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Hypersexualität: Wenn Sex als Bewältigungsstrategie aus dem Ruder läuft

Veröffentlicht am:10.09.2024

5 Minuten Lesedauer

Manche Menschen neigen dazu, Anspannung und unangenehmen Gefühlen mit Sexualität entgegenzuwirken. Wird Pornokonsum und Sex jedoch dauerhaft als Mittel zur emotionalen Regulierung genutzt, kann dies zu einer Hypersexualität führen.

Ein Mann liegt nachts schlaflos in seinem Bett.

© iStock / Andrii Lysenko

Menschen wählen bei negativen Gefühlen unterschiedliche Bewältigungsstrategien

Traurigkeit, Angst oder Wut – Emotionen sind mächtig und können den Gefühlshaushalt von einer Minute auf die andere aus dem Gleichgewicht bringen. Wie Menschen mit schwierigen Ereignissen im Leben und den zugehörigen negativen Gefühlen umgehen, ist sehr unterschiedlich. Sie können dafür Bewältigungsstrategien, auch Copingstrategien genannt, nutzen. Der Psychologe Richard Lazarus führte in dem Zusammenhang drei Arten der Stressbewältigung an:

  1. Beim problemorientierten Coping versucht die Person, die unangenehme Situation zu überwinden, indem sie sich dem Problem aktiv zuwendet, zum Beispiel durch Informationssuche, das Aufnehmen oder Unterlassen bestimmter Handlungen.
  2. Beim emotionsorientierten Coping steht nicht die Stressursache im Fokus. Vielmehr versuchen Betroffene, die emotionale Erregung abzubauen, die sich durch die akute Belastungssituation ergibt (zum Beispiel mit Hilfe von Entspannungsverfahren).
  3. Wenn Menschen die aktuelle Belastungssituation eher als Herausforderung betrachten, nutzen sie das bewertungsorientierte Coping. Diese Neubewertung der Situation setzt eine konkrete Lösung für das Problem voraus, um sie überwinden zu können. Dafür können Personen verschiedene Copingstrategien anwenden.

Zur Emotionsregulierung gibt es unzählige Möglichkeiten – sie reichen von Gesprächen mit Freunden über die Ausübung von Sport bis hin zu Sex als Mittel der Wahl.

Was ist eine „normale“ Libido und wann ist man sexsüchtig?

Der Sexualtrieb, auch als Libido bezeichnet, fällt bei Menschen unterschiedlich aus – ein „Normal“ gibt es hier nicht. Personen mit einer Hypersexualität geht es aber kaum oder gar nicht um das Gefühl der Lust, sie zeigen ein zwanghaftes Verhalten. Doch nicht jeder Mensch, der körperliche Intimität zur emotionalen Regulierung nutzt, ist automatisch hypersexuell. Für die Diagnose „Störung mit zwanghaftem Sexualverhalten“ müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein, die in der internationalen Klassifikation der Krankheiten erklärt werden.

Hiernach können Betroffene folgende Symptome aufweisen:

  • Die sexuellen Handlungen bilden den Mittelpunkt des Lebens – das kann dazu führen, dass eigene Interessen, Aktivitäten, Verpflichtungen und sogar die Körperpflege vernachlässigt werden.
  • Betroffene haben mehrfach versucht, ihr sexuelles Handeln zu kontrollieren oder zu reduzieren, allerdings erfolglos.
  • Die Person widmet sich weiterhin intensiv der Sexualität, obwohl das zwanghafte Verhalten nachteilige Folgen hat, wie Konflikte in der Partnerschaft.
  • Das Sexualverhalten wird fortgesetzt, auch wenn es kaum oder gar nicht mehr zur Befriedigung beiträgt.
  • Es gibt keine anderen psychischen Störungen, wie eine manische Phase, die das Verhalten erklären – auch die Einnahme von Medikamenten oder Substanzen führen nicht zu der Hypersexualität.

Außerdem ist für die Diagnose wichtig, dass Personen seit mindestens sechs Monaten über die Beschwerden klagen und ein gewisser Leidensdruck besteht – Betroffene können sich beispielsweise nach dem Geschlechtsverkehr selbst verurteilen beziehungsweise schuldig fühlen.

Ein männlicher Psychologe, den man nur angeschnitten von hinten sieht, im Gespräch mit einem männlichen Patienten, der ihm auf einem Sofa gegenüber sitzt.

© iStock / D-Keine

Zur Therapie der Sexsucht bietet sich vor allem eine Psychotherapie an.

Was passiert, wenn Menschen Sex als dauerhafte Bewältigungsstrategie nutzen?

