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Gesundheitsmagazin

Sucht

Wann werden Computerspiele zur Sucht – und was kann man dagegen tun?

Veröffentlicht am:13.08.2024

8 Minuten Lesedauer

Viele Eltern sorgen sich, weil ihr Kind viel Zeit mit Online-Spielen verbringt. Wie können sie erkennen, ob bereits eine Computerspielsucht vorliegt und was können sie dagegen tun? Wir geben Tipps.

Ein Kind mit kurzen dunklen Haaren sitzt im dunklen Flur einer Wohnung und spielt mit dem Handy. Der Bildschirm erleuchtet sein Gesicht.

© iStock / Orbon Alija

„Das Kind will doch nur spielen“

Digitale Spiele und virtuelle Welten faszinieren viele Kinder und Jugendliche. Manche zu sehr. Gerade Jungen sind besonders gefährdet und exzessives Spielen entwickelt sich zu einer Sucht.

Lennart ist zehn Jahre alt, als er in den Sog eines Computerspiels gerät. Mit einer Therapie in einer Suchtklinik schafft er es, davon loszukommen. Seine Geschichte steht hier für die vieler anderer junger Menschen.

Sie beginnt damit, dass seine Mutter Lennart ihr altes Handy schenkt. Ulrike Wolpers ahnt nicht, wie sehr dies das Leben ihres Sohnes und damit auch das Leben ihrer Familie auf den Kopf stellen würde. Schnell findet Lennart Gefallen an einem Spiel. Darin treten lustige Figuren mit fliegenden Koffern oder Schneebällen gegeneinander an. Harmlos, denkt seine Mutter auf den ersten Blick und gibt ihre Erlaubnis. Doch das Spielen bestimmt sein Leben immer mehr und Lennart vernachlässigt andere Aktivitäten. Er gerät in eine Computerspielsucht.

Fünf Jahre später sprechen wir über diese Zeit mit Mutter und Sohn.

„Vielen Eltern ist nicht bewusst, welche Gefahr von digitalen Medien ausgeht. Viele Online-Spiele haben suchtfördernde Glücksspielelemente: Erst gewinnt man häufig. Dann lassen die Erfolge nach, aber man hat so viel investiert, dass man weitermacht.“

Marc Körner-Nitsche
Leitender Psychologe der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Marienhospital Düren

Spulen wir zurück ins Jahr 2019. Wie hat deine Sucht angefangen, Lennart?

Lennart: Als ich aufs Gymnasium kam, bekam ich mein erstes Handy. Endlich konnte ich das Spiel spielen, das ich von meinen Freunden kannte. Ich war total glücklich. Bis meine Eltern auf einmal die Spielzeiten einschränkten. Dass sie glaubten zu wissen, was gut für mich ist, hat mich wahnsinnig gemacht. Das wusste doch nur ich! Dieses Spiel war doch gut für mich!

Ulrike: Innerhalb weniger Wochen war Lenni wie in einem Sog. Statt, wie sonst, Zeit mit uns zu verbringen, verkroch er sich in sein Zimmer. 

Lennart: Ich konnte an nichts mehr denken als daran, dass meine Kumpels gerade zockten und ich nicht. Zu Hause gab es viel Streit, meine Eltern waren nur noch aggro. Als Mama mein Handy in den Tresor sperrte, klaute ich den Schlüssel, schmuggelte es raus und zockte nachts weiter. Ich habe dann die Handys meiner Schwester gemopst und Passwörter ausgespäht.

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„Jeder Mensch hat ein anderes Suchtpotenzial“

Oft ist es nicht nur Zeit, die Lennart für das Zocken aufbringt, sondern auch Geld. In der App kauft er virtuelle Juwelen und Überraschungskisten. Da eine entsprechende Schutz-Funktion auf dem Handy deaktiviert ist, erfahren seine Eltern erst davon, als sie Beträge von mehreren Hundert Euro auf der Kreditkartenabrechnung entdecken.

Gab es ein Ereignis, das signalisierte: Jetzt brauchen wir professionelle Hilfe?

Ulrike: An Halloween wollte Lennart zu einer Gaming-Nacht zu einem Freund. Okay, sagte ich, aber um neun hole ich dich ab. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Lenni ist ausgerastet, schleuderte Comic-Hefte gegen die Wand, hatte Schweißperlen auf der Stirn. Er brach komplett zusammen, wie ein Junkie auf Entzug, ein fremdes Kind. Es war das Schlimmste, das ich als Mutter je erlebt habe. Am gleichen Abend fing ich an zu googeln: Internet + Sucht + Kinder + Therapie + Umkreis von Köln: 150 Kilometer.

