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EuGH 16.05.2024 - C-27/23
EuGH 16.05.2024 - C-27/23 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) - 16. Mai 2024 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 45 AEUV – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Gleichbehandlung – Soziale Vergünstigungen – Verordnung (EU) Nr. 492/2011 – Art. 7 Abs. 2 – Kindergeld – Arbeitnehmer, der für ein bei ihm durch gerichtliche Entscheidung untergebrachtes Kind das Sorgerecht wahrnimmt – Gebietsansässiger und gebietsfremder Arbeitnehmer – Unterschiedliche Behandlung – Kein Rechtfertigungsgrund“
Leitsatz
In der Rechtssache C-27/23 [Hocinx] ( i)
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Luxemburg) mit Entscheidung vom 19. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Januar 2023, in dem Verfahren
FV
gegen
Caisse pour l’avenir des enfants
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von FV, vertreten durch J.-M. Bauler, Avocat,
der Caisse pour l’avenir des enfants, vertreten durch A. Rodesch und B. Rodesch, Avocats,
der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Januar 2024
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 AEUV, von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1), von Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) sowie von Art. 60 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Grenzgänger FV und der Caisse pour l’avenir des enfants (Zukunftskasse, Luxemburg) (im Folgenden: CAE) wegen deren Weigerung, für ein durch gerichtliche Entscheidung im Haushalt von FV untergebrachtes Kind Kindergeld zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EU) 2019/1111
Gemäß Art. 1 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (ABl. 2019, L 178, S. 1) gilt diese Verordnung für „die Heim- oder Pflegeunterbringung eines Kindes“.
Art. 30 Abs. 1 der Verordnung 2019/1111 lautet:
„Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.“
Verordnung Nr. 492/2011
Art. 7 der Verordnung Nr. 492/2011 sieht vor:
„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.
…“
Verordnung Nr. 883/2004
Im achten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:
„Der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung ist für Arbeitnehmer, die nicht im Beschäftigungsmitgliedstaat wohnen, einschließlich Grenzgängern, von besonderer Bedeutung.“
Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
‚Grenzgänger‘ eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt;
…
‚Familienleistungen‘ alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I.“
Art. 2 Abs. 1 der Verordnung lautet:
„Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.“
In Art. 3 Abs. 1 der Verordnung heißt es:
„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:
…
Familienleistungen.“
Art. 4 („Gleichbehandlung“) der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:
„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.“
Richtlinie 2004/38/EG
In Art. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S.35) heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;
‚Familienangehöriger‘
den Ehegatten;
den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;
die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b, denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
…“
Luxemburgisches Recht
Die einschlägigen Bestimmungen des luxemburgischen Rechts sind die Art. 269 und 270 des Code de la sécurité sociale (Sozialgesetzbuch) in ihrer ab dem 1. August 2016 anwendbaren Fassung, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Loi du 23 juillet 2016, portant modification du code de la sécurité sociale, de la loi modifiée du 4 décembre 1967 concernant l’impôt sur le revenu, et abrogeant la loi modifiée du 21 décembre 2007 concernant le boni pour enfant (Gesetz vom 23. Juli 2016 zur Änderung des Sozialgesetzbuchs, des geänderten Gesetzes vom 4. Dezember 1967 über die Einkommensteuer und zur Aufhebung des geänderten Gesetzes vom 21. Dezember 2007 über den Kinderbonus, Mémorial A 2016, S. 2348, im Folgenden: Sozialgesetzbuch).
Art. 269 („Anspruchsvoraussetzungen“) Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs bestimmt:
„Es wird ein Zukunftskindergeld, im Folgenden: ‚Kindergeld‘, eingeführt.
