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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
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EuGH 27.04.2023 - C-192/22
EuGH 27.04.2023 - C-192/22 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) - 27. April 2023 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 Abs. 1 – Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Erlöschen dieses Anspruchs – Altersteilzeitregelung – Während der im Rahmen dieser Regelung geleisteten Arbeitsphase erworbene, aber noch nicht genommene Jahresurlaubstage – Arbeitsunfähigkeit“
Leitsatz
In der Rechtssache C-192/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 11. März 2022, in dem Verfahren
FI
gegen
Bayerische Motoren Werke AG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb sowie des Richters A. Kumin und der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin),
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von FI, vertreten durch Rechtsanwältin A. Köhl,
der Bayerische Motoren Werke AG, vertreten durch Rechtsanwalt A. Nowak,
der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Recchia als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FI und der Bayerische Motoren Werke AG wegen der Urlaubsabgeltung, auf die FI Anspruch zu haben behauptet.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
In den Erwägungsgründen 4 und 5 der Richtlinie 2003/88 heißt es:
Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.
Alle Arbeitnehmer sollten angemessene Ruhezeiten erhalten. …“
Art. 7 („Jahresurlaub“) dieser Richtlinie lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
Deutsches Recht
§ 7 („Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs“) des Bundesurlaubsgesetzes vom 8. Januar 1963 (BGBl. 1963 S. 2) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:
„(1) Bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs sind die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, es sei denn, dass ihrer Berücksichtigung dringende betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten den Vorrang verdienen, entgegenstehen. Der Urlaub ist zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer dies im Anschluss an eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation verlangt.
…
(3) Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entstehender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalenderjahr zu übertragen. …
(4) Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
FI war von 1986 bis zum 30. September 2019 bei den Bayerischen Motoren Werken beschäftigt. FI befindet sich seit dem 1. Oktober 2019 in Rente.
Ende 2012 kamen FI und die Bayerischen Motoren Werke im Rahmen der Altersteilzeitregelung überein, ihr Arbeitsverhältnis in ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis zu ändern. Unter diesen Umständen war vorgesehen, dass FI vom 1. Februar 2013 bis zum 31. Mai 2016 arbeiten und vom 1. Juni 2016 bis zum 30. September 2019 freigestellt werden sollte.
FI nahm vom 4. bis zum 25. Mai 2016 Urlaub, um seinen Resturlaub für das Jahr 2016 vollständig zu nehmen. Aufgrund einer Erkrankung während dieses Zeitraums konnte er vor Ende Mai 2016 jedoch 2 2/3 Urlaubstage nicht nehmen.
Im Jahr 2019 erhob FI beim Arbeitsgericht (Deutschland) Klage gegen die Bayerischen Motoren Werke auf Abgeltung nicht genommener Urlaubstage und machte insoweit geltend, dass er diese Urlaubstage krankheitsbedingt nicht habe nehmen können.
Das Arbeitsgericht wies diese Klage mit der Begründung ab, dass, wie die Bayerischen Motoren Werke geltend gemacht hätten, der Urlaubsanspruch für das Jahr 2016 am 31. März 2017 um Mitternacht verfallen sei. Der Umstand, dass die Bayerischen Motoren Werke FI nicht auf die Notwendigkeit hingewiesen hätten, seinen Urlaub vollständig zu nehmen, sei unerheblich, da dies aufgrund der Freistellung von FI ab dem 1. Juni 2016 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2019 unmöglich gewesen sei.
FI legte gegen das Urteil des Arbeitsgerichts erfolglos Berufung beim Landesarbeitsgericht (Deutschland) ein. Daraufhin legte er Revision zum Bundesarbeitsgericht (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, ein.
Das Bundesarbeitsgericht hat Zweifel in Bezug auf die Anwendung einer nationalen Bestimmung, im vorliegenden Fall § 7 Abs. 3 des Bundesurlaubsgesetzes in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung, die das Erlöschen der Ansprüche auf nicht genommenen Urlaub nach Ablauf einer bestimmten Frist vorsehe, wenn es dem Arbeitnehmer aufgrund einer Freistellung unmöglich werde, seine Urlaubstage vollständig zu nehmen. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere feststellen, inwieweit der Arbeitgeber den betreffenden Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen.
Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stehen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 oder Art. 31 Abs. 2 der Charta der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 des Bundesurlaubsgesetzes entgegen, der zufolge der in der Arbeitsphase eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses erworbene, bisher nicht erfüllte Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub in der Freistellungsphase mit Ablauf des Urlaubsjahres oder zu einem späteren Zeitpunkt erlischt?
