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Gesundheitsmagazin

Sucht

Sportsucht erkennen – bin ich schon süchtig nach Fitness und Muskelaufbau?

Veröffentlicht am:06.04.2022

6 Minuten Lesedauer

Selbst Sport ist nur in Maßen gesund. Leidenschaftlich Sporttreibende überschreiten manchmal eine Grenze und die Leidenschaft wird zum Zwang: zur Sportsucht. Ab wann man von Sportsucht sprechen kann und deshalb sein Pensum besser einschränken sollte, verrät ein Experte.

Eine junge Frau in Sportkleidung läuft dynamisch eine Treppe hinauf.

© iStock / praetorianphoto

Manche Menschen können nicht ohne Sport. Sie sind Getriebene des Wettkampfgedankens oder der eigenen Leistungsentwicklung und laufen Gefahr, eine Sportsucht zu entwickeln. Die Folge ist eine körperliche Überbelastung, die langfristige gesundheitliche Schäden hervorrufen kann.

Porträt vop Prof. Dr. Robert Gugutzer, Abteilungsleiter Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

© Uwe Dettmer

Der Sportsoziologe Prof. Dr. Robert Gugutzer berichtet Genaueres dazu. Gugutzer hat an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main die Professur für Sozialwissenschaften des Sports inne und steht der Sportsoziologie am Frankfurter Institut für Sportwissenschaften als Abteilungsleiter vor.

Außerdem ist er geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift „Sport und Gesellschaft“.

Sportsucht: Definition, Ursachen und Symptome

Was verstehen Sportwissenschaftler und Sportmediziner unter Sportsucht?

Die Sportwissenschaft versteht unter Sportsucht allgemein eine Verhaltenssucht, deren „Droge“ die sportliche Aktivität ist. Sportsucht ist somit eine substanzunabhängige Form von psychischer und körperlicher Abhängigkeit. Sportsüchtiges Verhalten geht einher mit einem starken Drang, Sport treiben zu müssen, mit einer gewissen Maßlosigkeit im Umfang oder hinsichtlich der Intensität der Sportausübung und mit einem Leidensdruck, der entsteht, wenn es nicht möglich ist, Sport zu treiben. Sportsucht ist im Übrigen keine Suchtform, die in den gängigen Diagnosemanualen für psychische Störungen aufgeführt ist.

Wie äußert sich Sportsucht? Welche Symptome deuten darauf hin?

Die typischen Symptome einer Sportsucht sind vergleichbar mit den Symptomen von Süchten beziehungsweise Abhängigkeitsformen generell. Dazu zählen körperliche und psychische Entzugssymptome (Magen-Darm-Probleme, Schlafstörungen, Depression), Dosissteigerung (es muss immer mehr oder intensiv Sport betrieben werden), Kontrollverlust (das Gefühl, dass der Sport einen im Griff hat und nicht umgekehrt), ein extrem hoher Zeitaufwand (neben dem Sport auch aufgrund der Beschäftigung mit Ernährung, die damit oftmals einhergeht) und soziale Konflikte im Privaten wie im Beruf.

Wo verläuft die Grenze zwischen dem normalen ehrgeizigen Sportler und dem gefährdeten?

Die Grenze zwischen einer starken Bindung an den Sport und einer Abhängigkeit vom Sport ist fließend und deshalb schwer zu bestimmen. Ein entscheidendes Kriterium scheint mir das Leiden zu sein, das sich einstellt, wenn man seinen Sport nicht ausüben kann – zum Beispiel wegen einer Verletzung. Wer „nur“ eine starke Bindung an seinen Sport hat, kann leichter loslassen als jemand, für den der Sport eine Sucht ist.

„Die Grenze zwischen einer starken Bindung an den Sport und einer Abhängigkeit vom Sport ist fließend und deshalb schwer zu bestimmen.“

Prof. Dr. Robert Gugutzer
Abteilungsleiter Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main

Wer ist besonders gefährdet, sportsüchtig zu werden?

Was fördert Sportsucht? Gibt es Persönlichkeitsmerkmale, die Sportsucht begünstigen?

