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Sucht

Sucht: Warum es uns das Gehirn so schwer macht

Veröffentlicht am:24.07.2024

7 Minuten Lesedauer

Drogenabhängigkeit und andere Süchte belasten Körper und Psyche. Warum ist es so schwer, von einer Sucht wieder loszukommen? Was genau passiert in unserem Gehirn? Und: Gibt es so etwas wie ein Suchtgedächtnis?

Nahaufnahme. Ein Mann mit kurzem Bart raucht einen Joint. Man sieht nur seinen Mund, die Nase und die Hand – und viel Qualm.

© iStock / 24K-Production

Was ist eine Sucht eigentlich genau?

Ganz allgemein lässt sich eine Sucht als eine Abhängigkeit von Substanzen oder Verhaltensweisen beschreiben. Fachleute unterscheiden nach stoffgebundenen Süchten und Verhaltenssüchten. Erstere können Abhängigkeiten von Substanzen wie Alkohol, Nikotin oder Schmerz- und Rauschmitteln sein. Das ist es auch, was den meisten Menschen zuerst in den Sinn kommt, wenn es um das Thema Sucht geht. Seit einigen Jahren werden exzessiv ausgeübte Verhaltensweisen, die dann außer Kontrolle geraten und zum Problem werden, als Verhaltenssüchte bezeichnet. Dazu zählen unter anderem Glücksspiele, Computer- und Internetnutzung oder Shopping. Die wissenschaftliche Diskussion über einige Formen dieser Verhaltenssüchte ist noch nicht abgeschlossen. Das alltagssprachliche Wort „Sucht“ ist daher bei weitem nicht identisch mit dem medizinisch definierten Krankheitsbegriff „Sucht“.

Was macht die Sucht mit Betroffenen?

Ein wichtiges Kriterium für Suchtverhalten ist aus medizinischer Sicht neben der psychischen und oft auch physischen Abhängigkeit von einer bestimmten Substanz oder einer bestimmten Verhaltensweise die Schädlichkeit für den Einzelnen und sein Umfeld. Das heißt, dass Betroffene immer wieder zu Substanzen greifen oder bestimmte Verhaltensweisen zeigen, auch wenn sie sich dadurch körperlich, seelisch, finanziell oder sozial schaden. Überdies entsteht oft ein innerer Druck, welcher Suchtdruck oder fachsprachlich auch Craving genannt wird. Gemeint ist das schwer zu unterdrückende Verlangen, das jeweilige Suchtmittel zu konsumieren oder sich dem entsprechenden Verhalten hinzugeben – bis hin zum Zwang. Dem Craving folgt das Gefühl der Erleichterung, wenn das Suchtmittel eingesetzt wurde. Betroffene erleben den Suchtdruck häufig als einen Kontrollverlust. Den Konsum oder das Verhalten einzuschränken oder zu beenden, wird mit der Zeit immer schwieriger. Der Konsum wird für die Suchterkrankten oft zum Lebensmittelpunkt.

Ist es schon Sucht oder nur eine schlechte Angewohnheit?

Ist das eigene Verhalten nur eine Marotte oder gerät da langsam etwas außer Kontrolle? Nicht jede Leidenschaft oder jedes exzessive Verhalten bedeutet Abhängigkeit. Nicht alles, was in der Gesellschaft unerwünscht ist oder von der Norm abweicht, ist eine Krankheit. Vieles, was wir zum Beispiel essen oder trinken, löst Wohlbefinden aus. Aber niemand würde sagen, er sei von Honigbroten oder Yogi-Tee abhängig. Bei Alkohol sieht das schon anders aus, hier gibt es durchaus Vorstufen, wie „riskanter Konsum“ oder „schädlicher Gebrauch“.

Jedoch existiert heute ein breites Spektrum von „unvernünftigem“ Suchtmittelgebrauch oder gesellschaftlich nicht akzeptierten Verhaltensweisen, die zwar Probleme bereiten, aber nicht als Krankheit oder als Vorstufe zu einer Krankheit gelten, etwa Zigarettenkonsum oder Glücksspiel. Eine unwissenschaftliche und zu breite Anwendung des Suchtbegriffs ist daher kritisch zu sehen. Als Faustregel gilt: Wenn der Wunsch, eine schädliche Substanz zu sich zu nehmen, immer größer wird und wenn der Konsum trotz eingetretener Schäden fortgesetzt wird oder wenn im Alltag ohne bestimmte Verhaltensmuster etwas Wesentliches zu fehlen scheint, ist es womöglich an der Zeit, Maßnahmen zu ergreifen, um das Abgleiten in eine Sucht zu verhindern.

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Welche Rolle spielt unser Gehirn bei einer Sucht?

