Fitness
Kanu-Weltmeister Hannes Aigner: „Das Leben ist kein langer, ruhiger Fluss“
Veröffentlicht am:15.06.2022
8 Minuten Lesedauer
Seit mehr als 20 Jahren fahre ich Wildwasser-Kanu. Ich war Weltmeister und habe zwei olympische Medaillen. Trotzdem habe ich noch längst nicht genug. Was mich antreibt? Das erfahren Sie hier.
Hannes Aigner: „Mein Körper ist voll auf Adrenalin!“
Es ist brutal. Deutschland darf bei Olympischen Spielen in London nur einen Athleten in der Disziplin Kanuslalom nominieren. 2012 haben wir aber drei, vier Mann auf Augenhöhe. Darunter Alexander Grimm, den Olympiasieger von 2008. Wenn ich mir meinen Traum erfüllen will, muss ich den Titelverteidiger in der nationalen Ausscheidung hinter mir lassen. Nicht nur das. Alexander und mein anderer Konkurrent Sebastian Schubert sind mit mir in derselben Trainingsgruppe. Wir paddeln dieselben Strecken runter, wir vergleichen unsere Zeiten, analysieren Stärken und Schwächen. Menschen, mit denen ich gut klarkomme, sind plötzlich Rivalen. Der Druck ist gewaltig, doch am Ende schaffe ich es: Nach vier Qualifikationsrennen bin ich tatsächlich durch. Ich bin 23 und ich könnte durchdrehen vor Freude. Mein Körper ist voll mit Adrenalin. London, here we go!
Das erste Mal allein im Boot
Ein paar Wochen später geht es in London um alles. Die zehn Besten stehen vor 12.000 Zuschauern im Finale. Ohne Fehler kämpfe ich mich durch die Fluten. Meine Zeit ist gut und ich gehe in Führung. Aber: Vier Mann folgen noch. Die Favoriten. Zwei sind am Ende schneller. Ich habe Bronze. Nur 14 Hundertstel fehlen zum Silber. Soll ich mich jetzt ärgern? Nein. Bronze ist die Krönung meiner Karriere. Ich jubele meinen Eltern zu, fühle pures Glück. Und Dankbarkeit. Sie haben mich zum Kajak fahren gebracht. Sie haben mich mit sechs Jahren erstmals allein in ein Boot gesetzt. Ihre Begeisterung fürs Paddeln hat mich angesteckt. Dabei haben sie mit Leistungssport gar nichts am Hut. Sie machen mit mir und meiner Schwester Julia Ausflüge. Wir wohnen in Augsburg und im Alpenvorland gibt es jede Menge wunderbare Reviere für Wassersportler. Die Loisach, die Oetz. Wir gleiten durch die Natur – das macht so viel Spaß. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen und selbstverständlich will ich in den Augsburger Kajak Verein. Mit sieben Jahren trainiere ich dort das erste Mal.
„Ich kann Leistung abrufen, wenn es wirklich darauf ankommt. Das ist für alle Profisportler unerlässlich.“
Hannes Aigner
deutscher Wildwasser-Kanute
Mit Breitensport hat das nichts zu tun. Daran muss ich mich erst gewöhnen. Im Kanuslalom geht es sowohl um Kraft als auch um Ausdauer. Wir trainieren im sogenannten Eiskanal. Er fließt mitten durch die Stadt und wurde 1972 anlässlich der Olympischen Spiele ausgebaut und feierlich eröffnet. In den vergangenen 50 Jahren fanden hier schon zahlreiche Weltmeisterschaften statt und in der Szene ist der Eiskanal weltweit ein Begriff. Hier lerne ich, mit den Wellen zu kämpfen und die lebenswichtige Eskimorolle. Und je besser ich werde, desto öfter geht es um die Zeit. Mit 14, 15 merke ich, dass ich nicht nur ein sehr gutes Gefühl für das Wasser habe, sondern auch den Ehrgeiz, im Kanuslalom etwas zu erreichen. Ich bin jetzt jeden Tag im Boot. Meine Trainer fördern mich und weil die Schulnoten trotzdem stimmen, haben auch meine Eltern nichts gegen meine Leidenschaft. Und Leidenschaft braucht‘s: 20 Stunden Training pro Woche auf dem Wasser sind normal. Manche Leute glauben ja, dass wir Schönwettersportler sind. Schön wär’s. Ich bin bei jedem Wetter im Wasser. Im Winter hängen Eiszapfen an den Hindernisstangen, das Wasser dampft, bedeckt alles mit Raureif. Nach eisigen Einheiten im Eiskanal ist die warme Dusche danach besonders schön. Ich glaube, dass ich deshalb so gut wie nie krank bin. Es ist ja bekannt, dass der Organismus auf den Wechsel von Wärme und Kälte reagiert und die Durchblutung von Haut und Schleimhäuten angeregt wird.