Es gibt bislang keine Studien, die eindeutig belegen, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie zum Beispiel Narzissmus oder Selbstwert(störung) die Ursache dafür sind, dass ein Mensch eine Sportsucht entwickelt. In meiner eigenen, sportsoziologischen Forschung geht es auch nicht um psychologische, sondern um biografische und soziale Faktoren. Ich gehe von der trivialen Annahme aus, dass kein Mensch als sportsüchtiger Mensch geboren wird, sondern dieses Verhalten irgendwann entwickelt wird. Dafür sind bestimmte Lebensumstände entscheidend, etwa biografische Krisen. Im Jugendalter hat das viel mit der Veränderung des eigenen Körpers und der damit zusammenhängenden Identitätssuche zu tun, im mittleren Lebensalter beispielsweise mit dem Überwinden einer schweren Krankheit oder der sogenannten Midlife-Crisis. Außerdem braucht es fast immer andere Menschen, die einen antreiben, die Vorbilder sind, die einen fördern etc. Sportsucht entwickelt man also in einem bestimmten sozialen Kontext.

Existieren geschlechtsspezifische Unterschiede?

Nicht, was die Häufigkeit oder das Ausmaß von Sportsucht angeht. Aber es gibt geschlechtsspezifische Unterschiede bei den süchtig machenden Sportarten. In den so genannten Muskelsportarten wie Bodybuilding oder Kraftdreikampf und in den Risiko- oder Abenteuersportarten wie Base-Jumping oder Free-Climbing findet man mehr sportsüchtige Männer als Frauen. Das gilt auch für alle Ultra-Sportarten, beispielsweise Ultra-Marathon oder Ultra-Schwimmen. Ziemlich ausgeglichen ist das Geschlechterverhältnis in der Sportartengruppe mit den meisten Sportsüchtigen, dem Ausdauer- und Fitnesssport.

Ein Mann verzieht im Fitnessstudio vor Schmerz das Gesicht und fasst sich mit beiden Händen an den rechten Oberschenkel.

© iStock / Michael Edwards

Schmerzen sind ein deutliches Signal des Körpers, dass die Belastung zu hoch ist.

Mögliche Begleiterscheinungen und Folgen einer Sportsucht

Können andere psychische Störungen mit einer Sportsucht einhergehen?

Es kommt sogar ziemlich oft vor, dass die Sportsucht mit einer anderen psychischen Störung einhergeht. Am häufigsten ist der Zusammenhang von Essstörung und Sportsucht, wobei es hier in der Tat einen geschlechtsspezifischen Unterschied gibt: Bei Frauen ist es eher so, dass die Essstörung der Sportsucht vorausgeht. In der Sportsuchtforschung spricht man dann von einer „sekundären“ Sportsucht. Bei Männern ist die Essstörung eher die Folge oder ein Nebenprodukt der Sportsucht. Bei Männern gibt es außerdem einen Zusammenhang zwischen der sogenannten Muskeldysmorphie, also dem Gefühl, zu wenig Muskeln zu haben, und exzessivem Kraftsport, der dann auch in eine sekundäre Sportsucht münden kann.

Lassen sich typische Entzugserscheinungen benennen?

Wie oben schon angedeutet, sind es sowohl körperliche als auch psychische Entzugserscheinungen, die Sportsüchtige haben können. Dazu zählen Magen-Darm-Probleme, Schlafstörungen, Unruhe, Gereiztheit, depressive Verstimmungen etc. Man muss allerdings auch sagen, dass Entzugssymptome bei Sportsüchtigen gar nicht so häufig vorkommen. Der Grund dafür ist, dass man als Sportsüchtiger fast immer eine Möglichkeit findet, irgendwie Sport zu machen. In einer aktuellen Studie von mir finden sich zum Beispiel Personen, die wegen einer Beinverletzung längere Zeit im Krankenhaus lagen und daher eigentlich keinen Sport machen konnten. Sie haben sich dann Hanteln ins Krankenhaus bringen lassen und konnten so ihren Oberkörper und die Arme trainieren.

Was sind mögliche gesundheitliche Folgen der Sportsucht?

