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EuGH 22.12.2022 - C-553/21
EuGH 22.12.2022 - C-553/21 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer) - 22. Dezember 2022 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/96/EG – Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom – Art. 5 vierter Gedankenstrich – Gestaffelte Verbrauchsteuersätze, bei denen zwischen betrieblicher und nicht betrieblicher Verwendung dieser Erzeugnisse unterschieden wird – Fakultative Steuerbefreiungen und -ermäßigungen – Stellung eines Antrags auf fakultative Steuerermäßigung nach Ablauf der dafür vorgesehenen Frist, aber vor Ablauf der Frist für die Festsetzung der betreffenden Steuer – Grundsatz der Rechtssicherheit – Effektivitätsgrundsatz – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“
Leitsatz
In der Rechtssache C-553/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 8. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 8. September 2021, in dem Verfahren
Hauptzollamt Hamburg
gegen
Shell Deutschland Oil GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters N. Piçarra (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
des Hauptzollamts Hamburg, vertreten durch C. Schaade als Bevollmächtigten,
der Shell Deutschland Oil GmbH, vertreten durch Rechtsanwältin J. Dengler sowie Rechtsanwälte L. Freiherr von Rummel und R. Stein,
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und R. Pethke als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts in Verbindung mit Art. 5 vierter Gedankenstrich der Richtlinie 2003/96/EG des Rates vom 27. Oktober 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom (ABl. 2003, L 283, S. 51).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Hauptzollamt Hamburg (Deutschland) (im Folgenden: Hauptzollamt) und der Shell Deutschland Oil GmbH (im Folgenden: Shell) wegen der Weigerung des Hauptzollamts, Shell von der Energiesteuer auf von ihr zu betrieblichen Zwecken verheizte Energieerzeugnisse zu befreien.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Erwägungsgründe 3, 17 und 21 der Richtlinie 2003/96 lauten:
Das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes und die Erreichung der Ziele der anderen Gemeinschaftspolitiken erfordern die Festsetzung von gemeinschaftlichen Mindeststeuerbeträgen für die meisten Energieerzeugnisse einschließlich elektrischen Stroms, Erdgas und Kohle.
…
Je nach Verwendung der Energieerzeugnisse und des elektrischen Stroms sind unterschiedliche gemeinschaftliche Mindeststeuerbeträge festzusetzen.
…
In steuerlicher Hinsicht kann zwischen betrieblicher und nichtbetrieblicher Verwendung von Energieerzeugnissen und von Strom unterschieden werden.“
Art. 5 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können unter Steueraufsicht gestaffelte Steuersätze anwenden, soweit diese die in dieser Richtlinie vorgesehenen Mindeststeuerbeträge nicht unterschreiten und mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind, und zwar in den folgenden Fällen:
…
es wird bei den in den Artikeln 9 [Heizstoffe] und 10 [elektrischer Strom] genannten Energieerzeugnissen bzw. dem elektrischen Strom zwischen betrieblicher und nicht betrieblicher Verwendung unterschieden.“
In Art. 6 der Richtlinie heißt es:
„Den Mitgliedstaaten steht es frei, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen oder Steuerermäßigungen zu gewähren, und zwar …
…
indem sie die entrichteten Steuern vollständig oder teilweise erstatten.“
Deutsches Recht
§ 54 Abs. 1 des Energiesteuergesetzes vom 15. Juli 2006 (BGBl. 2006 I S. 1534) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: EnergieStG) sieht vor:
„Eine Steuerentlastung wird auf Antrag gewährt für Energieerzeugnisse, die nachweislich nach § 2 Absatz 3 Satz 1 Nummer 1, 3 bis 5 versteuert worden sind und von einem Unternehmen des Produzierenden Gewerbes im Sinne des § 2 Nr. 3 des Stromsteuergesetzes [vom 24. März 1999 (BGBl. 1999 I S. 378)] … zu betrieblichen Zwecken verheizt oder in begünstigten Anlagen nach § 3 verwendet worden sind. Eine Steuerentlastung für Energieerzeugnisse, die zur Erzeugung von Wärme verwendet worden sind, wird jedoch nur gewährt, soweit die erzeugte Wärme nachweislich durch ein Unternehmen des Produzierenden Gewerbes … genutzt worden ist.“
§ 100 („Steuerentlastung für Unternehmen“) der Verordnung zur Durchführung des Energiesteuergesetzes vom 31. Juli 2006 (BGBl. 2006 I S. 1753, im Folgenden: EnergieStV) bestimmt in Abs. 1:
„Die Steuerentlastung nach § 54 [EnergieStG] ist bei dem für den Antragsteller zuständigen [Hauptzollamt] mit einer Anmeldung nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck für alle Energieerzeugnisse zu beantragen, die innerhalb eines Entlastungsabschnitts verwendet worden sind. Der Antragsteller hat in der Anmeldung alle für die Bemessung der Steuerentlastung erforderlichen Angaben zu machen und die Steuerentlastung selbst zu berechnen. Die Steuerentlastung wird nur gewährt, wenn der Antrag spätestens bis zum 31. Dezember des Jahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Energieerzeugnisse verwendet worden sind, beim [Hauptzollamt] gestellt wird.“
In § 169 („Festsetzungsfrist“) der Abgabenordnung heißt es:
„(1) Eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung sind nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. …
(2) Die Festsetzungsfrist beträgt:
ein Jahr für Verbrauchsteuern und Verbrauchsteuervergütungen,
…“
Nach § 170 der Abgabenordnung beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist.
