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Modedroge Tilidin – so gefährlich ist der Missbrauch des Schmerzmittels

Veröffentlicht am:27.09.2024

7 Minuten Lesedauer

„Gib mir Tilidin, ja, ich könnte was gebrauchen“, singt der Deutsch-Rapper Capital Bra. Das Schmerzmedikament Tilidin ist ein synthetisches Opioid. Wird es missbräuchlich eingesetzt, besteht die Gefahr, dass es körperlich und psychisch abhängig macht.

Ein junger Mann, nur seine Hände sind im Bild, dosiert Medikamententropfen aus einer Flasche in einen Löffel.

© iStock / Roman Budnyi

Was ist Tilidin?

Tilidin ist ein Analgetikum. Analgetika sind Medikamente, die schmerzstillend oder schmerzlindernd wirken. Die vielen verschiedenen Analgetika unterscheiden sich nach der Stärke ihrer Wirkung und nach der Art, in der sie wirken. Tilidin ist ein sogenanntes Opioid oder Opioidanalgetikum. Diese Arzneistoffe blockieren die Schmerzwahrnehmung und -weiterleitung im zentralen Nervensystem. Dazu docken Opioide an bestimmte Rezeptoren an, die Opiatrezeptoren genannt werden.

Opiate und Opioide – wo ist der Unterschied?

Warum heißen diese Rezeptoren Opiatrezeptoren und nicht Opioidrezeptoren? Opioid und Opiat bezeichnen nicht dasselbe: Opiate sind Stoffe, die direkt aus Rohopium oder bestimmten Bestandteilen von Rohopium hergestellt werden. Ihre Wirkungsweise ist die oben beschriebene: Sie docken an den Opiatrezeptoren an (daher der Name der Rezeptoren). Opioide hingegen sind Substanzen, die wie Opiate wirken, aber nicht ursprünglich aus Opium gewonnen wurden. Es kann sich zum Beispiel um einen synthetischen Arzneistoff handeln – wie Tilidin –, der die Wirkungsweise von Opiaten imitiert und wie diese an den Opiatrezeptoren anhaftet.

Tilidin im WHO-Stufen-Schema für die Schmerztherapie

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ein dreistufiges Schema zur Schmerzbehandlung entwickelt:

  1. Leichte Schmerzen: Behandlung mit nicht-opioiden Schmerzmitteln aus der Gruppe der nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR), zum Beispiel Acetylsalicylsäure (Aspirin), Ibuprofen oder Paracetamol
  2. Mittelstarke Schmerzen: Behandlung mit schwach wirksamen Opioiden (die aber wirksamer als nicht-opioide Analgetika sind), zum Beispiel Tilidin oder Tramadol
  3. Starke und anhaltende Schmerzen: Behandlung mit starken Opioiden, zum Beispiel Morphium (Morphin) oder Fentanyl

Opioide der Stufe 3 sind zwar wesentlich schmerzwirksamer, aber auch Tilidin ist ein sehr starkes Medikament.

Ein junger Mann sitzt vor einem schwarzen Hintergrund und betrachtet nachdenklich eine Medikamentenpackung in seiner Hand.

© iStock / PamelaJoeMcFarlane

Tilidin kann wie alle Opioide bei längerer Einnahme körperlich und psychisch abhängig machen.

Euphorie und Gelassenheit: Opioide bergen immer ein hohes Suchtpotenzial

Mit der Wirksamkeit gegen Schmerzen geht allerdings eine Gefahr einher: Opioide können bei unkontrolliertem Langzeitkonsum abhängig machen, physisch und auch psychisch. Die körperliche Abhängigkeit führt dazu, dass beim Absetzen des Opioids Entzugserscheinungen auftreten können, wie zum Beispiel Krämpfe, Herzrasen, vermehrtes Schwitzen und allgemeines Unwohlsein. Darüber hinaus beeinflussen Opioide die Psyche. Gerade wenn keine zeitverzögert wirkenden (langwirksamen) Präparate eingesetzt werden, wirkt das Opioid euphorisierend und fördert dadurch das Verlangen nach immer mehr. Gleichzeitig erzeugt es ein Gefühl der Gleichgültigkeit. Bei chronischen Erkrankungen ist dieser Effekt geringer, denn hier werden meist langwirksame Präparate genutzt, die langsam anfluten und so den Schmerz, weswegen sie ja eingesetzt werden, konstant minimieren – dadurch wirken sie weniger euphorisierend. Bei Darreichungsformen, die schnell im Körper anfluten, ist hingegen das psychische Abhängigkeitspotenzial viel größer.

