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Achtsamkeit

Die Kunst des Vergebens: Wie wir verzeihen können, obwohl es oft schwerfällt

Veröffentlicht am:07.05.2021

5 Minuten Lesedauer

Vergeben ist nicht immer einfach. Vor allem dann nicht, wenn wir tiefgehend verletzt oder gekränkt wurden. Für uns selbst – und für unsere Gesundheit – ist es jedoch enorm wichtig, verzeihen zu können. Tun wir es nicht, kann es uns daran hindern, Geschehenes hinter uns zu lassen und wieder mit voller Kraft nach vorne zu blicken.

Vater hat seinem Sohn vergeben und umarmt ihn innig.

© iStock / Nicolas McComber

Im Interview erklärt Diplom-Psychologin Dr. Doris Wolf, warum uns Vergebung oft so schwerfällt, wie wir es trotzdem schaffen und welche Folgen es hat, wenn wir an alten Konflikten festhalten.

Warum ist es so wichtig, anderen zu verzeihen?

Dr. Wolf: Wenn wir einem anderen Menschen oder uns selbst vergeben, kehrt innerer Frieden ein und wir können wieder in der Gegenwart leben. Nicht zu vergeben ist wie eine unerledigte wichtige Aufgabe, die unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf sich zieht. In Gedanken beschäftigen wir uns immer mit der Person, der wir etwas nicht verzeihen können. Unser Körper ist dadurch in einem permanenten Alarmzustand.

Dr. Doris Wolf, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin

© privat

Durch das Verzeihen erlangen wir eine innere Freiheit.

Wir durchtrennen quasi ein Gummiband, das uns immer wieder in die Vergangenheit zieht. Dadurch können wir uns auf die Gegenwart konzentrieren, unsere Kreativität und Neugier können sich wieder entfalten.

Welche Folgen kann es für uns haben, wenn wir nicht verzeihen?

  • Als Folge unserer inneren Vorwürfe und des Haderns verspüren wir negative Gefühle wie Hass, Rache, Wut, Verbitterung, Verletzung, Enttäuschung.
  • Manche greifen zu Suchtmitteln, um sich zu beruhigen und mal abzuschalten.
  • Auch unser Umfeld bekommt möglicherweise unsere Unzufriedenheit und unsere Wut zu spüren.
  • Körperliche Folgen reichen von Erschöpfung über Muskelverspannungen bis hin zu Herz-Kreislauf-, Magen-Darm- oder Schlafstörungen.

Ohne Vergebung können wir Menschen nicht loslassen. Wir sind so angelegt, dass sich unser Gehirn beziehungsweise manchmal auch nur unser Körper immer wieder melden und sich Geschehenes immer wieder in Erinnerung rufen.

Obwohl wir selbst darunter leiden, jemandem nicht zu verzeihen, fällt es uns oft schwer, diesen Schritt zu gehen. Woran liegt das?

Beim Vergeben gibt es viele irrationale Einstellungen. Menschen verwechseln zum Beispiel verzeihen mit gutheißen. Verzeihen bedeutet jedoch keinesfalls, dass der andere sich richtig verhalten hat. Es bedeutet auch nicht, dass wir den Vorfall vergessen oder der andere dadurch einen Freibrief erhält. Verzeihen ist auch kein Zeichen von Schwäche. Der andere muss sich auch nicht verdienen, dass wir ihm verzeihen. Wir tun es zunächst einmal unseretwegen.

„Der andere muss sich auch nicht verdienen, dass wir ihm verzeihen. Wir tun es zunächst einmal unseretwegen.“

Dr. Doris Wolf
Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin

Trotzdem gibt es Dinge im Leben, die unverzeihlich zu sein scheinen. Wie schaffen wir es dennoch, demjenigen zu vergeben?

Es gibt keinen anerkannten Katalog, in dem wir nachschauen können, was unverzeihlich ist und was nicht. Manche Menschen verzeihen noch nicht einmal, wenn Freunde ihren Geburtstag vergessen haben. Andere hingegen verzeihen schwere Straftaten.

Es ist eine innerliche Entscheidung, zu verzeihen. Dabei kann helfen, sich daran zu erinnern, dass Menschen fehlbar sind. Und dass nur so ein weiteres entspanntes Zusammenleben mit diesem bestimmten Menschen möglich ist oder dass wir für unser seelisches und körperliches Wohlbefinden verzeihen.

