Pflegeformen
Pflegeroboter Rollin‘ Justin: Wie Robotik die Pflege unterstützen kann
Veröffentlicht am:21.11.2024
9 Minuten Lesedauer
Roboter können längst nicht mehr nur einfache Tätigkeiten übernehmen, sondern in vielen Bereichen wertvolle Unterstützung leisten und eigenständig arbeiten – auch in der Pflege. Was Pflegeroboter schon können und was in Zukunft zu erwarten ist.
Inhalte im Überblick
- Roboter in der Pflege: eine Frage der Ethik
- Sind Pflegeroboter auch eine Frage der Notwendigkeit?
- Unterschiedliche Roboter für unterschiedliche Aufgaben
- Was ist die Herausforderung bei der Entwicklung humanoider Pflegeroboter?
- Aus dem Weltraum in die Pflege – Forschung zu Pflegerobotern in Deutschland
- Vom „Mars-Roboter“ zum Pflegeroboter: Justins langer Weg
- Weltraumforschung für die Pflege: Die Roboter vom DLR
- Wann wird Robotik in der Pflege zur Realität?
Roboter in der Pflege: eine Frage der Ethik
Roboter in der Pflege sind ein sensibles Thema. Aus der Perspektive der Forschung faszinieren die Möglichkeiten, die der rasante Fortschritt auf dem Feld Robotik und künstliche Intelligenz (KI) in vielen Lebensbereichen eröffnet. Dank KI und maschinellem Lernen können Roboter immer selbständiger Unterstützung zur Entlastung im pflegerischen Alltag anbieten.
Auf der anderen Seite befürchten ältere Menschen und die Angehörigen pflegebedürftiger Personen eine mögliche Entmenschlichung eines Aufgabenfelds, bei dem es auf die persönliche Zuwendung besonders ankommt. Deshalb ist der Einsatz von Robotern in der Pflege nicht nur eine technische, sondern auch eine ethische Frage. Denn es besteht auch die Gefahr, dass Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf infolge des Einsatzes von Pflegerobotern zukünftig weniger soziale und emotionale Unterstützung erhalten, in ihrer Privatsphäre und Handlungsfreiheit eingeschränkt, getäuscht und infantilisiert werden.
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Wieweit Roboter den sozialen Austausch zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen ergänzen dürfen, wird deshalb in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Fest steht: Gute Pflege lebt von einer tragfähigen zwischenmenschlichen Beziehung zwischen Pflegebedürftigen und Pflegenden. Pflegende benötigen zudem spezielle Schulungen, um Pflegeroboter effizient einzusetzen. Dabei ist es wichtig, dass sie nicht nur die Technik beherrschen, sondern auch die ethischen Implikationen verstehen. Daraus folgt wiederum, dass Roboter menschliche Zuwendung und menschliche Pflegeleistungen auch dann nicht vollständig ersetzen dürfen, wenn sie dazu technisch in der Lage wären. Stattdessen muss es darum gehen, die Arbeits- und Lebensqualität von Menschen in Pflegeeinrichtungen – Pflegebedürftige und pflegende Nahestehenden– zu verbessern.
Sind Pflegeroboter auch eine Frage der Notwendigkeit?
In der Kombination von robotischer und menschlicher Arbeit in der Pflege erkennen Forschende ein großes Potenzial, die Selbstständigkeit von Pflegebedürftigen zu fördern, ihre Gesundheit zu verbessern und Pflegende zu entlasten. Unter Experten und Expertinnen herrscht große Übereinstimmung darin, dass Pflegeroboter eine wertvolle Ergänzung in der Pflege sein können. Es bedarf jedoch klarer Abgrenzungen, welche Aufgaben Roboter übernehmen können, ohne die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehung zu gefährden.