Anspruch auf Kindergeld besteht für
jedes Kind, das tatsächlich und ständig in Luxemburg wohnt und hier seinen gesetzlichen Wohnsitz hat;
die Familienangehörigen im Sinne der Definition des Art. 270 einer jeden Person, die den luxemburgischen Rechtsvorschriften unterliegt und in den Anwendungsbereich der europäischen Verordnungen oder eines anderen von Luxemburg geschlossenen zwei- oder mehrseitigen Abkommens über die soziale Sicherheit fällt, die die Zahlung von Kindergeld gemäß den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats vorsehen. Die Familienangehörigen müssen in einem Land wohnen, das unter die betreffende Verordnung oder das betreffende Abkommen fällt.“
In Art. 270 des Sozialgesetzbuchs heißt es:
„Für die Anwendung des Art. 269 Abs. 1 Buchst. b gelten als Familienangehörige einer Person, die Anspruch auf Kindergeld vermitteln, die ehelichen Kinder, die nichtehelichen Kinder sowie die Adoptivkinder dieser Person.“
Art. 273 Abs. 4 des Sozialgesetzbuchs bestimmt in Bezug auf gebietsansässige Kinder:
„Ist ein Kind durch gerichtliche Entscheidung fremduntergebracht, wird das Kindergeld an die natürliche oder juristische Person ausgezahlt, die das Sorgerecht für das Kind innehat und bei der das Kind seinen gesetzlichen Wohnsitz hat und tatsächlich und ständig wohnt.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
FV, der in Luxemburg arbeitet und in Belgien wohnt, hat den Status eines Grenzgängers und unterliegt daher den luxemburgischen Vorschriften über das Kindergeld. Seit dem 26. Dezember 2005 ist das Kind FW aufgrund einer von einem belgischen Gericht erlassenen Entscheidung im Haushalt von FV untergebracht.
Mit Entscheidung vom 7. Februar 2017 hob der Direktionsausschuss der CAE die Bewilligung von für das Kind FW erhaltenes Kindergeld rückwirkend zum 1. August 2016 mit der Begründung auf, dass dieses Kind, da es in keinem Abstammungsverhältnis zu FV stehe, nicht als „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 270 des Sozialgesetzbuchs anzusehen sei.
Der Conseil arbitral de la sécurité sociale (Schiedsgericht für Sozialversicherungssachen, Luxemburg) änderte diese Entscheidung ab und verwies die Sache an die CAE zurück.
Am 27. Januar 2022 bestätigte der Conseil supérieur de la sécurité sociale (Oberstes Schiedsgericht für Sozialversicherungssachen, Luxemburg) unter Abänderung der Entscheidung der Vorinstanz die Entscheidung der CAE vom 7. Februar 2017. Hiergegen legte FV Kassationsbeschwerde bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Luxemburg), dem vorlegenden Gericht, ein.
Dieses Gericht erklärt, dass ein gebietsansässiges Kind nach den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften einen direkten Anspruch auf die Zahlung von Kindergeld habe. Bei gebietsfremden Kindern sei ein solcher Anspruch hingegen nur als abgeleitetes Recht für die „Familienangehörigen“ des Grenzgängers vorgesehen, zu denen die nach dieser Definition durch gerichtliche Entscheidung im Haushalt eines solchen Arbeitnehmers untergebrachten Kinder nicht zählten.
Unter Verweis auf das Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants (Kind des Ehegatten eines Grenzgängers) (C-802/18, EU:C:2020:269), fragt sich das vorlegende Gericht, ob diese Ungleichbehandlung mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Aus diesem Urteil ergebe sich nämlich, dass unter „Kind eines Grenzgängers“, dem die sozialen Vergünstigungen mittelbar zugutekommen könnten, auch das Kind zu verstehen sei, das zu dem Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartner dieses Arbeitnehmers in einem Verwandtschaftsverhältnis stehe.
Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Stehen der in Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 garantierte Grundsatz der Gleichbehandlung sowie Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 60 der Verordnung Nr. 987/2009 Bestimmungen eines Mitgliedstaats entgegen, wonach Grenzgänger ein an die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat geknüpftes Kindergeld für Kinder, die durch gerichtliche Entscheidung bei ihnen untergebracht sind, nicht beziehen können, während alle Kinder, die gerichtlich fremduntergebracht wurden und in diesem Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf dieses Kindergeld haben, das an die natürliche oder juristische Person ausgezahlt wird, die das Sorgerecht für das Kind innehat und bei der das Kind seinen gesetzlichen Wohnsitz hat und tatsächlich und ständig wohnt? Ist für die Antwort auf diese Frage der Umstand von Bedeutung, dass der Grenzgänger für den Unterhalt dieses Kindes aufkommt?
