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Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 17.12.2020 zu den Punkten (1) bis (3) bereits grundlegend entschieden und dort wie folgt ausgeführt: |
| "(1) Geriatrie ist in einem allgemeinen Begriffsverständnis die Lehre von den Krankheiten des alternden Menschen (vgl Wikipedia, unter "http://de.wikipedia.org/wiki/ Geriatrie"; vgl griechisch γέρων <geron>, Substantiv: der Alte, der Greis, Adjektiv: bejahrt, betagt, www.gottwein.de/GrWk/Gr01.php%CE%B3%CE%AD%CF%81%CF%89%CE%BD&ab=Hui; beide abgerufen am 16.12.2020). Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) übersetzt den Begriff der Geriatrie daher auch mit "Altersmedizin“ (vgl die Ausführungen zu "Was ist Geriatrie" der Internetseite der DGG, abrufbar unter www.dggeriatrie.de/nachwuchs/91-was-ist-geriatrie.html, abgerufen am 16.12.2020; so im Übrigen auch Wikipedia, de.wikipedia.org/wiki/Geriatrie). |
| Für das Krankenhausvergütungsrecht gibt es aber - nach wie vor und so auch im hier maßgeblichen Abrechnungszeitraum 2011 - keine normative Festlegung auf die Eingrenzung geriatrischer Behandlung (vgl anders im vertragsärztlichen Bereich die Vereinbarung nach § 118a SGB V [Geriatrische Institutsambulanzen - GIA] idF aus der Sitzung des erweiterten Bundesschiedsamtes gemäß § 118a SGB V vom 15.07.2015, dort § 2; dazu noch später). OPS (2011) 8550 setzt den Begriff der Geriatrie voraus, ohne ihn zu konkretisieren. |
| Soweit dort auf die Zusatzweiterbildung oder Schwerpunktbezeichnung "Klinische Geriatrie" abgestellt wird, können auch die Weiterbildungsordnungen der Landesärztekammern maßstabsbildend herangezogen werden, die jedoch ebenfalls keine Konkretisierung des Geriatriebegriffs enthalten: Die Zusatz-Weiterbildung Geriatrie umfasst nach der Muster-Weiterbildungsordnung 2003 der Bundesärztekammer in der 2011 maßgeblichen Fassung "in Ergänzung zu einer Facharztkompetenz die Vorbeugung, Erkennung, konservative und interventionelle Behandlung und Rehabilitation körperlicher und seelischer Erkrankungen im biologisch fortgeschrittenen Lebensalter mit dem Ziel der Erhaltung und Wiederherstellung größtmöglicher Selbstständigkeit". Weiterbildungsinhalt ist ua der Erwerb von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten in der Symptomatologie und funktionellen Bedeutung von Altersveränderungen sowie Erkrankungen und Behinderungen des höheren Lebensalters. Entsprechend sind auch die landesrechtlichen Weiterbildungsordnungen ausgestaltet (vgl nur die Regelungen der Weiterbildungsordnung der Hamburger Ärzte und Ärztinnen vom 21.02.2005, hier in der maßgeblichen Fassung vom 1.9.2008). Entsprechendes gilt im Übrigen auch mit Blick auf die Weiterbildungsordnungen derjenigen Bundesländer, die mittlerweile einen Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie eingerichtet haben. |
| Systematisch lässt sich OPS (2011) 8-550 darüber hinaus entnehmen, dass die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung von den anderen frührehabilitativen Komplexbehandlungen (insbesondere der neurologisch-neurochirurgisch bedingten Frührehabilitation) abzugrenzen ist. Daraus lässt sich jedoch unmittelbar ebenfalls nur ableiten, dass die Komplexbehandlung nach Maßgabe von OPS (2011) 8-550 altersbedingt erfolgen muss, ohne im Weiteren Abgrenzungskriterien vorzugeben (vgl entsprechend schon BSG vom 23.6.2015 - B 1 KR 21/14 R - SozR 4-2500 § 109 Nr 46 RdNr 16). Konkretisierungen lassen sich im Übrigen weder der FPV entnehmen, noch ergibt sich anhand des 2011 geltenden ICD-10-GM-Katalogs eine Eingrenzung geriatrischer Behandlungsfälle. Schließlich legt auch das landesrechtliche Krankenhausplanungsrecht für das hier maßgebliche Jahr 2011 keine präzisen, bundeseinheitliche Vorgaben für begründende Grenzen zugrunde. |