Ungeachtet der anhaltenden Diskussion werden Pflegeroboter zur Unterstützung (jedoch nicht als Ersatz) des Personals in Pflegeeinrichtungen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Der Grund liegt in der sich verändernden Bevölkerungsstruktur: Die Menschen in Deutschland werden immer älter. Da mit zunehmendem Alter das Risiko steigt, pflegebedürftig zu werden, wächst in Zukunft zwangsläufig auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Gleichzeitig nimmt die Erwerbsbevölkerung ab und der Fachkräfteengpass in der Pflege wird sich verschärfen.
Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass aufgrund des steigenden Anteils älterer Menschen an der Bevölkerung in Deutschland bis zum Jahr 2035 die Zahl der Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf um rund 14 Prozent und bis zum Jahr 2055 um rund 37 Prozent ansteigen wird. In absoluten Zahlen ist um 2030 mit rund 5,5 bis 6 Millionen Menschen in Pflegeeinrichtungen zu rechnen. Zwar ist die Zahl der Beschäftigten in Seniorenresidenzen und Langzeitpflegeeinrichtungen in den letzten Jahren gestiegen; es ist jedoch fraglich, ob dies auch in Zukunft in ausreichendem Maße erfolgen wird, um dem Mehr an Pflegebedürftigen gerecht zu werden.
Unterschiedliche Roboter für unterschiedliche Aufgaben
In Deutschland und weltweit gibt es verschiedene Ansätze, in denen Roboter in Pflegeeinrichtungen eingesetzt werden. Dabei handelt es sich sowohl um Roboter, die bereits auf dem Markt erhältlich sind, als auch um Neuentwicklungen. Diese Roboter haben unterschiedliche Fähigkeiten und werden in ganz unterschiedlichen Bereichen eingesetzt. Es handelt sich zum Beispiel um Hebehilfen, die Mobilitätsförderung von hochgradig Pflegebedürftigen, um Bedienroboter oder um Kommunikationssysteme (auch als sozial-interaktive Roboter bekannt).
Außerdem werden Roboter für die Therapie eingesetzt; so gibt es positive Erfahrungen mit dem Einsatz von Robotertieren wie dem einem Robbenbaby nachempfundenen Paro unter Demenzkranken, bei dem Effekte wie Stress- und Angstverminderung erzielt wurden. Es ist entscheidend, dass Roboter auf die spezifischen Bedürfnisse verschiedener Personen mit Pflege- und Unterstützungsbedarfe eingehen können. Für Menschen mit Demenz oder schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen müssen die Roboter individuell angepasst werden, um eine echte Unterstützung zu gewährleisten.
Diese Vielfalt von Roboterlösungen ist angesichts der unterschiedlichen individuellen Bedürfnisse von Menschen mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen auch erforderlich, um die jeweils passende Unterstützung zu bieten. Ein „intelligenter Rollstuhl“ kann eine Person mit schweren Mobilitätseinschränkungen in ihrer Bewegung fördern, während ein Sprachroboter einen älteren Menschen daran erinnern kann, zu trinken oder seine Medikamente einzunehmen.
Spezialroboter mit ganz konkreten eingeschränkten Fähigkeiten sind teilweise bereits einsatzfähig. Aber wie sieht es mit dem Allrounder aus? Dem humanoiden, also menschenähnlichen, Roboter mit Sprach- und mit Greiffähigkeit, der aus Wahrnehmungen zu Entscheidungen gelangt? Der Menschen also nicht nur daran erinnert, ihre Medikamente einzunehmen, sondern sie auch eigenständig aus dem Schrank nehmen und anreichen kann oder der einen Arzt oder eine Ärztin ruft, wenn die Gesundheitswerte des Pflegebedürftigen schlechter werden?
Was ist die Herausforderung bei der Entwicklung humanoider Pflegeroboter?
Vom rollenden Tablett-Träger zum humanoiden Pflegeassistenten – es ist ein weiter Weg, den Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen überall auf der Welt gerade beschreiten. Weit fortgeschritten ist die Arbeit an der Kommunikationsfähigkeit. Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass schon so einfache Gegenstände wie die Fernbedienungen von Smartfernsehern sprachliche Befehle verstehen können, wenn sie nur an ein entsprechendes KI-System angeschlossen sind.