§ 171 („Ablaufhemmung“) Abs. 4 der Abgabenordung bestimmt, dass, wenn mit einer Außenprüfung vor Ablauf der Festsetzungsfrist für die Steuern, auf die sich die Außenprüfung erstreckt, begonnen wird, diese Frist nicht abläuft, bevor die aufgrund der Außenprüfung zu erlassenden Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind; eine Ablaufhemmung nach anderen Vorschriften bleibt unberührt.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Shell stellte beim Hauptzollamt mit dem dafür vorgesehenen amtlichen Vordruck einen Antrag auf Steuerentlastung gemäß § 54 Abs. 1 EnergieStG für Energieerzeugnisse, die sie in der Zeit von August bis November 2010 zu betrieblichen Zwecken verwendet hatte. Die Steuerentlastung sollte in Form einer teilweisen Erstattung der entrichteten Steuern gemäß Art. 6 Buchst. c der Richtlinie 2003/96 erfolgen.
Es steht fest, dass in Bezug auf den fraglichen Zeitraum alle Voraussetzungen für eine solche Steuerentlastung nach § 54 Abs. 1 EnergieStG zugunsten von Shell erfüllt waren, bis auf die Stellung eines entsprechenden Antrags innerhalb der in § 100 EnergieStV festgelegten Frist; der Antrag von Shell ging nämlich im Mai 2012 beim Hauptzollamt ein. Ferner steht fest, dass im Jahr 2011 bei Shell eine Außenprüfung in Bezug auf das Jahr 2010 vorgenommen wurde.
Das Hauptzollamt wies den Antrag von Shell sowie den Einspruch gegen den ablehnenden Bescheid am 13. August 2012 bzw. am 27. Februar 2015 mit der Begründung zurück, dass Shell ihren Antrag auf Steuerentlastung nicht innerhalb der in § 100 Abs. 1 EnergieStV festgelegten Frist gestellt habe.
Mit Urteil vom 1. Februar 2019 gab das Finanzgericht Hamburg (Deutschland) der Klage von Shell statt. Es befand, dass § 100 Abs. 1 EnergieStV in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falles eingehalten worden sei und dass das Hauptzollamt dem Antrag von Shell jedenfalls im Hinblick auf das Unionsrecht, insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, hätte stattgeben müssen.
Gegen dieses Urteil legte das Hauptzollamt beim Bundesfinanzhof (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Revision ein.
Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits davon abhänge, ob, wenn ein Antrag auf Steuerentlastung gemäß § 54 Abs. 1 EnergieStG – einer auf Art. 5 vierter Gedankenstrich der Richtlinie 2003/96 beruhenden Vorschrift – beim Hauptzollamt nach Ablauf der Frist für die Stellung eines solchen Antrags, aber innerhalb der – aufgrund einer beim Antragsteller begonnenen Außenprüfung gemäß § 171 Abs. 4 der Abgabenordnung in ihrem Ablauf gehemmten – Steuerfestsetzungsfrist eingehe, der Anspruch des Antragstellers auf diese Steuerentlastung nach § 100 Abs. 1 EnergieStV ausgeschlossen sei oder ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts dem entgegenstehe, dass die zuständigen nationalen Behörden einen solchen Anspruch allein wegen Nichteinhaltung der erstgenannten Frist zurückwiesen.