| Der Blick in die vertragsärztlichen Vergütungsregelungen führt ebenfalls nicht weiter. Dabei bleibt dahingestellt, ob und inwieweit überhaupt die unterschiedlichen Regelungskreise in diesem Zusammenhang eine gegenseitige Maßstabsbildung erlauben (vgl zur grundsätzlich bereichsspezifischen Ausgestaltung der Regelungen zB BSG vom 29.6.2017 - B 3 KR 16/16 R - BSGE 123, 268 = SozR 4-2500 § 129 Nr 12, RdNr 18). Denn der für das vorliegende Abrechnungsjahr 2011 relevante EBM enthielt ohnehin nur in 03240 (Hausärztlich-geriatrisches Basisassessment) eine einzelne Ausgestaltung geriatrischer Behandlung. Dieser waren jedoch keinerlei definitorische Ansätze, sondern nur Behandlungsformen zu entnehmen. Soweit mittlerweile sowohl für die hausärztliche ambulante Behandlung als auch für die hinzugetretenen geriatrischen Institutsambulanzen nach § 118a SGB V (GIA) Eingrenzungskriterien für die Abrechenbarkeit einer geriatrischen Behandlung existieren, sind diese für den hier maßgeblichen Abrechnungszeitraum nicht relevant. Zudem sind sie nicht einheitlich konzipiert. Die Vereinbarung nach § 118a SGB V zur GIA (idF aus der Sitzung des erweiterten Bundesschiedsamtes vom 15.07.2015) gibt in "§ 2 Patientengruppe" vor, dass nur Patienten in Betracht kommen, die "aufgrund ihrer geriatrietypischen Multimorbidität einen dringenden ambulanten Versorgungsbedarf haben (…) und die die folgenden Kriterien erfüllen: 1. ein höheres Lebensalter (ab vollendetem 70. Lebensjahr) und 2. geriatrietypische Morbidität (…)." Dagegen ist die Definition in Ziffer "3.2.4 Hausärztliche geriatrische Versorgung" weiter gefasst. Voraussetzung für die Abrechenbarkeit der Gebührenordnungspositionen 03360 und 03362 ist danach, dass Patienten entweder ein „Höheres Lebensalter (ab vollendetem 70. Lebensjahr) (haben) und "geriatrietypische Morbidität (…) und/oder (…) einen Pflegegrad" aufweisen, oder - "auch bei Patienten, die das 70. Lebensjahr noch nicht vollendet haben"- an bestimmten Krankheiten (Demenz, Alzheimer, Parkinson) erkrankt sind. Schon aufgrund ihrer unterschiedlichen Ansätze könnte aus diesen Vorgaben kein Maßstab für das Krankenhausvergütungsrecht gewonnen werden. Vor allem aber wird deutlich, dass der Begriff der Geriatrie in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlichen Definitionen zugänglich ist und solche definitorischen Vorgaben auch geschaffen worden sind, an denen es für den Bereich der Krankenhausvergütung aber gerade fehlt. |
| (2) Der mangels normativer definitorischer Vorgaben maßgebliche Grundsatz, dass medizinische Begriffe im Sinne ihres medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauchs zu verstehen sind (vgl BSG vom 19.7.2012 - B 1 KR 65/11 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 18; BSG vom 23.6.2015 - B 1 KR 21/14 R - SozR 4-2500 § 109 Nr 46 RdNr 18), führt ebenfalls nicht zu einem klaren Maßstab. |
| Der vom DIMDI herausgegebene OPS ist dadurch charakterisiert, dass er Operationen und Prozeduren unter Verwendung medizinischer Begriffe definiert und strukturiert. Die Inkorporierung dieser Klassifikation in die Vergütungsvorschriften bedeutet, dass den medizinischen Begriffen des OPS der Sinngehalt zukommt, der ihnen im medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch beigemessen wird. Anderes gilt nur, soweit die Vertragsparteien etwas anderes ausdrücklich bestimmen, was hier nicht erfolgt ist. Dieser den Regelungsgehalt determinierende Sprachgebrauch kann wie eine Tatsache als Vorfrage für die Auslegung im gerichtlichen Verfahren durch Beweiserhebung ermittelt werden (vgl BSG vom 19.7.2012 - B 1 KR 65/11 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 18; BSG vom 23.6.2015 - B 1 KR 21/14 R - SozR 4-2500 § 109 Nr 46 RdNr 18). |