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Nutzen und Risiken von Tilidin

Tilidin wird in der Regel dann verschrieben, wenn bei bestimmten Erkrankungen nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) nicht mehr ausreichen, um die Schmerzen in einem erträglichen Rahmen zu halten. Dies kann zum Beispiel bei Schmerzen nach schweren Operationen oder bei Krebspatienten und -patientinnen der Fall sein. Mögliche Nebenwirkungen von Tilidin sind unter anderem Übelkeit, Schwindel oder Müdigkeit. Wird es dagegen missbräuchlich eingesetzt, also nicht, weil Schmerzen bestehen, sondern weil man „den Kick“ haben will, dann besteht ein hohes psychisches Abhängigkeitspotenzial. Denn die euphorisierende Wirkung ist eine ideale Voraussetzung für die Entwicklung von Missbrauch und Abhängigkeit.

Um das Abhängigkeitsrisiko zu verringern, wird Tilidin in Deutschland ausschließlich als Kombinationspräparat mit Naloxon angeboten. Naloxon ist ein Opioidantagonist oder Opioidhemmer, der der Wirkung von Opioiden teilweise entgegenwirkt, um die Suchtgefahr zu begrenzen. Es gibt diese Kombination in Tropfenform und außerdem als Tabletten mit einer verzögerten Wirkstofffreisetzung (Retard-Arzneimittel). Weil von den Retard-Tabletten bei ärztlicher Kontrolle eine nur geringe Suchtgefahr ausgeht, sind sie auch für die Behandlung chronischer Schmerzen geeignet.

Wie lange kann man Tilidin-Tropfen nehmen, ohne abhängig zu werden?

Die Tilidin-Tropfen ohne verzögerte Wirkstofffreisetzung sind hinsichtlich des Suchtpotenzials riskanter als die Retard-Tabletten. Aber auch sie haben ihre medizinische Berechtigung. Opioide gelten als unverzichtbar für die Behandlung starker Schmerzen und Tilidin-Tropfen sind ein hochwirksames Schmerzmittel, das vielen Menschen mit Schmerzen helfen kann. Entscheidend ist, dass die Einnahme von Tilidin-Tropfen ärztlich genau kontrolliert wird. Unstrittig ist, dass alle Opioide bei längerer Einnahme körperlich und psychisch abhängig machen können, so dass ein Arzt oder eine Ärztin bei einer Verschreibung von Tilidin-Tropfen die Dosierung und den Anwendungszeitraum individuell abstimmen muss. Das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe.

Tilidin und das deutsche Betäubungsmittelgesetz

In Tropfenform fällt eine Tilidin-Naloxon-Kombination in Deutschland unter das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), da der Wirkstoff schneller freigesetzt wird als bei den Retard-Tabletten. Diese Tropfen müssen auf einem sogenannten BTM-Rezept (Betäubungsmittelrezept) verordnet werden. In Tablettenform und als Retard-Arzneimittel ist Tilidin vom BtMG freigestellt, das heißt auch mit einem „normalen“ Rezept verschreibungsfähig.

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Vom vielversprechenden Schmerzmittel zur Droge: die Geschichte von Tilidin

Tilidin kam 1970 in Deutschland unter dem Handelsnamen Valoron auf den Markt. Der Hersteller von Tilidin verband mit dem neuen Medikament die Aussicht, dass im Gegensatz zu anderen Opioiden keine Suchtgefahr bestehe. Die Hoffnungen auf Tilidin als starkes Schmerzmittel ohne Missbrauchs- und Abhängigkeitsrisiko erfüllten sich allerdings nicht. In Westdeutschland wurde Tilidin bereits 1978 in das BtMG aufgenommen, weil es sich in der Drogenszene schnell als leicht verfügbarer Ersatz für Opiate wie Morphium oder Heroin etablierte. Außerdem wurden Fälle bekannt, in denen Patienten und Patientinnen ohne eine vorherige Abhängigkeit von anderen Drogen bei der Schmerzbehandlung von Tilidin abhängig wurden.

Der Grund für die „Drogenkarriere“ von Tilidin liegt vor allem darin, dass das in der Anfangszeit verfügbare flüssige Tilidin ohne Naloxon sehr schnell vom Körper aufgenommen wird, so dass es zu einer raschen Anreicherung des Medikaments kommt. Dies führt zu einer ungebremsten Euphorie und einem ausgeprägten Wohlbefinden. Die Wirkung ähnelt der von Heroin, ist aber deutlich schwächer. Da Tilidin Retard-Tabletten keine euphorisierende Wirkung haben, spielen die gängigen Tilidin-Tabletten in der Drogenszene keine Rolle.