Wildwasser fahren ist nun mal eine Outdoor-Sportart und die Tatsache, dass wir eben keine genormte Tartanbahn im Stadion vor uns haben, sondern Wasser mit all seinen Tücken, die macht ja gerade den Reiz aus. Die Aufmerksamkeit muss, ähnlich wie im alpinen Skisport, extrem groß sein. Jeder kleine Fehler kostet Zeit. Mein Fleiß und mein Wille zum Erfolg werden belohnt. 2005 werde ich zum ersten Mal Deutscher Jugendmeister.
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Warum Geld wichtig ist
Ich kann Leistung abrufen, wenn es wirklich darauf ankommt. Das ist für alle Profisportler unerlässlich. Für mich ist noch anderer Aspekt entscheidend: die Aufnahme in die Sportfördergruppe der Bundeswehr. In anderen Sportarten kann man viel Geld verdienen. Aber im Kanusport ist finanziell nichts zu holen. Auch ich beziehungsweise meine Eltern zahlen drauf, wenn ich zu einem Wettkampf reise und vielleicht sogar noch ein, zweimal übernachten muss. Der Sold der Bundeswehr ist für Spitzensportler daher die Grundlage für den Angriff auf die Weltspitze. Preisgelder, wie beispielsweise im Tennis, gibt es bei uns nicht. Um ehrlich zu sein – es gibt überhaupt keine Prämien. Obwohl: Das stimmt nicht ganz. Für den Weltcup-Gesamtsieger gibt es einen Scheck über 4.000 Euro. Dementsprechend habe ich auch keinen Fuhrpark von Luxuskarossen. Ich habe gar kein Auto, sondern erledige bei jedem Wetter alles mit dem Fahrrad, weil Bewegung immer guttut.
Umso bedeutender ist für mich die Unterstützung der Deutschen Sporthilfe sowie persönlicher Sponsoren. Sie ermöglichen es mir, mich voll und ganz auf den Sport zu konzentrieren. Und das muss sein, denn sonst hätte ich niemals zwei weitere Olympia-Teilnahmen erreichen können.
Wenn man mich fragt, was sonst noch wichtig ist, um wirklich erfolgreich zu sein: Ich kann sagen, dass ich mich seit Jahren vegetarisch ernähre. Seitdem fühle ich mich deutlich besser. Ich erhole mich nach Wettkämpfen schneller, bin wacher und insgesamt besser drauf. Natürlich habe ich mich zu Beginn gefragt, ob ich auch ohne Fleisch Spitzenleistungen bringen kann. Schließlich ist Fleisch einer der wesentlichen Eiweißlieferanten. Und Eiweiß ist nun einmal entscheidend für den Aufbau und Erhalt der Muskeln. Aber: Es geht sehr gut auch ohne Fleisch. Ich nehme etwas mehr als ein Gramm Eiweiß pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag zu mir. Eier enthalten am meisten Eiweiß. Aber auch Avocados, Pilze und Nüsse sind wertvolle Lieferanten. Hülsenfrüchte nicht zu vergessen. Also Linsen, Sojabohnen, Kidneybohnen und Co. Die Liste ist ziemlich lang und abwechslungsreich. So habe ich zu jeder Mahlzeit ausreichend Eiweiß auf dem Teller. Und es schmeckt wirklich lecker.
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Hannes Aigner: „Was soll die ganze Schinderei?“
Die Olympischen Spiele von Rio: Ich bin in Topform und habe mir vorgenommen, mein Ergebnis von London zu toppen. Ich schlängele mich durch die Stangen und ja – meine Zeit reicht locker für die Führung – aber nicht für eine Medaille. Die drei, die nach mir starten, sind einen Wimpernschlag schneller als ich. Ich lande auf Platz vier. Nur eine halbe Sekunde trennt mich von Gold. Das ist ganz bitter. Ich stehe im Zielraum, total geknickt, fühle nichts als Leere. Ich kann kaum verarbeiten, was da gerade passiert ist. Mein Kopf weiß, dass man Erfolg nicht erzwingen kann und dass das Leben weitergeht. Aber es hilft nichts.