Zur Vorlagefrage
Mit seiner einzigen Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach ein gebietsfremder Arbeitnehmer ein an die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat geknüpftes Kindergeld für ein Kind, das bei ihm durch eine gerichtliche Entscheidung untergebracht wurde und für das er das Sorgerecht wahrnimmt, nicht beziehen kann, während ein Kind, das durch gerichtliche Entscheidung fremduntergebracht wurde und in diesem Mitgliedstaat wohnt, Anspruch auf dieses Kindergeld hat, das an die natürliche oder juristische Person ausgezahlt wird, die das Sorgerecht für das Kind innehat, und ob für die Antwort auf diese Frage der Umstand von Bedeutung ist, dass der Grenzgänger für den Unterhalt des bei ihm untergebrachten Kindes aufkommt.
Vorab ist festzustellen, dass die vorliegende Rechtssache nur die Frage betrifft, ob ein Mitgliedstaat differenzierte Anspruchsvoraussetzungen auf gebietsansässige und gebietsfremde Arbeitnehmer hinsichtlich der Gewährung einer Beihilfe wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kindergeld anwenden kann.
Unter diesen Umständen kann die Vorlagefrage nicht im Licht von Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 60 der Verordnung Nr. 987/2009 betrachtet werden, da diese Bestimmungen nicht die Situation des Arbeitnehmers selbst, sondern die seiner Familienangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, betreffen.
Nach dieser Klarstellung ist zunächst festzustellen, dass gemäß Art. 45 Abs. 2 AEUV die Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen umfasst. Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 stellt eine besondere Ausprägung des so niedergelegten Gleichbehandlungsgrundsatzes auf dem spezifischen Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen dar und regelt, dass ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießt wie inländische Arbeitnehmer (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2020, Jobcenter Krefeld, C-181/19, EU:C:2020:794, Rn. 44 und 78, sowie vom 21. Dezember 2023, Chief Appeals Officer u. a., C-488/21, EU:C:2023:1013, Rn. 49).
Des Weiteren hat der Gerichtshof zum einen bereits entschieden, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kindergeld, da es an die Ausübung einer unselbständigen Tätigkeit durch einen Grenzgänger geknüpft ist, eine soziale Vergünstigung im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 darstellt. Zum anderen stellt es auch eine Leistung der sozialen Sicherheit dar, die unter die Familienleistungen gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C-802/18, EU:C:2020:269, Rn. 31 und 40).
Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass der in Art. 45 Abs. 2 AEUV und in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung nicht nur unmittelbare Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbietet, sondern auch alle mittelbaren Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen (Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C-802/18, EU:C:2020:269, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
In Bezug auf den Grundsatz, auf dem die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beruht, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass insbesondere jedermann, der in einem Mitgliedstaat abhängig beschäftigt ist, namentlich im Hinblick darauf, die Gleichbehandlung aller im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats beschäftigten Personen am besten zu gewährleisten, nach Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 im Licht des achten Erwägungsgrundes dieser Verordnung in der Regel den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt und gemäß dieser Bestimmung dort die gleichen Leistungen erhalten muss wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2022, Kommission/Österreich [Indexierung von Familienleistungen], C-328/20, EU:C:2022:468, Rn. 108 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Wie in Rn. 26 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, bringt Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2001 diesen Grundsatz dadurch zum Ausdruck, dass er vorsieht, dass der Arbeitnehmer eines anderen Mitgliedstaats die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer genießt.