Als der Antrag auf Steuerentlastung im Mai 2012 beim Hauptzollamt eingegangen sei, sei die Festsetzungsfrist infolge der Außenprüfung, die bei Shell im Jahr 2011 erfolgt sei, noch nicht abgelaufen gewesen. Hierbei handele sich um eine Ausschlussfrist, die der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden diene, wie der Gerichtshof bereits festgestellt habe.
Im Übrigen sei zum einen darauf hinzuweisen, dass es nach den Urteilen des Gerichtshofs vom 2. Juni 2016, Polihim-SS (C-355/14, EU:C:2016:403), und vom 7. November 2019, Petrotel-Lukoil (C-68/18, EU:C:2019:933), gegen das Unionsrecht und insbesondere gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, wenn die Verletzung formeller Anforderungen des nationalen Rechts dadurch geahndet werde, dass eine Steuerbegünstigung nach der Richtlinie 2003/96 verweigert werde. Zum anderen sei nach der eigenen Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts der Antrag auf Entlastung von der Energiesteuer „keine materiell-rechtliche, sondern lediglich eine formelle Voraussetzung des Steuerentlastungsanspruchs“. Dies könnte dafür sprechen, dass eine nicht fristgerechte Antragstellung der Besteuerung eines Energieerzeugnisses nach seiner tatsächlichen Verwendung (im vorliegenden Fall: Verheizen zu betrieblichen Zwecken) nicht entgegenstehe. In einem solchen Fall neige das vorlegende Gericht zu der Auffassung, dass der Anspruch auf Befreiung von der Energiesteuer bzw. auf Ermäßigung dieser Steuer, solange die Festsetzungsfrist nach § 169 der Abgabenordnung nicht abgelaufen sei, von der zuständigen Behörde nicht versagt werden könne, wenn die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien.
Es stelle sich jedoch die Frage, ob die angeführte Rechtsprechung, die sich auf obligatorische Steuerbefreiungen nach der Richtlinie 2003/96 beziehe, auch für die in dieser Richtlinie vorgesehenen fakultativen Steuerbefreiungen gelte, um die es im Ausgangsverfahren gehe.
Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Gilt der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch für die fakultative Steuerermäßigung nach Art. 5 vierter Gedankenstrich der Richtlinie 2003/96 mit der Folge, dass der Mitgliedstaat die Steuerermäßigung nach Ablauf der in seinem Recht geregelten Antragsfrist nicht verweigern darf, wenn im Zeitpunkt des Eingangs des Antrags bei der zuständigen Behörde noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist?
Zur Vorlagefrage
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Effektivitätsgrundsatz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass im Rahmen der Umsetzung einer Bestimmung wie Art. 5 vierter Gedankenstrich der Richtlinie 2003/96, wonach die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen gestaffelte Steuersätze anwenden können, bei denen zwischen betrieblicher und nicht betrieblicher Verwendung der von dieser Richtlinie erfassten Energieerzeugnisse bzw. von elektrischem Strom unterschieden wird, diese Grundsätze einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats einen Antrag auf Steuerentlastung, der innerhalb der im nationalen Recht vorgesehenen Frist für die Festsetzung der betreffenden Steuer gestellt wurde, automatisch und ausnahmslos ablehnen müssen, allein weil der Antragsteller die im nationalen Recht für eine solche Antragstellung festgelegte Frist nicht eingehalten hat.
Was erstens die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Verbrauchsteuer auf Energieerzeugnisse und elektrischen Strom im Sinne der Richtlinie 2003/96 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass mit dieser Richtlinie, wie sich aus ihrem dritten Erwägungsgrund ergibt, Mindeststeuerbeträge für die meisten Energieerzeugnisse und elektrischen Strom auf Ebene der Europäischen Union festgelegt werden sollen. Nach Art. 5 in Verbindung mit Art. 6 dieser Richtlinie, betrachtet im Licht ihrer Erwägungsgründe 17 und 21, können die Mitgliedstaaten gestaffelte Steuersätze, Steuerbefreiungen oder Ermäßigungen der Verbrauchsteuern einführen; diese Möglichkeiten sind Bestandteil des mit dieser Richtlinie eingeführten harmonisierten Besteuerungssystems (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Hauptzollamt B [Fakultative Steuerermäßigung], C-100/20, EU:C:2021:716, Rn. 30).
