Pflegeformen
Die Pflege-Geschichte der Familie Engel
Veröffentlicht am:07.11.2022
11 Minuten Lesedauer
Viele Familien pflegen ihre Angehörigen zuhause. Mehrgenerationen-Haushalte erleichtern diese Aufgabe. Eine Familie berichtet, wie sich das Leben mit einem pflegebedürftigen Familienmitglied gestaltet und welche Herausforderungen es mit sich bringt.
Die Engels: Eine Familie, die zusammenhält
Wolfgang Engel erinnert sich nicht daran, aber er lebt seit seiner Kindheit in einem bunten Hamburger Stadtviertel. Nach einigen Umzügen wohnt der 76-Jährige nun im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses, gemeinsam mit seiner Frau Annemarie (71) und Mischlingshündin Akira. In der Wohnung über ihnen: Tochter Britta (51) und Schwiegersohn Heiko Ebel (56) mit ihren Kindern Martin (30) und Sinja (20). Brittas Bruder Sven (46), seine Frau Conny und Tochter Frida (3) leben nur eine halbe Stunde entfernt.
Vor zwölf Jahren erhielt Wolfgang Engel die Diagnose Demenz. Sein Kurzzeitgedächtnis hat er mittlerweile fast vollständig verloren, er spricht kaum und ist nur noch zu einfachsten Handlungen fähig. Versorgt wird er von seiner Frau Annemarie, die wegen einer schweren Hüftarthrose und Herzkrankheit selbst pflegebedürftig ist, sowie von seinen Kindern und Enkelkindern. Seine Familie hat sich entschieden, Wolfgang, so lange wie möglich, zuhause zu pflegen.
Wohnen im Mehrgenerationen-Haushalt: Wie kam es dazu?
Schwiegersohn Heiko: Britta ist schon in einer Großfamilie aufgewachsen, mit ihren Großeltern und den Familien ihrer Tante und ihres Onkels in einem Mehrfamilienhaus. Als ich sie kennengelernt habe, war klar: Die bekommst du nur inklusive erweiterter Familie! (alle lachen)
Enkel Martin: Im selben Haus wohnen wir erst seit 2010, seitdem Opa krank ist. Aber früher waren Oma und Opa auch nur wenige Minuten entfernt. Nach der Schule war ich als Kind fast jeden Tag wenigstens kurz bei ihnen.
Britta: Wenn du jetzt von deiner Tour kommst, gehst du ja auch oft erst zu ihnen.
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Weil Sie sich verantwortlich für Ihre pflegebedürftigen Großeltern fühlen?
Martin: Auch. Als Lkw-Fahrer bin ich ja nur zwei Tage pro Woche in Hamburg. Da kann es sein, dass Dinge liegen geblieben sind, für die ich zuständig bin – Getränke holen oder die Technik. Gestern waren zum Beispiel die Fernsehsender durcheinandergeraten, das habe ich schnell neu eingestellt. Aber ich gehe auch ohne Anlass zu Oma und Opa, weil ich mich dort wohlfühle. Außerdem kocht Oma super.
Britta: In unserer Familie war immer schon jeder für den anderen da. Früher haben Oma und Opa uns und den Kindern geholfen. Und jetzt unterstützen wir sie. Das gilt aber genauso unter uns Geschwistern: Sven und Conny sind sofort hier, wenn Not am Mann ist, und andersherum funktioniert es genauso.
Enkelin Sinja: Es ist einfach schön, dass man in unserer Familie nie alleine ist und immer jemanden zum Reden hat. Wir lachen wirklich unheimlich viel und haben unseren eigenen Familienhumor. Opa versteht vielleicht nicht mehr viel, aber die Atmosphäre ist ihm vertraut. Und für uns gehört er dazu, ich kann’s mir gar nicht anders vorstellen.
Als Besucher spürt man sofort, dass in Ihrer Familie viel gelacht wird
Tochter Britta: Absolut! Humor spielt bei uns eine wichtige Rolle. Wir haben uns ja früh dafür entschieden, im engen Familienverband zu leben und auch in schwierigen Situationen füreinander einzustehen. Das klappt nur, wenn man total offen miteinander ist und sich selbst und die Situation nicht zu ernst nimmt.
Hatten Sie keine Zweifel, die Pflege zu übernehmen?
Großmutter Annemarie: Natürlich haben wir uns Gedanken gemacht. Aber ich habe mir vorgenommen, es zumindest erst einmal zu versuchen, dass Wolfgang zu Hause bleiben kann.
