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Paracyclist Matthias Schindler: „Dabei sein ist nicht alles“

Veröffentlicht am:08.07.2022

7 Minuten Lesedauer

Matthias Schindler hat die Höhen und Tiefen des Lebens auf besondere Art kennengelernt. Seit er schwerbehindert ist, lebt er bewusster – und ist sogar glücklicher. Hier gibt er wertvolle Lebenstipps, damit das jeder schaffen kann.

Paralympics-Athlet Matthias Schindler beim Paracycling auf einer Straße

© Stefan Rachow / Mr. Pinko

Ich will fliegen – und kann nicht mehr gehen

Ich bin Polizist in Bayern, 28 Jahre alt und will Hubschrauberpilot werden. Doch bei der Tauglichkeitsuntersuchung wird in meinem Rückenmark ein Tumor entdeckt. Als ich am 11. Februar 2011 nach sechs Stunden Operation aus der Narkose erwache, spüre ich ab der Hüfte abwärts meine Beine nicht mehr. Ich kann nicht mal sitzen, weil mein Gesäß taub ist, wie eingeschlafen. Also kann ich nur liegen. Während ich am Vortag noch machen konnte, was ich will, muss ich jetzt ein Knöpfchen drücken, wenn ich aufs Klo muss – und die Pflegerin kommt und macht mich sauber. Das muss ich psychisch erstmal auf die Kette kriegen.

Es ist mehr als nur mein Traum vom Fliegen zerplatzt. Ich falle in ein Loch. Ich liege 24 Stunden am Tag im Bett und kann nichts mehr allein machen. So ähnlich geht das noch vier Wochen weiter. Dann komme ich in eine Fachklinik, lerne dort nach und nach, mit meinen tauben Beinen umzugehen. Als ich dort nach sechs Monaten entlassen werde, brauche ich keinen Rollstuhl mehr, aber noch ein weiteres Jahr Krücken. Durch die OP wurden meine Nerven geschädigt. Seitdem habe ich eine inkomplette Querschnittslähmung. Das heißt, die Ansteuerung vom Kopf in die Gliedmaßen funktioniert wie bei einem gesunden Menschen. Ich bekomme aber keine Rückmeldung. Es ist tatsächlich so, wie wenn ein Arm oder ein Bein mal eingeschlafen ist. Das fühlt sich ja erstmal ganz komisch an. Bei mir ist das der Normalzustand.

Blicke und Gedanken der anderen: egal

Heute bin ich 40 – und schwerbehindert. Aber ich komme gut damit zurecht. Mein Hirn holt sich die Informationen aus meinen Gliedmaßen über andere Wege. Die Augen spielen dabei eine wichtige Rolle, deshalb hoffe ich sehr, dass ich noch lange von einer guten Sehkraft profitiere. Zu gehen ist für mich keine Nebensache. Ich muss jeden Schritt aktiv steuern, da mir abseits der Hüfte die Tiefensensibilität fehlt und ich dadurch kein Empfinden für die Position meiner Beine habe. Deshalb kann ich keine SMS schreiben, während ich die Treppe hochlaufe.

An einem guten Tag sieht man mir meine Behinderung kaum an. Viele sagen: „Oh, haben Sie was am Kreuzband oder an der Hüfte? Gute Besserung!“ Wenn aber der Bus losfährt, bevor ich sitze, haut‘s mich manchmal durch den ganzen Bus. Dann glaub‘ ich, dass die Leute denken, ich bin vielleicht Alkoholiker. Denn jemand mit Krücken ist verletzt. Jemand ohne Krücken, dem sowas passiert – da kommen die Leute schnell auf andere Ideen. Aber für mich bedeutet es ein Stück Freiheit, mich ohne Gehhilfen bewegen zu können. Da sind mir die Blicke und Gedanken der anderen egal.