Meine Motivation ist weg. Das Projekt Olympia besteht aus vier Jahren Training – und weniger als 120 Sekunden im Wildwasser-Finale. Maximal 400 Meter, höchstens 25 Tore. Dafür gebe ich alles. Wenn du am Ende mit leeren Händen dastehst – das verunsichert und man beginnt sich zu fragen: „Was soll die ganze Schinderei, wenn ich doch nicht gut genug bin?“ 2017 trete ich erstmal kürzer. Ich fahre Wettkämpfe nicht voll auf Angriff, gebe mir Zeit, spüre in mich hinein nach meinem Willen, der mich stets antreibt. Dann – ganz unvermittelt – ist er zurück. Ich habe ein neues Ziel: Die Weltmeisterschaft, erneut in Rio de Janeiro. Ich beginne zu trainieren – und mir gelingt alles: 2018 werde ich auf der Strecke, die mich leer und geknickt zurückließ, Weltmeister! Total krass! Ich rausche auf Platz 1, stehe an der Strecke und kann es gar nicht fassen: Ich habe es geschafft. Aus dem tiefsten Dunkel 2016 in nur zwei Jahren ganz nach oben.
Dabei gehe ich verletzt an den Start. Was ungewöhnlich ist. Denn beim Kanufahren gibt es fast nie Verletzte. Bänderrisse oder Muskelfaserrisse sind extrem selten. Aber zehn Tage vor dem Finale haben wir endlich einen freien Nachmittag und brechen auf zur legendären Copacabana! Ich renne los und stürze mich in die Brandung. Dabei klatsche ich – Ohr voraus – in eine gewaltige Welle. Ein starker Schmerz durchzuckt mich und ich ahne sofort, was los ist. Flüssigkeit tritt aus meinem Ohr aus und statt am Strand zu chillen, gehe ich zum Mannschaftsarzt. Diagnose: Trommelfellriss. Ich bekomme ein Antibiotikum und habe Glück im Unglück. Der Riss verheilt ohne Komplikationen – eine Entzündung bleibt mir erspart.
„Immer neue Ziele zu finden. Ziele, die zu mir passen. Sie sind die Grundlage der Motivation.“
Hannes Aigner
deutscher Wildwasser-Kanute
Am Start bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio spielt mein Körper plötzlich verrückt. Aus heiterem Himmel werde ich von Muskelkrämpfen geplagt. So etwas habe ich noch nie erlebt. Mein Bizeps ist hart, obwohl ich ihn gar nicht anspanne. Die Uhr tickt. Es bleiben nur noch wenige Minuten, bis es losgeht. Viel machen kann ich nicht, bisschen bewegen, schütteln, stretchen. Habe ich zu wenig geschlafen? Vor großen Entscheidungen gönne ich mir immer viel Schlaf. Rund neun Stunden plus Mittagsruhe. Ist es der Stress? Die Hitze? Zu wenig getrunken? Elektrolyte? Muss ich aufgeben? Fragen rattern durch meinen Kopf. Keine Panik. Den Fokus finden. 2019 bin ich Vater geworden. Mein Sohn heißt Niklas. Der Gedanke an den Nachwuchs kann Dir unglaublich viel Kraft schenken. Selbst von der anderen Seite der Erde. Also: Augen zu und durch. Ich schaffe das. Gleich zu Beginn mache ich einen Fehler und muss mich mit aller Kraft um eine Stange winden. Dann finde ich immer besser in meinen Rhythmus und letztlich reicht meine Zeit erneut für Bronze. Ich bring sie Niklas mit nach Hause.
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Auch darum geht es: Immer neue Ziele zu finden. Ziele, die zu mir passen. Sie sind die Grundlage der Motivation. Deshalb habe ich nach rund 20 Jahren im Leistungssport noch immer nicht genug. Im Sommer steigt in Augsburg, auf der Strecke, die ich auch nachts um drei fehlerlos fahren kann, die WM. Und 2024 wartet Paris. Das sollen meine vierten Olympischen Spiele werden. Auch, weil Tokio bedingt durch Corona und die komplette Abschottung schon sehr speziell war. Was nach meinem Leben im Kanu kommt? Ich weiß es noch nicht genau. Nebenbei habe ich BWL studiert, sodass es sicher viele Optionen gibt. Trotzdem ist der Gedanke, dass noch ein komplett neuer Lebensabschnitt vor mir liegt, befremdlich. All mein Wissen, all meine Energie, die ich in den Sport gesteckt habe, soll dann plötzlich nicht mehr gefragt sein? Eine komische Vorstellung. Zum Glück ist es noch nicht so weit und ich bin sehr gespannt, wohin mich die Wellen in den nächsten Jahren noch tragen werden.