Sportverletzung
Kristin Giersch: „Wenn ich es nicht erlebt hätte, könnte ich meine Geschichte kaum glauben.“
Veröffentlicht am:08.08.2022
6 Minuten Lesedauer
Eine Verletzung unter der Ferse sollte meiner Leichtathletik-Karriere ein jähes Ende bereiten. Rückblickend bin ich fest davon überzeugt, dass es sich dabei um eine psychosomatische Reaktion gehandelt hat.
„Ich befürchte, dass deine Karriere vorbei ist.“
Im September 2020 beginnt eine Leidensgeschichte, die ich kaum glauben könnte, wenn ich sie nicht am eigenen Leib erlebt hätte. Wie aus dem Nichts habe ich plötzlich massive Schmerzen unter der rechten Ferse. Bei jedem Schritt. Ich lasse den Fuß röntgen, mache ein MRT und im Ballen der Ferse wird eine kleine Einbuchtung erkennbar. Eine Delle, die da nicht hingehört. Im persönlichen Gespräch mit dem Arzt kommt dann der Hammer: „Kristin, es tut mir wahnsinnig leid,“ sagt er. „Aber ich befürchte, deine Karriere ist vorbei.“ Herzrasen! Alles dreht sich. Unterdessen erklärt mir der Arzt etwas über Fettgewebsnekrose. Abgestorbene Zellen, ein irreversibler Schaden. Ich bin fix und fertig. Ich brauche dringend eine zweite Meinung und wende mich verzweifelt an einen Spezialisten in Frankfurt. „Tut mir leid“, sagt auch der. Um meine Schmerzen zu lindern, schlägt er vor, die Plantarsehne, die an der Fußsohle zwischen Fußballen und Ferse sitzt, zu kappen. Ein Eingriff, der für mich nicht infrage kommt. Das Risiko einer lebenslangen Problematik scheint mir zu groß. Meine Entscheidung, jetzt nichts zu überstürzen, sollte sich als absolut richtig herausstellen.
„Nach einem MRT am Fuß sagt der Arzt: ‚Kristin, es tut mir wahnsinnig leid, aber ich befürchte, deine Karriere ist vorbei.“
Kristin Gierisch
mehrfache Deutsche Meisterin und Halleneuropameisterin im Dreisprung
Mein Talent führt mich aufs Sportinternat
Doch der Reihe nach: Mein Weg in die Leichtathletik-Weltspitze ist weit. Der Anlauf beginnt im zarten Alter von zwölf Jahren. Mit meiner Trainerin vom SV Vorwärts Zwickau fahre ich zur Talentsichtung nach Chemnitz. Dort springe ich so weit und so hoch wie ich kann, sprinte über die Tartanbahn und hinterlasse einen guten Eindruck. Leichtathletik-Trainer Harry Marusch erkennt mein Talent und nimmt Kontakt zu meinen Eltern auf. Er möchte, dass ich zu ihm aufs Sportinternat wechsele und er lässt nicht locker, bis mein Vater mich ziehen lässt. Das Internat ist eine Kaderschmiede, aus der schon viele großartige Karrieren hervorgegangen sind. Es ist ein Privileg, dort zwischen Schule, Training und Hausaufgaben aufzuwachsen. Dass mir meine Mutter zunächst sehr fehlt – normal …
Ich bin ein nimmermüdes Energiebündel und mache meine Sache gut. Vor dem Fernseher nimmt meine Karriere dann eine entscheidende Wendung: Der Olympiasieger im Dreisprung, Christian Olsson aus Schweden, fasziniert mich. Die Schnelligkeit, die Kraft, seine Dynamik – das will ich auch können. Wir erarbeiten die Technik und 2009 sorge ich erstmals für Aufsehen. Ich werde Deutsche Jugendmeisterin und überspringe die 14-Meter-Marke. Ich bin 18 und die Experten sind sich einig: „Sie kann es in die Weltspitze schaffen!“ Ich bin ehrgeizig. Sehr ehrgeizig und so feiere ich über die Jahre einige große Erfolge.
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In Berlin ist nicht alles Gold, was glänzt!
Mehrmals werde ich Deutsche Meisterin. 2016 werde ich in Portland/USA Vizeweltmeisterin in der Halle, 2017 Halleneuropameisterin und 2018 gewinne ich bei der EM im Berliner Olympiastadion ebenfalls Silber. Was bei allem Jubel keiner mitkriegt: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. 2006 will ich mich für die Jugend-Weltmeisterschaften qualifizieren – stattdessen knicke ich bei der Landung im Sand um und reiße mir sämtliche Bänder im Fuß. 2008 fliege ich bei maximalem Tempo im wahrsten Sinne des Wortes aus der Kurve. Im Sprint wird mir plötzlich schwarz vor Augen – ich wache im Krankenhaus wieder auf. Diagnose: Pfeiffersches Drüsenfieber. Keiner hat die Symptome erkannt. Sechs Wochen liege ich mit dick geschwollenen Gelenken im Krankenhaus, an Sport ist nicht zu denken. Im Gegenteil. Fragen gehen mir durch den Kopf: Was wird aus mir, wenn aus der Traumkarriere nichts wird?