Britta: Und ich habe dir versprochen, dass wir an deiner Seite sind und wir das, was du entscheidest, gemeinsam hinbekommen. Aber am Anfang hatte ich große Sorge: Funktioniert das? Schaffen wir das? Es kommt ja zum Beispiel vor, dass Menschen mit Demenz aggressiv werden. Oder versuchen wegzulaufen. In der Zeit habe ich mich oft gefragt: Was machen wir dann?
„Ich habe dir versprochen, dass wir an deiner Seite sind und wir das gemeinsam hinbekommen.“
Britta Engel
Tochter
Heiko: Ich habe, ehrlich gesagt, keine Sekunde daran gezweifelt, dass wir das hinbekommen. Ich habe ja erst meine Mutter unterstützt und später meinen Vater gepflegt. Jetzt sind meine Schwiegereltern dran, warum sollte es mit ihnen nicht klappen?
Annemarie: Zum Glück haben wir ja auch eine Pflegeberaterin, die uns super unterstützt. Und wir erhalten insgesamt viel Hilfe von der AOK. Sie hat uns zum Beispiel schon jetzt mit einem Gehwagen und einer elektrischen Hebehilfe ausgestattet. Damit könnten wir Wolfgang notfalls vom Pflegebett in den Rollstuhl heben. Gut, dass wir sie noch nicht brauchen. Zwischendurch hatten wir auch einen Pflegedienst.
Britta: Aber nicht lange …
Annemarie: Ja, für viele sind diese Dienste ein Segen, aber ich fand es eher belastend, dass wir so stark vom Tagesablauf wechselnder Pflegekräfte abhingen. Wir haben deshalb gemeinsam beschlossen, dass wir erst mal ohne fremde praktische Hilfe weitermachen. Zum Glück bekommen wir finanzielle Unterstützung von der Pflegekasse.
„Ich bewundere deine Geduld, Oma. Manche Dinge musst du zehnmal sagen, bevor Opa sich in Bewegung setzt.“
Sinja Engel
Enkeltochter
Wie verläuft ein Tag mit pflegenden Angehörigen?
Annemarie: Ich stehe meistens gegen acht Uhr auf und genieße die Zeit, die ich ganz für mich allein habe. Zum Lesen oder für Social Media. Gegen neun höre ich dann „Tapptapptapp“ – Wolfgang ist aufgestanden. Wir frühstücken dann gemütlich, anschließend mache ich mich fertig und helfe ihm, sich zu waschen und anzuziehen. Das ist manchmal eine Herausforderung, weil er dazu keine Lust hat.
Sinja: Ich bewundere immer deine Geduld, Oma. Manche Dinge musst du zehnmal sagen, bevor Opa sich in Bewegung setzt.
Annemarie: Stimmt, und ich kann ihn ja nicht zwingen. Mit ein bisschen Überzeugungskraft geht’s zwar meistens, aber manchmal muss Britta helfen. Und am sichersten funktioniert es, wenn Heiko kommt.
Britta: Ja, du hast mit deiner ruhig-entspannten Art den größten Einfluss auf ihn, Heiko. Das ist manchmal rührend zu sehen.
Heiko: Ich glaube, Wolfgang spürt, dass er uns vertrauen kann und dass wir ihn so nehmen, wie er ist. Das macht viel aus.
Sinja: Was allerdings nicht heißt, dass wir nicht auch manchmal tricksen. Wir haben uns da viel von Mama abgeguckt, die als Erzieherin ja pädagogisches Geschick hat. Wir diskutieren zum Beispiel nicht mehr alles mit Opa aus, weil ihn das nur beunruhigt. Wenn er Mama mit „Doris“ anspricht – dem Namen seiner Schwester – korrigieren wir ihn nicht. Oder wenn er sagt, dass er zur Bank muss, sagen wir: Okay, Opa, das machen wir nachher.
„Wir haben uns viel von Mama abgeschaut, die als Erzieherin pädagogisches Geschick hat.“
Sinja Engel
Enkeltochter
Pflege im Alltag: „Opa ist immer mittendrin“
Während die anderen sich unterhalten, steht Wolfgang Engel auf, geht zur Toilette und anschließend auf den verglasten Balkon, der an das Wohnzimmer grenzt. Von seinem Platz dort beobachtet er das bunte Treiben unten. Schüler und Schülerinnen auf dem Heimweg, Hunde, die spazieren geführt werden, Fahrräder und Lieferwagen. Zwischendurch steht Enkelin Frida, die heute zu Besuch ist, auf und geht zu ihrem Opa. Schweigend schaut sie eine Weile mit hinunter, bevor sie sich ein Kinderbuch greift, zum Tisch zurückkehrt und auf den Schoß ihrer Tante Britta klettert.