| Eine klare medizinisch-wissenschaftliche Übereinkunft darüber, an welches Verständnis vom Alter eine geriatrische Behandlung gebunden ist, ist von vornherein nicht erkennbar. Nach der WHO ist Geriatrie der Zweig der Medizin, der sich mit der Gesundheit im Alter sowie den präventiven, klinischen, rehabilitativen und sozialen Aspekten von Krankheiten "beim älteren Menschen" beschäftigt (vgl WHO, Health oft the Elderly, 1989). Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG), die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) sowie die Bundesarbeitsgemeinschaft Geriatrischer Einrichtungen (BAG) haben 2007 gemeinsam eine Definition des geriatrischen Patienten ausgearbeitet, die auf eine "geriatrietypische Multimorbidität" und "ein höheres Lebensalter (überwiegend 70 Jahre oder älter)" oder "auf ein Alter größer oder gleich 80 Jahren" und eine "alterstypisch erhöhte Vulnerabilität" abstellt (vgl die Ausführungen zu "Was ist Geriatrie" der Internetseite der DGG, www.dggeriatrie.de/nachwuchs/91-was-ist-geriatrie.html, abgerufen am 16.12.2020; vgl dazu auch "Was ist Geriatrie" der Expertenkommission der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie und der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, 1991). Einen etwas anderen Schwerpunkt setzt die Definition der Geriatric Medicine Section der Union Européenne des Médicins Spécialistes (UEMS; vgl die am 3.5.2008 in Malta formulierte und am 6.9.2008 in Kopenhagen konsentierte Definition: www.uemsgeriatricmedicine.org/documents/important_documents/geriatric_medicine_definition_english_and_french.pdf; abgerufen am 16.12.2020). Danach ist Geriatrie die medizinische Spezialdisziplin, die sich mit physischen, psychischen, funktionellen und sozialen Aspekten bei der medizinischen Betreuung älterer Menschen befasst. Hauptziel der Behandlung sei die Optimierung des funktionellen Status des älteren Patienten mit Verbesserung der Lebensqualität und Autonomie. Die geriatrische Medizin sei zwar nicht spezifisch altersdefiniert; sie konzentriere sich jedoch auf typische bei älteren Patienten gefundene Erkrankungen. Die meisten Patienten seien über 65 Jahre alt. Patienten, die am meisten von der geriatrischen Spezialdisziplin profitierten, seien in der Regel 80-jährig und älter. Anhand dieser Definitionen wird ein Altersbezug deutlich, ohne diesen jedoch hinreichend zu konkretisieren (vgl insbes die UEMS: „nicht spezifisch altersdefiniert“). |
| (3) In einer solchen Konstellation ist es vornehmlich Aufgabe des DIMDI, bzw jetzt des BfArM, Klassifikationen, die funktionsbedingt einen hohen fachsprachlichen Grad aufweisen müssen, so präzise zu formulieren, dass ihre Bedeutung für den jeweiligen Fachkreis ohne Weiteres ersichtlich ist. Daneben bleibt es den Vertragsparteien unbenommen, auch jenseits des § 19 KHG Auslegungsprobleme vertraglich verbindlich zu regeln, wenn der Klassifikationsgeber diesen Anforderungen nicht entsprochen hat. |
| Solange es daran aber fehlt und sich wie hier kein eindeutiges fachliches Verständnis des verwendeten Wortes ermitteln lässt, ist der Begriffskern des Wortes maßgeblich, wie er sich nach allgemeinem Sprachgebrauch ergibt. Dies gebietet der Vorrang der engen Wortlautauslegung. Der Senat verbleibt unter diesem Gesichtspunkt bei seiner Rechtsauffassung, dass die geriatrische Behandlung eine Altersuntergrenze von mindestens 60 Jahren zwingend voraussetzt. Ihrem Begriffskern nach kann eine "Altersbehandlung" ("geron": der Alte, der Greis, bejahrt, betagt, s oben) nur Personen betreffen, die in einem gesamtgesellschaftlichen Konsens als "alt" angesehen werden können. Dies gilt frühestens für jemanden, der das „letzte Drittel“ seines Lebens beginnt (vgl mit diesem Konsens auch die Vereinten Nationen, Problems of the Elderly and the Aged, Dokument A 35/130, 1980). Unter der Mindestgrenze von 60 Jahren ist nach einem einfachen Wortkernverständnis von einer “Altersbehandlung“ demgegenüber nicht auszugehen. |
| Dass diese Grenze insgesamt einen zutreffenden Maßstab bildet, wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass bis jetzt eine dieses Normverständnis ändernde Definition weder durch das DIMDI formuliert noch durch die Vertragsparteien vereinbart worden ist. Sie entspricht einem allgemeinen Verständnis von Alter, das zugleich eine rechtssicher zu handhabende Abgrenzung im Vergütungskontext schafft. Angesichts neuerer Definitionen zB in § 2 der Vereinbarung nach § 118a SGB V (s zuvor) wird im Übrigen deutlich, dass die Anknüpfung an das Alter von mindestens 60 Jahren nicht zu eng gefasst ist." |