Da Grenzgänger im Hinblick auf die Steuern und Sozialabgaben, die sie im Aufnahmemitgliedstaat aufgrund der dort von ihnen ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichten, zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Staats beitragen, müssen ihnen die Familienleistungen sowie die sozialen und steuerlichen Vergünstigungen unter den gleichen Bedingungen zugutekommen können wie inländischen Arbeitnehmern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Juni 2012, Kommission/Niederlande,C-542/09, EU:C:2012:346, Rn. 66, vom 16. Juni 2022, Kommission/Österreich [Indexierung von Familienleistungen], C-328/20, EU:C:2022:468, Rn. 109, sowie vom 21. Dezember 2023, Chief Appeals Officer u. a., C-488/21, EU:C:2023:1013, Rn. 71).
Im vorliegenden Fall erhalten gebietsfremde Arbeitnehmer nach den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften nicht unter den gleichen Bedingungen wie gebietsansässige Arbeitnehmer das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kindergeld für im Haushalt solcher Arbeitnehmer untergebrachte Kinder, da ein Grenzgänger im Unterschied zu einem gebietsansässigen Arbeitnehmer dieses Kindergeld für ein Kind, das in seinem Haushalt untergebracht ist und für das er das Sorgerecht wahrnimmt, nicht erhält.
Der Vorlageentscheidung lässt sich nämlich entnehmen, dass nach Art. 269 Abs. 1 Buchst. a Sozialgesetzbuch für alle Kinder, die tatsächlich und ständig in Luxemburg wohnen und dort ihren gesetzlichen Wohnsitz haben, ein Anspruch auf Kindergeld besteht. Für durch gerichtliche Entscheidung untergebrachte Kinder ist in Art. 273 Abs. 4 des Sozialgesetzbuchs geregelt, dass diese Leistung an die natürliche oder juristische Person ausgezahlt wird, die das Sorgerecht für das Kind innehat und bei der das Kind seinen gesetzlichen Wohnsitz hat sowie tatsächlich und ständig wohnt.
Einem Grenzgänger eröffnen nach Art. 269 Abs. 1 Buchst. b und Art. 270 des Sozialgesetzbuchs hingegen nur die Kinder, die gemäß dieser letztgenannten Bestimmung als Familienangehörige dieses Arbeitnehmers angesehen werden, d. h. die ehelichen Kinder, die nicht ehelichen Kinder und die Adoptivkinder dieser Person, einen Kindergeldanspruch.
Daher kann einem Kind, das im Haushalt eines Arbeitnehmers untergebracht ist, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, und bei dem es seinen gesetzlichen Wohnsitz hat und tatsächlich und ständig wohnt, keine Familienleistung gewährt werden, die für den Grenzgänger eine „soziale Vergünstigung“ darstellt, wohingegen die fremduntergebrachten Kinder, die ihren gesetzlichen Wohnsitz bei Arbeitnehmern haben, die Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats sind, und tatsächlich und ständig bei ihnen wohnen, Anspruch darauf haben können. Eine solche Ungleichbehandlung, die sich insofern eher zulasten von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirken kann, als Gebietsfremde meist Ausländer sind, stellt eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar.
Dass die Entscheidung über die Fremdunterbringung von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats als dem Aufnahmemitgliedstaat des betreffenden Arbeitnehmers erlassen wurde, kann auf diese Feststellung keinen Einfluss haben.
Die zuständigen luxemburgischen Behörden sind nämlich gehalten, eine Fremdunterbringungsentscheidung eines anderen Mitgliedstaats anzuerkennen und ihr den gleichen rechtlichen Wert beizumessen wie einer entsprechenden nationalen Entscheidung. Dies ergibt sich aus Art. 1 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 30 Abs. 1 der Verordnung 2019/1111. Diese Bestimmungen entsprechen den im Wesentlichen identischen Vorschriften, die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. d und Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1) enthalten waren: Diese war zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes vom 23. Juli 2016 anwendbar, mit dem das Sozialgesetzbuch geändert wurde, und ist durch die Verordnung 2019/1111 aufgehoben worden.