Beim humanoiden Pflegeroboter kommt es darauf an, dass auf sein Sprachverständnis die entsprechende Handlung folgt – ganz wie bei einem Menschen, dem man etwas sagt und der dann entsprechend reagiert. Also zum Beispiel, dass ein Pflegeroboter etwas anreicht, das eine pflegebedürftige Person gern haben möchte, oder der nach Aufforderung beim Aufstehen hilft.
Dazu sind entsprechende Griffe erforderlich. Der für Menschen simple Vorgang, mit der Hand etwas vom Boden aufzuheben, bedeutet für robotische Systeme viel Entwicklungsarbeit. Die Roboterhand muss nicht nur optimal greifen können, sondern auch die Koordination zwischen der Steuerungszentrale des Roboters und seinen Armen und Greifwerkzeugen muss ähnlich gut funktionieren wie die zwischen dem menschlichen Gehirn und den Extremitäten. Hier ist ein hohes Maß an Ingenieurskunst und viel Programmierarbeit gefordert.
Pflegeassistenten-Roboter „Care-O-bot“
Er ist eine Entwicklung des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart. Der Care-O-bot ist mittlerweile in der vierten Generation und wird im Pflegebereich erprobt. Der Roboter kann je nach Bedarf mit unterschiedlichen Werkzeugen und Funktionen ausgestattet werden. Dadurch ist er flexibel sowohl in Privathaushalten als auch in Pflegeeinrichtungen einsetzbar. Care-O-bot lässt sich über Sprachbefehle steuern und ist in der Lage, selbstständig zu navigieren. Darüber hinaus kommuniziert er interaktiv mit Menschen und erinnert beispielsweise an Termine oder die Einnahme von Medikamenten oder motiviert zu Aktivitäten. Care-O-bot hilft auch beim Aufstehen und bei der Fortbewegung in der Wohnung oder in der Einrichtung und unterstützt bei alltäglichen Aufgaben (zum Beispiel durch das Servieren von Getränken oder das Anreichen von Gegenständen).
Pflegeroboter GARMI
GARMI ist der Pflegeroboter des Munich Institute of Robotics and Machine Intelligence (MIRMI) der TU München. Seinen Namen verdankt er dem oberbayerischen Garmisch-Partenkirchen, wo sich ein MIRMI-Forschungszentrum befindet. GARMI kann sich mit betreuten Personen austauschen und auch die direkte Kommunikation mit Angehörigen oder Ärzten und Ärztinnen ermöglichen. Auf Aufforderung bringt GARMI bereits Gläser. Für die medizinische Versorgung lernt er, eine Ultraschalluntersuchung durchzuführen, um den Weg in die Arztpraxis zu ersparen. Als Roboterarm wird ein Teil von GARMI schon in einer Münchner Uni-Klinik für Ultraschalle eingesetzt. Eine weitere Ausstattung mit EKG- oder Blutdruckmessgeräten ist möglich. Bis zur Marktreife wird es aber noch ein paar Jahre dauern.
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Vom „Mars-Roboter“ zum Pflegeroboter: Justins langer Weg
Älter als sein „Kollege“ ist Justin vom Institut für Robotik und Mechatronik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Luft- und Raumfahrt? Ja, denn Justins Ursprünge gehen bis in die 1990er Jahre auf einen Roboterarm für Einsätze im Weltraum zurück. In zahlreichen Evolutionsschritten hat sich dieser Arm zu mehreren Typen von vielfältigen Robotern weiterentwickelt. Diese könnten auf fernen Planeten eine überlebenswichtige Infrastruktur errichten, während die Astronauten noch in der Umlaufbahn bleiben.
Beim DLR hat man aber auch schnell das irdische Potenzial erkannt und das SMiLE-Projekt gegründet („Servicerobotik für Menschen in Lebenssituationen mit Einschränkungen“). In der Nähe von München arbeiten die Forschenden an Pflegerobotern, die Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen unterstützen sollen.