Sollte der Gerichtshof die Frage verneinen: Stehen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 oder Art. 31 Abs. 2 der Charta der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 des Bundesurlaubsgesetzes entgegen, der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, der im Verlauf des Urlaubsjahres aus der Arbeits- in die Freistellungsphase eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses eintritt, mit Ablauf des Urlaubsjahres oder zu einem späteren Zeitpunkt erlischt, wenn der Arbeitgeber – ohne zuvor seine Mitwirkungsobliegenheiten bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs erfüllt zu haben – dem Arbeitnehmer den gesamten Jahresurlaub antragsgemäß für einen Zeitraum unmittelbar vor Beginn der Freistellungsphase bewilligt hat, die Erfüllung des Urlaubsanspruchs aber – zumindest teilweise – nicht eintreten konnte, weil der Arbeitnehmer nach der Urlaubsbewilligung arbeitsunfähig erkrankte?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 oder Art. 31 Abs. 2 der Charta einer nationalen Bestimmung entgegensteht, nach der bezahlte Jahresurlaubstage, die während der im Rahmen der Altersteilzeitregelung geleisteten Arbeitsphase erworben, aber nicht genommen wurden, erlöschen können, da sie im Freistellungszeitraum nicht genommen werden können.
Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich unmittelbar aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 ergibt, jeder Arbeitnehmer Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat (Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C-518/20 und C-727/20, EU:C:2022:707, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Gerichtshof hat entschieden, dass dem Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als tragender Grundsatz des Sozialrechts der Union nicht nur besondere Bedeutung zukommt, sondern dass er auch in Art. 31 Abs. 2 der Charta ausdrücklich verankert ist (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca, C-762/18 und C-37/19, EU:C:2020:504, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Somit wird mit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub widergespiegelt und konkretisiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2020, Kommission und Rat/Carreras Sequeros u. a., C-119/19 P und C-126/19 P, EU:C:2020:676, Rn. 115). Denn während die letztgenannte Bestimmung jedem Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub garantiert, legt die erstgenannte Vorschrift die Modalitäten für die Umsetzung dieses Anspruchs, insbesondere die Dauer des Jahresurlaubs, fest.
Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass der Anspruch auf Jahresurlaub nur einen der beiden Aspekte des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub als tragender Grundsatz des Sozialrechts der Union darstellt. Wenn nämlich das Arbeitsverhältnis beendet ist und es deshalb nicht mehr möglich ist, tatsächlich bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, sieht Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 vor, dass der Arbeitnehmer Anspruch auf eine finanzielle Vergütung hat, um zu verhindern, dass ihm wegen dieser Unmöglichkeit jeder Genuss des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, selbst in finanzieller Form, verwehrt wird (Urteil vom 25. November 2021, job-medium, C-233/20, EU:C:2021:960, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Dieses Grundrecht umfasst somit auch einen Anspruch auf Bezahlung und – als eng mit diesem Anspruch auf „bezahlten“ Jahresurlaub verbundenen Anspruch – den Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub (Urteil vom 25. November 2021, job-medium, C-233/20, EU:C:2021:960, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Insoweit ist zu betonen, dass die Charta, wie sich aus ihrem Art. 51 Abs. 1 ergibt, von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts zu berücksichtigen ist (Urteil vom 13. Januar 2022, Koch Personaldienstleistungen, C-514/20, EU:C:2022:19, Rn. 26).
Da es sich bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung um eine solche Durchführung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 handelt, ist für die Feststellung, ob diese Bestimmung einer solchen Regelung entgegensteht, Art. 7 dieser Richtlinie im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta auszulegen.
Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 stellt für das Entstehen des Anspruchs auf eine finanzielle Vergütung insoweit keine andere Voraussetzung auf als die, dass zum einen das Arbeitsverhältnis beendet ist und dass zum anderen der Arbeitnehmer nicht den gesamten Jahresurlaub genommen hat, auf den er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte (Urteil vom 25. November 2021, job-medium, C-233/20, EU:C:2021:960, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Als Drittes ist zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub nur unter Einhaltung der in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen strengen Bedingungen und insbesondere nur unter Achtung seines Wesensgehalts eingeschränkt werden kann (Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C-518/20 und C-727/20, EU:C:2022:707, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Abweichungen von der mit der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Unionsregelung über die Arbeitszeitgestaltung müssen daher so ausgelegt werden, dass ihr Anwendungsbereich auf das zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie ermöglichen, unbedingt Erforderliche begrenzt wird (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca, C-762/18 und C-37/19, EU:C:2020:504, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).
In diesem Zusammenhang geht u. a. aus dem Urteil vom 22. November 2011, KHS (C-214/10, EU:C:2011:761, Rn. 38 und 39), hervor, dass jeder im Recht eines Mitgliedstaats vorgesehene Übertragungszeitraum neben der Berücksichtigung der spezifischen Umstände, in denen sich der arbeitsunfähige Arbeitnehmer befindet, auch den Arbeitgeber vor der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiten des Arbeitnehmers und den Schwierigkeiten schützen soll, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben könnten.