Ich laufe in einem Hamsterrad
Und damit sind wir zurück bei meinen Schmerzen in der Ferse und der traumatischen Diagnose vom frühzeitigen Karriereende. Ich bin damals mental in einer extrem belastenden Situation und bin mit allem unzufrieden. Ich laufe in einem ewigen Hamsterrad: Tue, was der Trainer von mir verlangt, hänge privat immer mit den gleichen Leuten ab und fühle immer deutlicher, dass es so nicht weiter gehen kann. Privat und sportlich stelle ich alles infrage. Ich bin leer und suche Rat bei einer Sportpsychologin des Deutschen Leichtathletikverbands. In vielen Gesprächen schütte ich ihr mein Herz aus, doch die Rettung kommt von ungeahnter Seite.
Als Top-Athletin bin ich nämlich bei der Bundespolizei angestellt. Ich bin Obermeisterin und mir wird unverhofft der Wechsel in den gehobenen Dienst angeboten. Ein neues Ziel – genau zum richtigen Zeitpunkt. In der Bundespolizeisportschule in Kienbaum passiert etwas mit mir: neue Leute, neue Anforderungen, inspirierende Denkanstöße und Gespräche. Ein Kollege wird zu meinem besten Freund: Christoph Harting, der Olympiasieger im Diskuswerfen von 2016. Ich fühle mich wie befreit, wenn da nur nicht diese verdammte Ferse wäre. Durch die Gespräche mit meiner Psychologin habe ich verinnerlicht, dass ich klare Entscheidungen treffen muss. Man muss sich gegen Dinge entscheiden, um bereit für Neues zu sein. Ich entscheide mich gegen Chemnitz. Auf ganzer Linie. Einen Tag, nach dem ich meinen Trainer, den Mann, der mich 18 Jahre lang begleitet hat, von meinem Entschluss einen neuen Lebensabschnitt zu wagen unterrichtet habe, passiert ein Wunder. Weil ich verschlafen habe, muss ich mich vor dem morgendlichen Antreten in Kienbaum sehr beeilen.
„Was ich sehe, ist medizinisch nicht zu erklären.“
„Kristin! Was ist denn jetzt los? Du bist gerade gerannt“, stellt Christoph Harting ungläubig fest. Er hat recht – ich bin ohne Schmerzen rund 600 Meter gerannt. Das war in den vergangenen 15 Monaten schlicht unmöglich. Gleich am nächsten Tag lasse ich den Fuß in der Berliner Charité untersuchen. Die Delle ist nicht mehr zu sehen. Das neue MRT-Bild schicke ich auch sofort an meinen Arzt. Sein Kommentar: „Kristin, was ich hier sehe, ist medizinisch nicht zu erklären.“
Ich fühle mich wie neu geboren und nehme im März 2021 mit frischem Schwung das Training bei Bayer Leverkusen auf. Alles ist neu und das Training bei Bundestrainer Charles Friedek, dem Dreisprung-Weltmeister von 1999, motiviert mich ungemein. Mein Selbstvertrauen ist zurück und ich glaube, dass ich meine Bestweite von 14,61 Metern bald steigern werde. Wir feilen täglich am Feintuning des komplexen Bewegungsablaufs und ich lebe von nun an mit einem festen Leitgedanken. Wenn ich vor Entscheidungen stehe, prüfe ich dreifach meine Antwort auf eine vermeintlich simple Frage. Sie lautet: „WILL ICH DAS?“
„Ich war mental ausgebrannt, meine Verletzung war das Resultat. Daran habe ich keinen Zweifel.“
Kristin Gierisch
mehrfache Deutsche Meisterin und Halleneuropameisterin im Dreisprung
Die Verletzung – ein Resultat meiner mentalen Krise
Was dahinter steckt? Das Wort WILL steht für meinen absoluten Willen. Für meine Entschlossenheit. ICH steht für die Gewissheit, dass der Antrieb aus mir kommt. Ich mache etwas für mich und für niemand anderen. Und DAS führt mir vor Augen, warum ich es mache. Worauf mein Handeln hinausläuft. Viel zu lange hatte ich das Gefühl fremdgesteuert zu sein. Zu lange habe ich dafür gebraucht, wegzusprengen, was mir nicht guttut. Ich habe am eigenen Leibe erfahren, dass der Geist eine Baustelle am Körper schafft, wenn der Kopf mit dem Dauerdruck nicht mehr klarkommt. Ich war mental ausgebrannt, meine Verletzung war das Resultat. Daran habe ich keinen Zweifel. Ab jetzt kann es nur noch aufwärtsgehen!