Die neuere Forschung betrachtet Sucht auch als körperliche Erkrankung, bei der das menschliche Gehirn im Zentrum steht. So schreiben die beiden Wissenschaftlerinnen Nora D. Volkow und Marisela Morales in ihrem Buch „The Brain on Drugs: From Reward to Addiction“ (übersetzt: „Das Gehirn auf Drogen: Von der Belohnung zur Sucht“): „Fortschritte in den Neurowissenschaften identifizierten Sucht als eine chronische Gehirnerkrankung mit starken genetischen, neuronalen und soziokulturellen Komponenten.“ Bis heute wird weiter erforscht, warum verschiedene Substanzen oder Verhaltensweisen unterschiedlich schnell süchtig machen oder warum manche Menschen schneller abhängig werden als andere. Andere Sichtweisen gewichten die Vielzahl psychischer, biografischer und gesellschaftlicher Faktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Suchterkrankung stärker.

Im Fokus: das Belohnungssystem unseres Gehirns

Gute Noten, Anerkennung oder ein Stück Kuchen am Sonntag: Unser Gehirn giert nach Belohnung. Verantwortlich dafür ist das sogenannte Belohnungssystem, ein weit verzweigtes Netz aus Hirnarealen und Neuronen, die wie in einem Schaltkreis zusammenwirken. Eigentlich dient das Belohnungssystem der Selbsterhaltung. Doch bisweilen bringt es uns dazu, dass wir von manchen Dingen nicht genug bekommen können. Gefährlich wird es, wenn Menschen eine Art Abkürzung auf dem Weg zur neuronalen Belohnung nehmen – etwa über Zigaretten, Alkohol oder jegliche Art von oft illegalen Drogen, über TikTok oder Internetspiele.

Kann man einer Sucht vorbeugen?

Es gibt eine Reihe von Faktoren, die zumindest helfen können, das Risiko für eine Suchterkrankung zu verringern. Zur Orientierung dienen die folgenden Fragen:

  • Hat die Person Selbstvertrauen und ein gesundes Selbstwertgefühl?
  • Sind Eltern oder Erziehungsberechtigte ein Vorbild und vermitteln einen verantwortungsbewussten Umgang mit bestimmten Substanzen, etwa Alkohol, oder Verhaltensweisen, zum Beispiel der Nutzung des Smartphones?
  • Wird frühzeitig – nicht erst im Jugendalter – über das Thema Sucht und der damit verbundenen Gefahren aufgeklärt?
  • Wird das Umfeld auf der Arbeit, in der Schule sowie in der Familie als unterstützend wahrgenommen?
  • Kann die Person Probleme und Konflikte gut bewältigen oder lösen? Verfügt sie über gute Kommunikationsfähigkeiten und ein gesundes Maß an Frustrationstoleranz?
  • Empfindet die Person ihre Freizeit als erfüllend?
  • Bekommt sie Unterstützung im Umgang mit Gruppendruck oder -zwang?

Rätselhaftes Dopamin

Wichtigster Mitspieler im Belohnungssystem ist Dopamin. Hier einige Fakten:

  • Dopamin ist ein sogenannter Neurotransmitter.
  • Es wird für eine Vielzahl von lebensnotwendigen Steuerungs- und Regelungsvorgängen benötigt. Zum Beispiel verursacht Dopamin Motivation.
  • Drogen und Suchtmittel aktivieren das Belohnungssystem durch Dopamin deutlich stärker als natürliche Belohnungen, wie ein Lob oder ein Erfolgserlebnis.
  • Dopamin spielt nach Erkenntnissen der Neurophysiologie auch beim Lernen eine wichtige Rolle.

Gibt es so etwas wie ein Suchtgedächtnis?

Ja. Unser Gehirn speichert nicht nur schöne Urlaubserinnerungen oder den Geschmack von Lieblingsgerichten. Leider merkt sich das Gehirn auch, welche Stoffe oder Verhaltensweisen zu einer besonderen Belohnung geführt haben. Das Verlangen danach wird stärker, besonders das Vorderhirn wird dabei durch neuronale Anpassungsprozesse nachhaltig verändert. Das enge Zusammenspiel von Reizverarbeitung, Kognition, Gedächtnis und Emotion führen – etwa bei einer Drogenabhängigkeit – zu einem Suchtverhalten, das nach und nach erlernt wird. Schließlich kann es in ein nahezu automatisiertes Handlungsmuster münden.

Was sind die Folgen für Betroffene?

Je häufiger zum Beispiel Alkohol, illegale Drogen, oder auch Glücksspiel als Problemlöser dienen, desto stärker verfestigen sich diese Verhaltensmuster. Gleichzeitig wird die suchterkrankte Person immer sensibler für Reize, die mit der Aufnahme bestimmter Suchtstoffe in Verbindung stehen. Diese Reize werden auch Trigger genannt. Zum Beispiel genügt dann schon der Anblick eines Bierglases, um das Gefühl der Feierabendstimmung auszulösen. Durch diese Trigger werden Suchterkrankte an das schöne Gefühl beim Konsum der Droge oder der Verhaltensweise erinnert und möchten dem Verlangen nachgeben. Nur: Die letztmalige Dosis reicht oft nicht mehr – also wird sie erhöht. Beim Verzicht auf das Suchtmittel kann es zu Entzugserscheinungen kommen, körperlicher Art wie Zittern oder Schwitzen oder psychischer Art wie Angstzuständen etwa oder Verstimmungen.