„Es gibt Momente, die auf Deutsch gesagt einfach scheiße sind. Ich glaube, dass es dann auch wichtig ist, Tränen zuzulassen, um Dinge zu verarbeiten. Aber ebenso wichtig ist es, irgendwann wieder voranzugehen.“

Matthias Schindler
Paracycler

Tränen zulassen, wieder aufstehen

Anfangs habe ich ganz tiefe, schlechte Phasen und finde mein Schicksal schrecklich – was diese Phasen nicht besser macht. Heute glaube ich, dass es in einem Lernprozess wichtig ist, sich nicht in jeder Situation hinzustellen und zu sagen, ich schaff‘ das schon, es ist alles toll. Es gibt auch Momente, die überhaupt nicht toll sind, die auf Deutsch gesagt einfach scheiße sind. Ich glaube, dass es wichtig ist, auch Tränen zuzulassen und solche Dinge zu verarbeiten. Aber ebenso wichtig ist es, irgendwann aufzustehen, und wieder voranzugehen und eben nicht liegenzubleiben oder depressiv zu werden. Obwohl das so einfach wäre und alles andere viel mehr Energie fordert.

Ich stehe im Spätsommer 2011 – gerade zurück aus der Klinik – auf, gehe zu meinem Chef und bitte ihn, mich im Innendienst einzusetzen. Was er auch macht. Seitdem arbeite ich wieder. Ende 2012 kontaktiere ich den Bayerischen Behindertensportverband. Radsportler zu werden ist für mich naheliegend, weil ich während meiner sechsmonatigen stationären Reha an einem Wochenende – anfangs noch mit einem Dreirad – 26 Kilometer nach Hause gefahren bin. Das war zuerst eine Schnapsidee, tat mir aber so gut, dass ich es immer öfter tat. Irgendwann pendelte ich die Strecke täglich zu meinen Therapien, schlief aber zu Hause. So verlor ich auch mein damals noch vorhandenes Übergewicht und fühlte mich immer besser. 2013 fahre ich dann auf einem Zweirad meine ersten Rennen im Paracycling. In den darauffolgenden Jahren werde ich unter anderem Gesamtweltcupsieger und mehrfacher Vizeweltmeister im Einzelzeitfahren. 2021 fahre ich zu den Paralympics nach Tokio. Was für mich noch wesentlicher ist: Ich lerne extrem viel, bin ein anderer Mensch als vor meiner Schwerbehinderung.

Ich glaube mittlerweile, jeder Mensch muss für sich selbst erst einmal definieren, was Erfolg für ihn ist. Ich entwickle dazu meinen eigenen Wertekompass, an dem ich im Lauf der Jahre alles ausrichte: Wichtig sind mir gute Beziehungen zu Menschen, etwa zu meiner Frau, meiner Familie, zu Freunden. Was außerdem zählt: Seine eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen, sich entwickeln, weiterkommen. Und mir ist wichtig, dass ich einen Beitrag leiste in dieser Welt, etwas weitergeben und die Zukunft mitgestalten. Medaillen oder dergleichen stehen dabei nicht im Vordergrund.

Matthias Schindler posiert mit seiner Bronzemedaille um den Hals.

© Matthias Schindler

Bei den Paralympischen Sommerspielen 2021 in Tokio fährt Matthias Schindler zu Bronze.

Ziele und Routinen

Nichtsdestotrotz setze ich mir hohe Ziele, will in Tokio Gold gewinnen. „Matze, du bist so diszipliniert“, höre ich oft. Aber ich glaube, ich kenne einfach nur meine Schwächen – durch die vielen Male, die ich falle. Bevor ich mich Schritt für Schritt zum Leistungssportler entwickle, bin ich ein übergewichtiger Couch-Potato, der bis in die Nacht Videospiele zockt. Ich versuche seither einfach, immer mehr Routinen zu entwickeln, um diesen Schwächen entgegenzuwirken.

Auch beim Sport: Schon am Abend vor Wettkämpfen esse ich immer das gleiche und am Wettkampftag esse ich immer vegan, obwohl ich kein Veganer bin. Ich habe für mich gemerkt, dass ich leistungsfähiger bin, wenn ich keine tierischen Produkte zu mir nehme. Mein Frühstück besteht immer aus mit Wasser aufgekochten Haferflocken und dazu frischer Ingwer, Zimt, Kurkuma und eine kleine Banane. Wenn mein Start nachmittags ist, esse ich das gleiche nochmal zum Mittag. Routinen geben Ruhe. Ich weiß genau, wie mein Tag verläuft. Aufstehen, Essen, Startvorbereitung – alles identisch.

