“, sagt er. Er meldet sich direkt wieder auf beim Onlinewettanbieter an. Er wettet vor dem Schlafengehen, direkt nach dem Aufstehen, auf der Arbeit – eigentlich immer. „Die Gedanken waren immer beim Wetten, ich habe kaum etwas anderes wahrgenommen“, erzählt er. Wenn er mit seinen Kindern ins Schwimmbad geht, schließt er vorher zehn, zwanzig Wetten ab, die vom Anfang bis zum Ende des Schwimmens laufen. Weil er ja im Schwimmbad nicht aufs Handy schauen kann. „Das war genauso wie bei einem Drogenabhängigen, der sich noch einen Schuss setzt, damit er die Stunden, die er nicht konsumieren kann, aushält“, sagt Mathias.

Da Mathias und seine Frau getrennte Konten haben, merkt sie nicht, dass Mathias wieder spielt. Die gemeinsamen Ausgaben für die Familie zahlen sie auf ein Gemeinschaftskonto ein. „Das war für mich immer die oberste Priorität, dass ich diese Ausgaben bezahlen kann“, sagt Mathias.

Das Belohnungssystem im Gehirn lässt uns leicht in eine Abhängigkeit abrutschen. Im Video erzählen Mathias und Mark von ihrem Weg in die Sucht.

Als die Wettverluste größer werden, entdeckt Mathias die Online-Casinos

Doch schon bald verliert Mathias mit den Sportwetten immer öfter. Das geht ins Geld. Dann entdeckt er, dass der Wettanbieter auf seiner Homepage auch ein Online-Casino anbietet. „Ich dachte, das kann ich mir ja mal anschauen“, erzählt Mathias. Er fängt an, Blackjack zu spielen – und gewinnt schnell so viel Geld, dass er die Verluste bei den Sportwetten ausgleichen kann. „Da dachte ich, toll, tagsüber mache ich Sportwetten und wenn ich verliere, hole ich mir das abends beim Spielen im Online-Casino wieder“, sagt Mathias. Doch das geht nicht lange gut. Zwei Monate lang geht es immer weiter bergab. Er verliert viel Geld, auch im Online-Casino, und rutscht tief in die Schulden.

„Mir ging es zu der Zeit so schlecht, psychisch und körperlich. Ich habe kaum noch geschlafen, habe viel abgenommen und habe nur noch daran gedacht, wie ich das Geld wieder reinholen kann“, erinnert sich Mathias.

Heute spricht Mathias in Schulen und Vereinen über seine Spielsucht

Eines Tages bricht alles zusammen – auch Mathias. „Ich hatte alle Sparbücher geplündert, habe alles verzockt“, sagt er. Unter Tränen beichtet er alles seiner Frau. „Als es dann raus war, da sind mir viele Steine vom Herzen gefallen. Der Druck war vorher so hoch, auch auf meinem Körper. Und auf einmal war das alles weg, mir ging es viel besser.“ Sie unterstützt ihn wieder, wie beim ersten Mal, macht einen Beratungstermin aus, wie beim ersten Mal. Und dieses Mal sieht Mathias ein, dass er Hilfe braucht. Er nimmt an einem 12-wöchigen ambulanten Therapieprogramm bei der Caritas teil, die Menschen mit Glücksspielsucht hilft. Auch seinen Eltern und Schwiegereltern erzählt er von der Spielsucht. Seine Eltern leihen ihm Geld. Mathias kann die Schulden bezahlen und stottert die Summe immer noch bei seinen Eltern ab. Das ist für ihn selbstverständlich. „Zum Glück ist es damals nicht noch schlimmer gekommen“, sagt er. „Hätte ich weitergespielt, hätte ich am Ende vielleicht noch unser Haus verzockt.“

Heute ist er sieben Jahre spielfrei. Er geht regelmäßig in Jugendfußballvereine und Schulen, um über seine Spielsucht zu sprechen. „Ich denke auch heute noch manchmal ans Spielen, und ärgere mich, dass es so weit gekommen ist“, sagt Mathias. „Das Spielen an sich hat mir ja auch mal Spaß gemacht.“

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