Bedeutet das, dass man wirklich jedem alles verzeihen sollte – oder kann nicht auch Wut manchmal dabei helfen, Geschehenes zu verarbeiten?

Es ist keine Frage von „sollen“, sondern davon, ob wir uns unser Leben von diesem Ereignis langfristig beeinträchtigen lassen wollen. Manchmal genügt es jedoch auch zu akzeptieren, was passiert ist. Das ist alles eine Frage der Dauer. Kurzfristige, vorübergehende Wut kann uns daran erinnern, dass etwas gegen unsere Vorstellungen verläuft. Sie kann uns ermutigen, etwas zu unternehmen, um unsere Wünsche erfüllt zu bekommen. Chronische Wut und Verbitterung hingegen schaden uns nur.

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Muss Vergebung immer mit Versöhnung einhergehen, oder reicht es, wenn ich für mich selbst verzeihe?

Unsere Vergebung müssen wir dem anderen nicht zwingend mitteilen. Es reicht, es innerlich zu tun oder für uns allein etwas zu bewirken, das Vergeben und Abschluss unserer Vorwürfe symbolisiert. Zur Versöhnung ist die Bereitschaft des anderen notwendig. Wenn beide aufeinander zugehen und sich aussöhnen können, ist das wunderbar. Vergebung kann jedoch auch ohne die Bereitschaft und Mitarbeit des anderen vonstattengehen. Es geht selbst dann, wenn der Betreffende schon verstorben ist.

Wie wichtig ist es, sich selbst verzeihen zu können?

Das ist fast noch wichtiger, als anderen zu vergeben. Meist gehen wir mit uns selbst sehr viel härter ins Gericht. Die meisten von uns machen sich täglich Vorwürfe wegen Fehlern, Missgeschicken und allem, wo sie nicht ihren eigenen Erwartungen entsprechen. Wir fordern von uns, perfekt zu sein. Aber wir müssen uns daran erinnern, dass wir unser Leben lang lernen und nicht perfekt sein können.

Es ist menschlich, dass wir Situationen falsch einschätzen, uns manchmal nicht der Situation angemessen verhalten und nicht in die Zukunft schauen können. Sich selbst nicht zu verzeihen hat dieselben negativen Konsequenzen, die wir in Form von starken Gefühlen und in unserem Körper verspüren, wie wenn wir anderen nicht verzeihen.

Zwei Jugendliche legen die Arme umeinander und verzeihen sich.

© AOK

Warum fällt es manchen Menschen leichter zu verzeihen als anderen?

Das wird von vielen Faktoren beeinflusst – beispielsweise:

  • unserer Erfahrung mit dem Verzeihen
  • unseren Grundhaltungen – ob wir liebevoll mit uns umgehen und uns akzeptieren, ob wir Perfektion von uns erwarten, wie stark wir von der Zuwendung anderer abhängig sind, wie wir mit Konflikten umgehen, ob wir harmoniebedürftig sind
  • unseren moralischen Wertvorstellungen oder ob wir gläubig sind

Vergebung ist eine Leistung beziehungsweise Arbeit, zu der jeder sich entscheiden und die auch jeder ohne Glauben bewerkstelligen kann.

Gibt es bestimmte Muster, Übungen oder Methoden, die beim Verzeihen helfen?

Der Prozess des Verzeihens umfasst vier Stufen:

  1. Genaue Beschreibung dessen, was passiert ist.
  2. Überlegung von Vor- und Nachteilen, die es für uns bringt, zu verzeihen und bewusste Entscheidung darüber, ob wir verzeihen möchten.
  3. Betrachtung des Ereignisses aus dem Blickwinkel des anderen.
  4. Umsetzung des Entschlusses und Training unserer neuen inneren Haltung gegenüber uns beziehungsweise der anderen Person.

Ein hilfreicher Satz, den wir innerlich immer wiederholen können, ist zum Beispiel: „Auch wenn es mir wehgetan hat, bin ich bereit, loszulassen und zu verzeihen. Ich möchte meine Energie jetzt auf meine Zukunft richten.“ Wir können uns selbst nicht dazu zwingen. Wir können nur die konkreten Schritte tun, die dann irgendwann im Verzeihen enden.

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