Nach der Rechtsprechung ist eine Abwesenheit aus gesundheitlichen Gründen nämlich grundsätzlich nicht vorhersehbar und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig (Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C-518/20 und C-727/20, EU:C:2022:707, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Arbeitgeber hat jedoch nur bei einer langen Abwesenheit aus gesundheitlichen Gründen zu befürchten, dass es zu einer Ansammlung von langen Abwesenheitszeiten durch den Arbeitnehmer kommt und er daher in Schwierigkeiten in Bezug auf die Arbeitsorganisation geraten könnte.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof unter den besonderen Umständen, dass ein Arbeitnehmer während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig ist, mit Blick nicht nur auf den Schutz des Arbeitnehmers, den die Richtlinie 2003/88 bezweckt, sondern auch auf den des Arbeitgebers, der sich der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiten des Arbeitnehmers und den Schwierigkeiten, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben könnten, ausgesetzt sieht, entschieden hat, dass Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt (Urteil vom 29. November 2017, King, C-214/16, EU:C:2017:914, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Jedoch können Umstände wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden keine Abweichung von dem in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 aufgestellten Grundsatz rechtfertigen, wonach ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlöschen kann, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen.
Hierzu ist erstens festzustellen, dass es sich im vorliegenden Fall nicht um eine lange Abwesenheit aus gesundheitlichen Gründen oder um eine solche Abwesenheit während mehrerer Bezugszeiträume in Folge handelt, sondern um einen sehr begrenzten Zeitraum von 2 2/3 Tagen, für den FI keinen Urlaub nehmen konnte.
Zweitens ergibt sich die Unmöglichkeit, den erworbenen Urlaub vollständig zu nehmen, nicht aus einer längeren krankheitsbedingten Abwesenheit des Arbeitnehmers, wie es in der Rechtssache der Fall war, in der das Urteil vom 22. November 2011, KHS (C-214/10, EU:C:2011:761), ergangen ist, sondern daraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer von der Arbeit freigestellt hat.
Drittens ist die Abwesenheit eines Arbeitnehmers aus gesundheitlichen Gründen für den Arbeitgeber zwar nicht vorhersehbar, doch ist der Umstand, dass eine solche Abwesenheit den Arbeitnehmer gegebenenfalls daran hindern kann, seinen Anspruch auf Jahresurlaub auszuschöpfen, wenn es sich um ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis handelt, normalerweise nicht unvorhersehbar. Der Arbeitgeber ist nämlich in der Lage, ein solches Risiko auszuschließen oder zu verringern, indem er mit dem Arbeitnehmer vereinbart, dass dieser seinen Urlaub rechtzeitig nimmt.
Viertens stellt der Anspruch auf Jahresurlaub, wie in Rn. 18 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist und wie sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, nur einen der beiden Aspekte des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub als tragender Grundsatz des Sozialrechts der Union dar, während der andere Aspekt die finanzielle Vergütung ist, die dem Arbeitnehmer zusteht, wenn er aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht in der Lage ist, seinen Urlaub zu nehmen. Einem Arbeitnehmer, der in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aufgrund eines unvorhergesehenen Umstands wie Krankheit daran gehindert war, vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen, jeglichen Anspruch auf eine solche finanzielle Vergütung zu versagen, liefe jedoch darauf hinaus, dem in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 in Verbindung mit Art. 31 Abs. 2 der Charta vorgesehenen Recht seinen Gehalt zu nehmen.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 in Verbindung mit Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die vorsieht, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer durch die Ausübung seiner Arbeit im Rahmen einer Altersteilzeitregelung erworben hat, mit Ablauf des Urlaubsjahres oder zu einem späteren Zeitpunkt erlischt, wenn der Arbeitnehmer vor der Freistellungsphase wegen Krankheit daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen, und zwar auch dann, wenn es sich nicht um eine lange Abwesenheit handelt.
Zur zweiten Frage
Die zweite Frage ist für den Fall gestellt worden, dass die erste Frage verneint wird. Aufgrund der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage daher nicht beantwortet zu werden.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung in Verbindung mit Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die vorsieht, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer durch die Ausübung seiner Arbeit im Rahmen einer Altersteilzeitregelung erworben hat, mit Ablauf des Urlaubsjahres oder zu einem späteren Zeitpunkt erlischt, wenn der Arbeitnehmer vor der Freistellungphase wegen Krankheit daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen, und zwar auch dann, wenn es sich nicht um eine lange Abwesenheit handelt.
Xuereb
Kumin
Ziemele
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 27. April 2023.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Kammerpräsident
P. G. Xuereb
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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