Die in Rn. 35 des vorliegenden Urteils genannte mittelbare Diskriminierung kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Juni 2012, Kommission/Niederlande, C-542/09, EU:C:2012:346, Rn. 55 und 73, und vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C-802/18, EU:C:2020:269, Rn. 56 und 58). Das vorlegende Gericht nennt jedoch kein legitimes Ziel, das geeignet wäre, eine solche mittelbare Diskriminierung zu rechtfertigen.
Infolgedessen ist davon auszugehen, dass Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 Bestimmungen eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach denen gebietsfremde Arbeitnehmer im Unterschied zu gebietsansässigen Arbeitnehmern eine soziale Vergünstigung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kindergeld für in ihrem Haushalt untergebrachte Kinder nicht erhalten können, für die sie das Sorgerecht wahrnehmen und die bei ihnen ihren gesetzlichen Wohnsitz haben und tatsächlich und dauerhaft wohnen.
Was ferner die Frage betrifft, ob es für die Beantwortung der Vorlagefrage von Bedeutung ist, dass der gebietsfremde Arbeitnehmer für den Unterhalt des in seinem Haushalt untergebrachten Kindes aufkommt, für das er das Sorgerecht wahrnimmt, so genügt die Feststellung, dass ein solcher Umstand im Rahmen der Gewährung eines Kindergelds an einen solchen Arbeitnehmer nur dann berücksichtigt werden darf, wenn die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften eine solche Voraussetzung für die Gewährung dieses Kindergelds an einen gebietsansässigen Arbeitnehmer, der das Sorgerecht für ein bei ihm untergebrachtes Kind innehat, vorsehen, da andernfalls der Grundsatz der Gleichbehandlung von Grenzgängern missachtet würde.
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach ein gebietsfremder Arbeitnehmer ein an die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat geknüpftes Kindergeld für ein Kind, das bei ihm durch gerichtliche Entscheidung untergebracht wurde und für das er das Sorgerecht wahrnimmt, nicht beziehen kann, während ein Kind, das durch gerichtliche Entscheidung fremduntergebracht wurde und in diesem Mitgliedstaat wohnt, Anspruch auf dieses Kindergeld hat, das an die natürliche oder juristische Person ausgezahlt wird, die das Sorgerecht für das Kind innehat. Der Umstand, dass der gebietsfremde Arbeitnehmer für den Unterhalt des bei ihm untergebrachten Kindes aufkommt, kann im Rahmen der Gewährung eines Kindergelds an einen solchen Arbeitnehmer für ein in seinem Haushalt untergebrachtes Kind nur dann berücksichtigt werden, wenn die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften eine solche Voraussetzung für die Gewährung dieses Kindergelds an einen gebietsansässigen Arbeitnehmer, der das Sorgerecht für ein in seinem Haushalt untergebrachtes Kind innehat, vorsehen.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union
sind dahin auszulegen, dass
sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach ein gebietsfremder Arbeitnehmer ein an die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat geknüpftes Kindergeld für ein Kind, das bei ihm durch gerichtliche Entscheidung untergebracht wurde und für das er das Sorgerecht wahrnimmt, nicht beziehen kann, während ein Kind, das durch gerichtliche Entscheidung fremduntergebracht wurde und in diesem Mitgliedstaat wohnt, Anspruch auf dieses Kindergeld hat, das an die natürliche oder juristische Person ausgezahlt wird, die das Sorgerecht für das Kind innehat. Der Umstand, dass der gebietsfremde Arbeitnehmer für den Unterhalt des bei ihm untergebrachten Kindes aufkommt, kann im Rahmen der Gewährung eines Kindergelds an einen solchen Arbeitnehmer für ein in seinem Haushalt untergebrachtes Kind nur dann berücksichtigt werden, wenn die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften eine solche Voraussetzung für die Gewährung dieses Kindergelds an einen gebietsansässigen Arbeitnehmer, der das Sorgerecht für ein in seinem Haushalt untergebrachtes Kind innehat, vorsehen.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Französisch.
( i)Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
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