Kann man das Suchtgedächtnis nicht ganz einfach löschen?

Wahrscheinlich ist der Umbau der Hirnstrukturen des Gehirns dauerhaft. Das bedeutet: Selbst mit eintretender Abstinenz entstehen im einmal ausgebildeten Suchtgedächtnis keine Veränderungen. Der sogenannte Suchtdruck oder das Craving können demnach ein unangenehmer Begleiter der Abhängigen bleiben. Selbst viele Jahre nach der Entgiftung, beziehungsweise der Entwöhnung können einzelne Reize noch immer dafür sorgen, dass der Belohnungsmechanismus wieder aktiviert wird.

Eine Frau und zwei Männer während einer Gruppentherapiesitzung. Die Frau spricht, die beiden Männer hören aufmerksam zu. Rechts ist im Anschnitt und in der Unschärfe eine weitere Teilnehmerin der Gruppe zu sehen.

© iStock / fotostorm

Selbsthilfegruppen können suchtkranken Menschen zusätzlich zu einer Therapie dabei helfen, ihre Abhängigkeitsprobleme zu bewältigen. Unter anderem unterstützen sie dabei, soziale Kontakte zu knüpfen und neue Perspektiven zu finden.

Wie lassen sich Suchterkrankungen erfolgreich behandeln?

Die Therapie einer Suchterkrankung ist abhängig von der Art der Sucht und der Ausprägung bei jedem oder jeder Einzelnen. Entsprechend unterscheiden sich auch die Vorgehensweisen bei einer stoffgebundenen und bei einer Verhaltenssucht. Doch allen Behandlungen gemeinsam ist das Ziel der Abstinenz, also ein kompletter Verzicht auf das Suchtmittel. In diesem Fall wird bei Sucht durch Substanzen in der Regel anfangs eine körperliche Entgiftung unter medizinischer Aufsicht durchgeführt, um möglichen Komplikationen vorzubeugen. Fällt das Ziel einer Abstinenz dem oder der Betroffenen dennoch zu schwer, wird zumindest versucht, den Konsum im Sinne einer Schadensminimierung zu verringern, beziehungsweise zu begrenzen. Bei der medizinischen Behandlung einer Drogenabhängigkeit kommen unter Umständen für einige Substanzen Ersatzstoffe, wie etwa Methadon für Heroin in Frage, was den Beginn einer Therapie erleichtern kann. Das detaillierte, gestufte Vorgehen bei Verhaltenssüchten ist derzeit Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.

Wie sehen Hilfsangebote konkret aus?

Auch hier unterscheiden sich die notwendigen Schritte, je nach persönlicher Konstellation. Ein wichtiges Ziel der Behandlung ist, neuen Lebensmut zu bekommen und dank neuer Strategien und Verhaltensmustern abstinent zu bleiben. Mögliche Therapien, die in der Regel kombiniert angewendet werden, sind:

  • Beratung: Das können motivierende Gespräche sein, mit dem Ziel, für das Thema Sucht zu sensibilisieren, zur Änderung des Verhaltens anzuregen und Zugang zu einem Behandlungsangebot zu verschaffen.
  • Entgiftung: Meistens spricht man in diesem Zusammenhang von einem Entzug.
  • Entwöhnung: medizinische Reha-Behandlung durch ein multiprofessionelles Team.
  • Psychotherapie: zum Beispiel kognitive Verhaltenstherapie.
  • Selbsthilfegruppen und Gruppenangebote
  • Medikamente: Das starke Verlangen („Craving“) lässt sich in manchen Fällen medikamentös lindern.
  • Behandlung einer eventuell zusätzlich bestehenden psychischen Erkrankung: zum Beispiel Therapie einer Depression, Angststörung oder Schizophrenie

Behandlungskonzepte für die verschiedenen Formen von Verhaltenssüchten sind derzeit Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und haben daher oft noch keinen etablierten Standard. Sie beruhen meist auf verhaltenstherapeutischen Prinzipien.

Und was tun bei einem Rückfall?

Eine Suchterkrankung, ob als Abhängigkeit von Substanzen oder Verhaltensweisen, ist mit Blick auf das komplexe Suchtgedächtnis eine lebenslange Aufgabe. Ein Rückfall ist kein persönliches Versagen, sondern gehört vielmehr zum Wesen einer Sucht. Bei Alkoholkranken liegt die Rückfallquote zum Beispiel bei 40 bis 60 Prozent innerhalb von ein bis zwei Jahren. Wichtig ist, jeden Rückfall zu bewerten und therapeutisch aufzuarbeiten. Das kann vor weiteren „Ausrutschern“ schützen und dabei helfen, die Abstinenz langfristig zu stabilisieren.

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