Lennart: Als Mama sagte, ich bräuchte eine Therapie, bekam ich Angst. Ich sollte in ein Krankenhaus für süchtige Kinder, wo man uns helfen wollte. Ich dachte nur: Wieso uns? Euch muss man helfen! Bei meinen Kumpels gab es nie Theater, wenn sie zocken wollten.

Ulrike: Wir haben uns oft gefragt: Warum wurde Lenni süchtig und seine Freunde, die dieselben Spiele spielten, nicht? Heute weiß ich: Jeder hat ein anderes Suchtpotenzial. Und: Je jünger, desto höher das Abhängigkeitsrisiko. Letztlich kommen viele Faktoren zusammen. Bei Lenni spielte auch der Wechsel aufs Gymnasium eine Rolle, anfangs hatte er Schwierigkeiten, sich im neuen Umfeld einzufinden. Hinzu kam unsere digitale Naivität.

3 Anzeichen für eine Online-Sucht

Im Internet spielen und in Online-Casinos zocken ist anfangs oft nur ein Zeitvertreib. Doch irgendwann kann der Punkt erreicht sein, dass es sich um eine ernstzunehmende Online-Sucht handelt. Es gibt mehrere Anzeichen dafür:

  • Kontrollverlust über das Spielverhalten
    Personen können nicht aufhören zu spielen, obwohl wichtige Termine anstehen oder die Situation unangemessen ist.
  • Vernachlässigung anderer Interessen
    Spielende kapseln sich von der Außenwelt ab und vernachlässigen Freunde, Familie, Hobbys oder Pflichten.
  • Negative Konsequenzen
    In einem oder mehreren Lebensbereichen (Schule, Beruf oder Gesundheit) kommt es zu erkennbar negativen Konsequenzen. Die Person kann trotz persönlichem Leidensdruck nicht aufhören zu spielen.

Computerspielsucht: Zwanghafter Drang zum Gamen

Digitale Spiele gehören zum Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen. Von den Jugendlichen spielen drei Viertel regelmäßig, im Schnitt knapp zwei Stunden am Tag. Nur ein kleiner Teil entwickelt dabei eine Sucht. Einer aktuellen Studie zufolge haben 330.000 Kinder und Jugendliche eine krankhafte Gaming-Nutzung. 2019 hat die World Health Organisation (WHO) „Gaming Disorder“ in ihren Katalog der Krankheiten aufgenommen und klare Diagnosekriterien erstellt. Damit gilt die Sucht als eigenständige, behandlungsbedürftige Erkrankung.

Lennart wird die Sucht in der Spezialambulanz für Computerspiel- und Mediensucht am St. Marien-Hospital Düren attestiert. Sein Drang zu spielen, ist so zwanghaft geworden, dass er keine Kontrolle mehr darüber hat. Marc Körner-Nitsche, sein Therapeut, empfiehlt eine siebenmonatige ambulante Verhaltenstherapie.

Wie war die Therapie für dich, Lennart?

Lennart: Erst war der Therapeut für mich nur ein Komplize meiner Eltern. Aber dann erzählte er, dass er früher selbst viel gezockt hätte und das auch jetzt manchmal tue.

Ulrike: Damit war das Eis gebrochen.

Lennart: Ich musste einen sechswöchigen kalten Entzug machen, als Reset für mein Gehirn. Erst danach, sagte er, könne ich lernen, kontrolliert zu zocken.

Wie lief der Entzug?

Lennart: Es war ein Horror. Ich war müde, schlecht drauf, fühlte mich krank. Schon morgens an der Bushaltestelle hätte ich heulen können, wenn die anderen erzählten, wie sie gezockt haben.

Ulrike: Um ihn abzulenken, aktivierten wir Familienrituale: Gesellschaftsspiele, zusammen Filme schauen. Seine digitale Welt ist mit der Sucht immer bunter geworden, die analoge Welt dagegen verblasste. Also versuchten wir, die Farben in Lennis echter Welt wieder hochzudrehen. Schickten ihn in ein Wildnis-Camp und zum heilpädagogischen Reiten. So gelöst, wie auf dem Pferd habe ich ihn lange nicht gesehen.

Ein Kind mit kurzen dunklen Wuschelhaaren sitzt zusammengekuschelt mit einer Frau vor einem Schreibtisch. Die Frau hat lange dunkle Locken und trägt eine Brille. Auf dem Tisch steht ein aufgeklappter Laptop, der Schein des Monitors erleuchtet die Gesichter. Beide schauen auf den Bildschirm und lächeln.

© iStock / FG Trade

Wenn Eltern und Kinder gemeinsam im Netz nach passenden Spielen suchen, wächst das Verständnis füreinander.

Wann ist die Sucht überwunden?