Weltraumforschung für die Pflege: Die Roboter vom DLR
Am DLR-Institut für Robotik und Mechatronik wird an zahlreichen Robotertypen gearbeitet. Flug- oder Laufroboter, hier ist eigentlich alles im Programm. Für die Pflege sind jene Arten von Robotern interessant, die in der Fachwelt unter dem trockenen Namen „Assistenzsysteme“ bekannt sind.
Drei Roboter im Kurzportrait:
Roboter Rollin‘ Justin
Rollin‘ Justin ist ein zweiarmiger, menschengroßer Assistenzroboter auf einer mobilen Basis mit Laufrollen. Mit Hilfe von Bewegungssensoren und Kameras kann er sich sicher in seiner Umgebung bewegen. Seine hochentwickelten Arme und Hände ermöglichen ihm präzise Bewegungen und Greifaktionen. Durch das Zusammenspiel von Sensorik, Feinmotorik und KI ist der humanoide Roboter in der Lage, Gegenstände wahrzunehmen und die Gelenke seiner Hand so zu koordinieren, dass er sie geschickt handhaben kann. Dank KI kann Justin außerdem Arbeitsabläufe selbstständig planen und ohne menschliche Unterstützung handeln. Dazu gehört auch, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen. Zum Beispiel Getränke servieren, dabei die Umgebung beobachten und auf Zusammenstöße reagieren, ohne etwas zu verschütten.
Roboter EDAN
EDAN ist ein Rollstuhlassistent. Er besteht aus einem Rollstuhl mit einem Roboterarm und einer Hand. Arm, Hand und Rollstuhl lassen sich nicht nur über einen Joystick steuern, sondern auch über Muskelsignale, die direkt auf der Hautoberfläche gemessen und vom System verarbeitet und in Bewegungen des Arms umgesetzt werden. So können Menschen mit eingeschränkter Arm- oder Handbeweglichkeit selbstständig greifen. Auch Angehörige oder das Pflegepersonal können EDAN über Smartphones oder Tablets steuern.
Roboter HUG
EDAN und Justin können zur externen Unterstützung von einem Pflegekontrollzentrum aus ferngesteuert werden. Am präzisesten gelingt dies mit der Eingabestation HUG. Diese ist mit einer Brille ausgestattet (die bedienende Person sieht, was der Serviceroboter „sieht“) und speziellen Armen, die die menschlichen Bewegungen messen. Diese Bewegungen werden in Steuersignale für EDAN oder Justin umgewandelt. Über die Arme nimmt die steuernde Person auch die Kräfte wahr, die der Roboter spürt. So lassen sich Arme, Hände und der Rollstuhl beziehungsweise Justins mobile Basis einfach und sicher steuern.
Wann wird Robotik in der Pflege zur Realität?
Bereits heute gibt es Robotersysteme, die so praxistauglich sind, dass ihr Einsatz in Deutschland von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen wird. Beispiele sind halbautomatische Essroboter zur Unterstützung bei der Einnahme von Mahlzeiten oder Assistenzsysteme zur Erleichterung der häuslichen Pflege, die beispielsweise an Termine erinnern oder Stürze erkennen und einen Alarm auslösen. Die Frage, wann humanoide Roboter wie Justin den Pflegealltag prägen werden, lässt sich hingegen auf seriöse Weise nicht beantworten. Justin & Co. absolvieren bereits „Praktika“ in kontrollierten Versuchsreihen. Ihr flächendeckender Einsatz in der Pflege in Deutschland setzt vor allem zwei Dinge voraus:
- Die gesellschaftliche Akzeptanz von Robotern in der Pflege – die ethische Debatte sollte mit einem möglichst breiten Konsens abgeschlossen werden.
- Größtmögliche technische Sicherheit – sowohl bei der Motorik der Roboter (um das Verletzungsrisiko zu minimieren) als auch bei ihren KI-gestützten Entscheidungen (etwa bei Robotersystemen, die Vitalfunktionen überwachen und im Notfall menschliches Personal alarmieren oder notärztliche Hilfe anfordern).