„Ich möchte endlich wieder etwas anderes spüren als Trauer“ – ein solcher Satz fällt manchmal in Filmen, bevor sich Liebende eng umschlingen. In intimen Momenten gelingt es meist, die Gedanken an belastende Situationen zu vergessen und Abstand von negativen Gefühlen zu bekommen. Nutzen Menschen Sex jedoch dauerhaft als Mittel zur Emotionsregulierung, kann daraus ein Teufelskreis entstehen – sie durchleben negative Gefühle, überdecken diese durch Sex, müssen sich danach aber mit den daraus folgenden Emotionen auseinandersetzen und greifen wieder zu derselben Bewältigungsstrategie. Dieses Verhalten kann in einer Sexsucht (Hypersexualität) münden. Auch wenn bis heute nicht eindeutig geklärt ist, wie eine Sexsucht entsteht, spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Neben Störungen im Gehirnstoffwechsel können unter anderem auch belastende Situationen im Leben und negative Gefühlszustände eine Ursache für ein plötzlich gesteigertes sexuelles Verlangen sein.

Traumatische Erlebnisse als Ursache für Hypersexualität

Ein Trauma, also das Erleben einer psychischen Ausnahmesituation, die das eigene Leben oder die eigene Gesundheit beziehungsweise die von nahestehenden Personen bedroht, ist eng mit Emotionen verknüpft. Traumatische Erlebnisse hinterlassen oft tiefe Spuren im Gefühlsleben und Forschende vermuten, dass sie die Fähigkeit, Sinnesreize zu tolerieren, verändern. Traumatisierte Personen können dadurch im Alltag zwischen übermäßiger Erregung, die zu einer allgemeinen Anspannung führt, und einer verringerten Erregung schwanken, die unter anderem in Verbindung mit einem Gefühl von psychischer Taubheit steht. Außerdem können traumatische Erlebnisse wie sexuelle Missbrauchserfahrungen mit einer Hypersexualität in Verbindung gebracht werden. In einer Studie untersuchten Forschende den Zusammenhang zwischen einem Kindheitstrauma und einer Sexsucht bei erwachsenen Männern. Von 149 Studienteilnehmern mit einem Kindheitstrauma waren 25,5 Prozent sexsüchtig. In dieser Studie wurde ein Zusammenhang zwischen Sexsucht im Erwachsenenalter und sexuellem oder emotionalem Missbrauch im Kindesalter festgestellt.

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Andere Wege zur emotionalen Regulierung finden

Negative Gefühle mit Sex zu besänftigen, klingt erstmal gut, kann jedoch zu vielen Konflikten führen. Die folgenden Alternativen helfen, Emotionen wirksamer zu kontrollieren.

  1. Situationsselektion: Dabei suchen sich Menschen Situationen gezielt aus, um Emotionen zu vermeiden oder hervorzurufen, die damit verbunden sind – das kann bedeuten, dass sich zum Beispiel jemand zum Mittagessen in ein Restaurant anstatt in die Kantine seines Unternehmens setzt, um Konflikte mit einem bestimmten Mitarbeitenden zu vermeiden.
  2. Aufmerksamkeitslenkung: Um die Aufmerksamkeit zu steuern und die emotionale Reaktion positiv zu beeinflussen, kann Ablenkung helfen – etwa durch Sport oder ein Hobby.
  3. Reaktionsveränderung: Bei diesem Ansatz beeinflussen Menschen ganz bewusst ihr Verhalten, Erleben oder die körperlichen Reaktionen. Bewegung oder Atemübungen können hierbei sinnvoll sein.

Ein Teufelskreis aus Emotionen und Intimität: Was tun gegen Sexsucht?

Hat sich die Bewältigungsstrategie zum Umgang mit negativen Gefühlen verselbstständigt und ist daraus eine Sexsucht geworden, benötigen Betroffene professionelle Unterstützung. Sie hilft ihnen dabei, problematisches Sexualverhalten zu überwinden und gesunde sexuelle Beziehungen aufzubauen. Zur Therapie der Sexsucht bieten sich vor allem eine Psychotherapie und eine sogenannte Psychoedukation an, bei der Patienten und Patientinnen mehr über die Erkrankung lernen und darüber, welche Verhaltensweisen bei der Bewältigung helfen. Mediziner und Medizinerinnen können auch abwägen, Medikamente wie Antidepressiva einzusetzen – welche Behandlung sich am besten eignet, hängt aber stark von den ursächlichen Faktoren und möglichen Begleiterkrankungen ab. Auch die Behandlung eines Traumas kann ein Ziel sein.

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