Sinnliche Erlebnisse in der analogen Welt sind eine wichtige Säule in der Therapie von Mediensüchtigen. Dass „Offline sein“ keine Strafe ist, sondern etwas Schönes sein kann, musste Lennart wieder neu lernen. Nach sechs Wochen erhält Lennart sein Smartphone zurück, sukzessive mit mehr Handyzeit und Online-Funktionen. Denn anders als etwa bei Alkohol kann man digitale Medien heutzutage nicht einfach weglassen. Das Leben ist ohne sie nicht mehr denkbar. Lennarts Therapeut Marc Körner-Nitschke betont, dass der Schaden für Kinder und Jugendliche weniger dadurch entsteht, was sie online tun, sondern was sie in dieser Zeit verpassen: wichtige Erfahrungen in anderen Lebensbereichen, das Lösen alterstypischer Entwicklungsaufgaben – also Herausforderungen, mit denen bestimmte Altersgruppen konfrontiert werden und die sie meistern müssen.

Für Jugendliche heißt das zum Beispiel: mit Gefühlen umgehen, soziale Kompetenzen und Selbstbewusstsein entwickeln, Freundschaften knüpfen und Entscheidungen treffen können. Digitale Spiele und soziale Medien gehören zum Alltag junger Menschen dazu. „Sie sollen online sein und spielen dürfen, aber stark und selbstbewusst“, sagt Körner-Nitschke. Seine Faustregel: „Wenn das Kind die Kontrolle innerhalb einer definierten Nutzungszeit übernehmen kann, ist die Sucht überwunden.“

3 Tipps für Eltern

Informieren und mitspielen
Suchen Sie gemeinsam nach passenden Spielen und machen Sie sich selbst ein Bild.

Zeitkontingent festsetzen
Vereinbaren Sie klare Regeln und Zeiten zur Nutzung. Als Orientierung bei der Bildschirmzeit gilt ein Limit der Medienzeit von zehn Minuten pro Lebensjahr am Tag oder einer Stunde pro Lebensjahr in der Woche. Für Kinder ab zehn Jahren bietet sich ein Wochenkontingent an, bei dem die Kinder sich ihre Stunden über die Woche frei einteilen können. Dann wird es vielleicht an einem Tag, wenn viele Freunde sich online zum Spielen verabredet haben und das Aufhören besonders schwerfällt, mal etwas länger, an einem anderen Tag dann entsprechend weniger.

Technische Einstellungen
Computer, Tablets und Handys müssen kindersicher sein.

Quelle: Elternratgeber „Schau hin!“

Geschafft: Raus aus der Sucht

Lennart hat die Sucht überwunden. Gerade verbringt er ein Jahr im Ausland. Er treibt viel Sport, trifft sich mit Freunden, online spielt er hauptsächlich Schach. Seine Mutter hat gelernt, ihm auch digital wieder zu vertrauen.

Was brachte den Durchbruch?

Lennart: Als ich glaubte, die totale Kontrolle erreicht zu haben, wollte ich mein Lieblingsspiel spielen. Der Therapeut fragte: Welches Gefühl zieht dich dorthin? Da wurde mir klar: Es ging nicht um das Spiel. Es ging um etwas anderes. Ich wollte endlich frei sein, von den Beschränkungen, den Regeln. Also haben wir überlegt, wie so eine Freiheit aussehen könnte und haben beschlossen, dass ich nach neuen Spielen suchen darf, über die Mama sich schlaumacht.

Ulrike: Ich musste viel lernen. Bis heute investiere ich ein bis zwei Stunden pro Woche dafür, Einstellungen zu prüfen und meine Medienkompetenz zu erhöhen. Was uns beiden hilft, ist: Er kann mich jederzeit erreichen. Digital natürlich. Was für ein Glück, dass es dieses Medium gibt!

Hier gibt es Hilfe

Kinder, Jugendliche und Eltern, die sich Sorgen machen über den Gebrauch von Internet und sozialen Netzwerken, können sich an Beratungsstellen und Initiativen wenden. Dort finden sie Hilfe und Unterstützung.

  • www.schau-hin.info
    Die Initiative des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) unterstützt Eltern und Erziehende dabei, Kinder und Jugendliche im Umgang mit Medien zu stärken. Die AOK ist Kooperationspartnerin des Elternratgebers.
  • mediensuchthilfe.info
    Die Seite des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters bietet Betroffenen und Angehörigen Infos, einen Selbsttest sowie Anlaufstellen.
  • neustart-spielerhilfe.de
    Ein Forschenden-Team des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf (UKE) hat ein Selbsthilfeportal für Spielsüchtige mit einem Selbsttest entwickelt.
  • fv-medienabhaengigkeit.de
    Auf der Website des Fachverbands Medienabhängigkeit e. V. finden Betroffene und Angehörige Beratungs- und Anlaufstellen.

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