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TikTok-Sucht: Interview mit einer Neurowissenschaftlerin

Veröffentlicht am:14.10.2024

4 Minuten Lesedauer

Einmal TikTok geöffnet – und eh man sich versieht, hat man zwei Stunden mit kunterbunten Kurzvideos verbracht. Warum macht die App so süchtig? Welche Risiken gibt es? Die Neurowissenschaftlerin Dr. Frederike Petzschner im Interview.

Ein junges Mädchen liegt auf einem Bett und schaut lächelnd auf ihr Smartphone.

© iStock / Hispanolistic

Frau Petzschner, auf Druck der EU zog TikTok kürzlich die App-Version „TikTok Lite“ zurück. Ist TikTok gefährlicher als andere Social-Media-Apps?

Ich weiß nicht, ob TikTok zwangsläufig süchtiger macht als andere soziale Medien. Die Plattformen beobachten sich gegenseitig sehr genau und kopieren Funktionen, die sich bei der Konkurrenz bewährt haben. Das gilt für TikTok genauso wie für Meta (Facebook und Instagram, Anm. d. Red.) oder X (ehemals Twitter). Der TikTok-Algorithmus scheint aber besonders gut darin zu sein, die Vorlieben der Nutzerinnen und Nutzer zu treffen. Er kann auf riesige Datenmengen zurückgreifen: Mittlerweile nutzen rund 1,6 Milliarden Menschen die Plattform.

Die EU hat ihr Verfahren gegen TikTok unter anderem damit begründet, dass sie die psychische Gesundheit von Minderjährigen gefährdet sieht …

Die Welt hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Angesichts vieler Krisen ist es schwierig zu sagen, wie groß der Einfluss der sozialen Medien auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen genau ist. Studien legen aber nahe, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Nutzung von Social Media und Veränderungen im Gehirn gibt. Auch auf die Psyche wirkt sich die intensive Nutzung sozialer Netzwerke aus: Die Stimmung kann darunter leiden, und die Aufmerksamkeitsspanne sinkt. Vor allem bei Mädchen können soziale Medien zu einem negativen Selbstwertgefühl, einem verzerrten Körperbild Depressionen oder Angststörungen führen. Wie schwerwiegend die Schäden langfristig sind, werden wir aber wohl erst in einigen Jahren wissen. Deshalb finde ich es richtig, dass man sich das Problem jetzt genauer anschaut und Maßnahmen ergreift, um Suchtpotenzial von Anfang an zu unterbinden.

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Warum sind junge Menschen besonders gefährdet?

Zum einen spielt die soziale Komponente eine wichtige Rolle. Wenn in der Klasse alle eine bestimmte App nutzen, entsteht ein hoher Druck, sich dem anzuschließen. Ein weiterer Aspekt, insbesondere bei jungen Männern, ist die Entwicklung des präfrontalen Cortex. Dieser ist erst mit Mitte 20 vollständig ausgereift. Er steuert unter anderem die Impulskontrolle. Jugendliche sind daher impulsiver und neugieriger. Dieses explorative Verhalten ist entwicklungsbedingt und hat evolutionäre Vorteile. Allerdings führt es auch dazu, dass Jugendliche und junge Erwachsene anfälliger für die Reizüberflutung durch soziale Medien wie TikTok sind.

Wie schafft es TikTok darüber hinaus, Nutzende zu fesseln?

Der Algorithmus hat ein klares Ziel: Verweildauer und Interaktionen auf der Plattform zu maximieren. Je besser der Algorithmus die Vorlieben der Nutzenden kennt, desto genauer kann er die Inhalte auf diese zuschneiden. Das führt wiederum dazu, dass die Menschen immer wiederkommen und mehr Zeit in der App verbringen. Warum ist das wichtig? Social-Media-Plattformen verdienen ihr Geld vor allem mit Werbung. Wenn die Nutzerinnen und Nutzer länger auf der Plattform aktiv sind, können die Unternehmen ihren Gewinn maximieren.

Wie schafft es TikTok darüber hinaus, Nutzende zu fesseln?

Zum einen hat TikTok frühzeitig den Trend erkannt und auf Kurzvideos statt Bilder gesetzt. Instagram zog erst später nach und führte mit den „Reels“ ein eigenes Videoformat ein. Sogar X ist jetzt voller Videos. Darüber hinaus ist das Design von TikTok darauf ausgerichtet, die Menschen auf der Plattform zu halten. Es gibt beispielsweise keinen Stopp-Button, man bekommt endlos neue Filme angezeigt.

Studien zeigen, dass viele das Zeitgefühl verlieren, wenn sie auf TikTok unterwegs sind. Wie entsteht dieser Sog?

Beim Sport oder Musizieren wünschen wir uns sogar, dass sich dieses Gefühl einstellt. Dieser Zustand wird als „Flow“ bezeichnet: Wir versinken in einer Tätigkeit, und unsere ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf diese eine Sache, sodass wir die Zeit vergessen. Es gibt diesen Zustand aber auch im Kontext der Spielsucht – die einzige Verhaltenssucht, die bislang offiziell anerkannt ist. Hier spricht man davon, dass Menschen in der „Zone“ sind. Betroffene verlieren sich in Glücksspielen und blenden die reale Welt komplett aus. In Casinos wird dieser Zustand sogar bewusst gefördert, indem beispielsweise Uhren entfernt werden. Ähnlich wie bei der Spielsucht werden auch bei TikTok ständig neue Reize gesetzt, die unsere Aufmerksamkeit fesseln. Der Algorithmus sorgt dafür, dass die Inhalte abwechslungsreich bleiben und uns immer wieder aufs Neue überraschen – so dass man eigentlich gar nicht aufhören kann.

Wie kann man der TikTok-Abhängigkeit entkommen?

Für viele ist das Öffnen der TikTok-App zu einer Gewohnheit geworden, die automatisch abläuft – wie der Griff zur Zahnbürste am Morgen. Diese Gewohnheit muss wieder zu einer bewussten Entscheidung werden. Eine App, die mich dabei unterstützen kann, heißt „one sec“. Sie fragt mich beim Öffnen von TikTok: „Atmen Sie einmal tief durch. Wollen Sie das wirklich?“ Das kann schon helfen, die Gewohnheit zu durchbrechen. In einer Studie konnte die Öffnungsrate von Apps dadurch um 60 Prozent gesenkt werden. Ein anderer Tipp ist, das Handy auf Schwarzweiß umzustellen. Die Inhalte verlieren dadurch viel von ihrem Reiz und die Umwelt wirkt farbenfroher. Außerdem könnte ich mir vornehmen, nur noch über den Browser auf die Plattform zuzugreifen. Die Nutzung reduziert sich allein dadurch, dass die Schwelle größer ist.

Ein Porträtfoto der Neurowissenschaftlerin Dr. Frederike Petzschner.

© Barbara Sorg / diefotowerkstatt.ch

Die Neurowissenschaftlerin Dr. Frederike Petzschner leitet das Psychiatry, Embodiment and Computation (PEAC) Lab am Carney Institute for Brain Science der Brown University in den USA. Sie ist Teil des Rats für Digitale Ökologie (RDÖ) und Mitverfasserin des Berichts „Abhängig von TikTok & Co. Wie Social-Media-Algorithmen die Mechanismen des Lernens ausbeuten und auf die Gehirnentwicklung junger Menschen einwirken."

Frau Petzschner, wie viel Zeit verbringen Sie täglich auf TikTok?

Gar keine. Ich habe alle Social-Media-Apps auf meinem Handy gelöscht. Dafür ist mein Podcast-Konsum in den letzten Jahren in bedenkliche Höhen gestiegen.

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