Geraten Sie auch mal an Ihre Grenzen?
Annemarie: Klar, absolut! Wolfgang hat durch die Demenz ein gestörtes Sättigungsgefühl. Wenn er dann an manchen Tagen nach einer ausgiebigen Mahlzeit alle drei Minuten fragt, wann wir essen und ich ihm jedes Mal sage, dass wir gerade gegessen haben, dann bin ich manchmal verzweifelt. Und meine Arthrose-Schmerzen sind auch eine zunehmende Belastung.
Martin: Das ist auch die größte Sorge, die wir haben, Oma: dass du nicht genug auf dich selbst achtgibst! Du bist rund um die Uhr für Opa da, aber wenn es mal um dich selbst geht, heißt es immer: Ich schaffe das schon. Nicht mal einkaufen lässt du uns manchmal.
Sinja: Martin und ich sind uns nicht immer einig darin, wie man am besten mit Omas Sturheit umgeht. Ich versuche dann, sie zu überreden, Hilfe anzunehmen. Das klappt nicht immer. Ich putze zum Beispiel wöchentlich bei ihr, ohne zu fragen.
Martin: Und ich denke: Oma ist erwachsen, ich kann sie nicht zwingen. Aber wenn sie um etwas bittet, bin ich sofort da.
Heiko: Und manchmal finden wir kreative Wege. So wie neulich, als wir einfach angefangen haben, Omas Wohnzimmer zu tapezieren, als sie einkaufen war. Das hätte sie uns sonst nie machen lassen.
Annemarie: Ja, das war super. Und ich werde mich bessern, versprochen! (lacht) Ich finde eben immer, dass jeder von euch schon so viel tut. Und es hilft mir ja schon unheimlich, dass ich jederzeit zu euch hochkommen und ein bisschen durchatmen kann. Und dass ihr bei jeder kleinen Katastrophe sofort da seid. So wie neulich, als Opa hingefallen war und ich ihn nicht mehr hochbekommen habe. Oder als nachts der Rauchmelder grundlos Alarm ausgelöst hat und erst Heiko ihn zur Ruhe gebracht hat. Und was das Einkaufen angeht: Das mache ich ja gern, weil es ein Ausgleich für mich ist.
„Das ist auch die größte Sorge, die wir haben, Oma: dass du nicht genug auf dich selbst achtgibst!“
Martin Engel
Enkelsohn
Den eigenen Ehemann pflegen: „Ich komme auch mal an meine Grenzen“
Britta: Stimmt, ein echtes Hobby! Manchmal denken wir, du kommst gar nicht wieder nach Hause, weil du im Viertel jeden kennst und überall Klönschnack hältst.
Annemarie: Und für Opa ist in der Zeit immer jemand da, das hätte er im Pflegeheim nicht. Deshalb soll er auch so lange wie möglich zu Hause bleiben. Hier ist er immer mittendrin, und alle schauen, dass es ihm gut geht.
Wolfgang ist mittlerweile vom Balkon zurückgekehrt, schaltet den Fernseher ein und setzt sich in seinen Sessel. Hündin Akira folgt ihm und schaut ihn erwartungsvoll an. Wolfgang gibt ihr ein paar der Käsewürfel von dem Teller ab, den Britta für ihn auf den Sofatisch gestellt hat.
Als eingespieltes Team in die Zukunft. Denken Sie manchmal daran, dass es schwerer werden könnte?
Britta: Nein, wir denken nicht mehr darüber nach, was in ein paar Jahren ist. Wir freuen uns über die Dinge, die klappen. Und wenn ein neues Problem auftaucht, machen wir das Beste daraus. Als Mama im Sommer eine Woche in der Klinik war, habe ich unten in Mamas Bett geschlafen, weil Papa nachts Ängste hat, da kann er nicht allein sein. Und als ich mal ein paar Tage weg war, ist Sinja morgens vor der Arbeit runtergegangen und hat Frühstück gemacht.
Sinja: Ja, an die Zukunft denken wir nur, wenn es schöne Dinge sind, auf die wir uns freuen. Auf den Frühling zum Beispiel, wenn wir wieder jedes Wochenende in unseren Schrebergarten außerhalb von Hamburg können. Martin fährt Oma und Opa auch dorthin, sie genießen die Ruhe und Natur sehr. Und für uns andere ist auch die Gartenarbeit ein toller Ausgleich.
Annemarie: Und vielleicht gewinnen wir ja mal im Lotto. Dann kaufen wir uns einen großen ebenerdigen Bungalow, mitten in Hamburg.