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Erfolg und Balance

Ein Ziel zu erreichen, hat nichts mit Erfolg oder Misserfolg zu tun. Klingt komisch. Lassen Sie mich das erklären: Ich muss mir hohe Ziele stecken, um aus meiner Komfortzone rauszukommen. Und an diesen Zielen muss ich mich messen lassen. In Tokio will ich Gold gewinnen. Denn nur so gebe ich alles. Am Ende gewinne ich Bronze, habe mein Ziel verfehlt. Ich habe aber so viel gelernt – etwa, dass ich unabhängig von meiner Platzierung zufrieden sein kann, wenn ich alle meine Möglichkeiten ausgeschöpft habe, aber passend zu meinem Wertekompass eben nicht rücksichtslos gegen andere oder mich selbst bin. Auf diese Weise bin ich trotzdem erfolgreich.

Diese Erkenntnis ist ganz wichtig in Sportarten, in denen es um Ergebnisse geht – auch um psychisch gesund zu bleiben. Wäre ich erfolgreich gewesen, hätte ich bei den Paralympics Gold gewonnen, meine Ehe wäre aber kaputt, und ich hätte mich scheiden lassen? Oder meine Familie und Freundschaften wäre zerbrochen, weil ich überhaupt für niemanden mehr Zeit gehabt hätte? Nein. Für mich muss das alles eine Art von Balance haben. Diese Balancen in allen wichtigen Bereichen des Lebens zu halten, ist eine wichtige Erkenntnis, die ich gewonnen habe. Somit war ich erfolgreich, obwohl ich „nur“ Bronze geholt habe.

„Jeder entscheidet selbst, wie er leben will. Das eigene Mindset zu überprüfen, kann sich lohnen. Ich bin seitdem glücklich.“

Matthias Schindler
Paracycler

Noch ein paar Tipps

Meine wichtigste Lehre aber ist, dass wir uns bewusst unseren Schwächen widmen und Prioritäten setzen dürfen. Was das für mich konkret bedeutet? Ich vermeide Aufzüge und Rolltreppen. Das sorgt für ein Plus an Bewegung. Eine „Wach-Zeit“ nach 22 Uhr hat null Qualität. Erst recht nicht, wenn sie an Bildschirmen verbracht wird. Das ist eher ein Abgammeln, berieseln lassen, blind konsumieren, getrennt ins Bett gehen. Frühes Aufstehen bietet hingegen die Möglichkeit zur Bewegung an der frischen Luft. So ist der Start in den Tag gleich viel positiver. Wer wie mein früheres Ich übergewichtig ist und ohne Diät Kilos verlieren will, sollte keine Kalorien mehr über Getränke zu sich nehmen. Erstmal weiteressen, was man möchte, aber nur Wasser trinken und bei der Arbeit auf einer anderen Etage aufs Klo gehen für mehr Bewegung. Verletzungen lassen sich neben Routinen und gesunder Ernährung auch durch Körperpflege vorbeugen. Ich mache an Ruhetagen Dehnübungen.

Das ist nicht wirklich spannend, und ich werde dadurch nicht schneller. Aber ich putze ja auch nicht Zähne, weil ich es so mega geil finde, sondern weil es einfach wichtig ist zur Vorbeugung von Karies. Meine Frau und ich haben außerdem noch weitere Maßnahmen beschlossen, um für uns mehr Zeit und Lebensqualität zu bekommen: Wir kaufen keinerlei Süßigkeiten oder Fertignahrung und wir haben sowohl die Spielkonsole als auch den Fernseher abgeschafft. Stattdessen haben wir uns eine zueinander ausgerichtete Sitzgruppe zugelegt. Jeder entscheidet selbst, wie er leben will. Das eigene Mindset zu überprüfen, kann sich lohnen. Ich bin seitdem glücklich.

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