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Tilidin als Modedroge in der Deutsch-Rap-Kultur

Tilidin ist schon seit mehr als 50 Jahren erhältlich und sein berauschendes Potenzial sowie die Suchtgefahr sind bereits seit den 1970er Jahren bekannt. Wieso hat sich gerade Tilidin in den letzten Jahren in der deutschen Drogenszene etabliert? In der amerikanischen Opioid-Krise zum Beispiel geht es hauptsächlich um Fentanyl.

Eine Ursache könnte dabei die Deutsch-Rap-Szene liegen, in der Tilidin oft als Droge in Songtexten genannt wird. Eine Hauptrolle spielt dabei Capital Bra. Der Berliner Deutsch-Rapper erwähnt das Opioid nicht nur häufig, sondern hat ihm 2019 zusammen mit seinem Kollegen Samra sogar einen eigenen Song gewidmet: „Tilidin“. Im Rahmen einer groß angelegten Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit unter anderem zum Opioidkonsum unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurden zahlreiche Interviews geführt. Hier gaben viele Jugendliche an, dass die prominente Rolle von Tilidin in der Rap-Kultur für sie ein Anstoß war. Das, wovon man ständig hört, wollte man auch einmal ausprobieren. Weil bei Opioiden der Weg vom Ausprobieren zur Sucht nicht weit ist, haben Dealende längst reagiert und ihr Sortiment um Tilidin erweitert.

Weitere häufige Bezugsquellen für Tilidin sind:

  • Gefälschte Rezepte
  • Bemühungen um eigene Verschreibungen
  • Diebstahl bei älteren Verwandten wie Eltern oder Großeltern

Auch wenn der missbräuchliche Konsum von Tilidin und anderen Opioiden ein ernstzunehmendes Problem darstellt und leicht zunimmt: Von einer Opioid-Krise wie in den USA kann in Deutschland nicht gesprochen werden. Um einen weiteren Anstieg zu verhindern, ist es aber unerlässlich, über die Gefahren eines Missbrauchs von Opioiden wie Tilidin aufzuklären.

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Über Rausch und Modedrogen: eine historische Kurzrevue

Janis Joplin (Überdosis Heroin), Amy Winehouse (Alkoholvergiftung), Whitney Houston (Kokainmissbrauch) oder Prince (Überdosis Opioide) – die Liste der Prominenten, deren tragischer Tod im Zusammenhang mit Drogen steht, ist lang. Zu solchen Todesfällen kommt es immer wieder auch deshalb, weil die Konsumierenden glauben, ihre Sucht kontrollieren zu können. Es sterben immer nur die anderen – bis es für einen selbst zu spät ist.

Drogen sind (fast) so alt wie die Menschheit selbst

Drogen und die leider oft tödliche Sucht nach Rausch, Entspannung und Ablenkung begleiten die Menschheitsgeschichte schon lang. Der Weinanbau und auch Cannabis haben eine jahrtausendealte Tradition. Und schon tausende Jahre, ehe im 19. Jahrhundert Kokain aus Kokasträuchern isoliert wurde, kauten die Ureinwohner Südamerikas Kokablätter. Kokain war übrigens einst als Schmerzmittel vorgesehen, genauso wie Heroin. Heroin wurde Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt, um die Entzugserscheinungen von Morphium zu behandeln, ohne eine neue Abhängigkeit zu erzeugen. Das hat bekanntlich nicht funktioniert.

Beliebte Modedrogen und ihre Blütezeiten

In den vergangenen 150 Jahren gab es immer wieder Modedrogen, die für einen bestimmten Zeitraum besonderer beliebt waren. Eine kleine Auswahl:

  • Absinth: Vor allem im späten 19. Jahrhundert war Absinth das Szenegetränk schlechthin. Besonderer Beliebtheit erfreute er sich in künstlerischen Kreisen, wie zahlreiche zeitgenössische Bilder von van Gogh, Manet oder Degas belegen. Die Kräuterspirituose kann bis zu knapp 90 Volumenprozent Alkohol enthalten und wurde in vielen europäischen Ländern um die Jahrhundertwende verboten.
  • Cannabis: Die berauschende Pflanze ist eng mit der Hippie-Bewegung der späten 1960er-Jahre verbunden und hat so einen weltweiten Verbreitungsschub erlebt. In Deutschland hat das Cannabisgesetz den Konsum von nichtmedizinischem Cannabis unter bestimmten Voraussetzungen legalisiert. Wie sich das auf das Konsumverhalten auswirken wird, bleibt noch abzuwarten.
  • Designerdrogen: Hier handelt es sich um vollständig synthetische Drogen aus dem Labor: Amphetamine wie Ecstasy und Metamphetamine wie Speed oder Crystal Meth. So wie Cannabis mit der Hippie-Bewegung zusammenhängt, ist Ecstasy mit der Techno-Kultur der 1990er-Jahre verbunden, wo leider oft galt: kein Rave ohne „Ekstase“.

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