Überwiegend sind es körperliche Schäden aufgrund der körperlichen Überlastung, sofern es sich um eine lang anhaltende Sportsucht handelt. Nicht jeder Sportsüchtige ist aber sein Leben lang abhängig vom Sport, manche sind es vielleicht „nur“ ein Jahr lang. Hier sind die gesundheitlichen Folgen dann eher gering. Hält die Sportsucht länger an, dann können auch psychosomatische Folgen damit einhergehen, beispielsweise die oben bereits erwähnte Essstörung.

Im Leistungssport wird das Phänomen RED-S diskutiert. Ist es eine mögliche Folge der Sportsucht?

Bei RED-S, dem Relativen Energiedefizit-Syndrom, handelt es sich um eine Folge von Übertraining bei gleichzeitig zu geringer Kalorienzufuhr. Die Energieaufnahme deckt also den Energieverbrauch nicht und es kommt wegen dieses Mangels zu körperlichen Beeinträchtigungen. Als Sportsoziologe kann ich dazu nur so viel sagen, dass ich in der Literatur zur Sportsucht keine Quellen kenne, die den Zusammenhang von Sportsucht und RED-S untersucht haben.

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Schwere Sportsucht: nur eingeschränkte Hilfsangebote

Wann sollte man sich professionell helfen lassen und welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

In der Sportwissenschaft unterscheidet man – zugegebenermaßen etwas simpel – zwischen einer leichten, mittleren und schweren Sportsucht. Professionelle Hilfe benötigen eigentlich nur die (zahlenmäßig sehr wenigen) schwer Sportsüchtigen; die leicht und mittel Sportsüchtigen kommen in aller Regel mit ihrem Leben gut klar. Schwer sportsüchtig sind Menschen, die mehr oder weniger alle der oben genannten Symptome aufweisen und einen hohen Leidensdruck haben. Ausgereifte Therapiemöglichkeiten bei Sportsucht gibt es nicht, was damit zu tun hat, dass die Sportsucht keine von der Medizin und Psychologie offiziell anerkannte Krankheit ist.

„Ausgereifte Therapiemöglichkeiten bei Sportsucht gibt es nicht, was damit zu tun hat, dass die Sportsucht keine von der Medizin und Psychologie offiziell anerkannte Krankheit ist.“

Prof. Dr. Robert Gugutzer
Abteilungsleiter Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main

Ist Sportsucht gesellschaftshistorisch betrachtet ein neues Phänomen?

Die Wissenschaft beschäftigt sich seit den 1970er-Jahren mit dem Thema Sportsucht, und das hat viel mit der Veränderung der Sportlandschaft und dem Stellenwert des Sports und des Körpers in den sogenannten westlich-modernen Gesellschaften zu tun. Viele der Sportarten, in denen die meisten Sportsüchtigen zu Hause sind, sind erst in den letzten 50 Jahren entstanden oder zu Massenphänomenen geworden: Es begann in den 1970er-Jahren mit der Joggingwelle, aus der der Marathon- und Triathlonboom wurde, setzte sich fort in den 1980er-Jahren mit der Aerobicwelle, die in den Fitness- und Körperkult mündete, und weitete sich ab den 1990er-Jahren mit den Abenteuer-, Extrem- und Risikosportarten aus.

In dieser Zeit ist der gesellschaftliche Stellenwert des Sports enorm gestiegen, und zwar sogar so sehr, dass es heutzutage einen richtigen Sportimperativ gibt – man muss Sport machen oder sich zumindest regelmäßig bewegen. Damit verbunden ist die gesellschaftliche Aufwertung des Körpers, erkennbar im Körperkult. Auch die omnipräsente Selbstoptimierungskultur als Ausdruck von Leistungsdenken und Konkurrenzdruck ist ein wichtiger gesellschaftlicher Faktor für das Aufkommen der Sportsucht.

Wobei die Empfehlung von sportlicher Betätigung an sich richtig ist. Sport und körperliche Aktivität hat in erster Linie positive Aspekte. Schwierig wird es dann, wenn aus sportlicher Begeisterung ein Körperkult oder Selbstoptimierungswahn resultiert.

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