So eröffnet Art. 5 der Richtlinie 2003/96 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, unter Beachtung der in dieser Richtlinie vorgesehenen Mindeststeuerbeträge und unter Einhaltung des Unionsrechts gestaffelte Steuersätze anzuwenden, und zwar in bestimmten in diesem Artikel aufgezählten Fällen, darunter der in seinem vierten Gedankenstrich vorgesehene Fall, dass bei den in den Art. 9 und 10 dieser Richtlinie genannten Energieerzeugnissen bzw. dem elektrischen Strom zwischen betrieblicher und nicht betrieblicher Verwendung unterschieden wird. Diese Möglichkeit ist Bestandteil des mit dieser Richtlinie eingeführten harmonisierten Besteuerungssystems (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Hauptzollamt B [Fakultative Steuerermäßigung], C-100/20, EU:C:2021:716, Rn. 30).
Daraus folgt, dass Wirtschaftsteilnehmer, die aufgrund einer Bestimmung des nationalen Rechts, die von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, einem ermäßigten Satz der betreffenden Steuer unterliegen, in einer Situation, die mit derjenigen der Wirtschaftsteilnehmer vergleichbar ist, die nach einer zwingenden Bestimmung der Richtlinie 2003/96 dem normalen Satz dieser Steuer unterliegen, gemäß dem Grundsatz der Gleichbehandlung nicht anders behandelt werden dürfen als letztere Wirtschaftsteilnehmer, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Hauptzollamt B [Fakultative Steuerermäßigung], C-100/20, EU:C:2021:716, Rn. 31 und 32).
Zweitens sind die formellen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Stellung eines Antrags auf Befreiung von der Steuer auf Energieerzeugnisse oder elektrischen Strom gemäß einer nationalen Regelung, mit der die in Art. 5 vierter Gedankenstrich der Richtlinie 2003/96 vorgesehene Möglichkeit umgesetzt wird, weder in dieser Richtlinie noch in einem anderen Unionsrechtsakt näher geregelt; daher ist es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, diese Voraussetzungen gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die vergleichbare innerstaatliche Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing, C-294/20, EU:C:2021:723, Rn. 59).
Dies gilt auch speziell für die Festlegung von Fristen für die Ausübung dieser Rechte, insbesondere Verjährungs- und Ausschlussfristen. Nach ständiger Rechtsprechung wird nämlich mit der Festlegung angemessener Ausschlussfristen das grundlegende Prinzip der Rechtssicherheit umgesetzt, das die Vorhersehbarkeit von Tatbeständen und Rechtsbeziehungen gewährleisten soll und insbesondere verlangt, dass die Lage eines Steuerpflichtigen in Bezug auf seine Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt lange offenbleiben kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juni 2012, Elsacom, C-294/11, EU:C:2012:382, Rn. 29, sowie vom 14. Oktober 2021, Finanzamt N und Finanzamt G [Mitteilung der Zuordnungsentscheidung], C-45/20 und C-46/20, EU:C:2021:852, Rn. 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Solche Fristen müssen jedoch – abgesehen davon, dass sie die Ausübung des betreffenden Rechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen – für auf innerstaatlichem Recht beruhende steuerliche Rechte in gleicher Weise wie für entsprechende auf dem Unionsrecht beruhende Rechte gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 2020, CTT – Correios de Portugal, C-661/18, EU:C:2020:335, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Die Einhaltung der Anforderungen, die sich aus den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität speziell in Bezug auf Verjährungs- und Ausschlussfristen ergeben, ist unter Berücksichtigung der Stellung der diese Fristen festlegenden nationalen Vorschriften im gesamten Verfahren, des Ablaufs dieses Verfahrens und der Besonderheiten dieser Vorschriften vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2020, Valoris, C-677/19, EU:C:2020:825, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Unter diesen Voraussetzungen sind solche Fristen nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren, auch wenn ihr Ablauf naturgemäß die vollständige oder teilweise Abweisung der erhobenen Klage zur Folge hat (Urteil vom 21. Oktober 2021, Wilo Salmson France, C-80/20, EU:C:2021:870, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall sieht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung zum einen eine Frist von einem Jahr für die Festsetzung der Energiesteuer vor; diese Frist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist. Im Fall einer Außenprüfung läuft diese Frist nicht ab, bevor die aufgrund der Außenprüfung zu erlassenden Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind. Zum anderen sieht diese Regelung für die Einreichung eines Antrags auf Steuerentlastung bei den zuständigen nationalen Behörden eine Frist vor, die gleich lang ist und offenbar zum selben Zeitpunkt zu laufen beginnt wie die Festsetzungsfrist. Der Ablauf der Antragstellungsfrist führt automatisch und ausnahmslos zur Ablehnung des Antrags, selbst wenn die Frist für die Festsetzung der Steuer wegen einer insoweit möglichen Aussetzung, Unterbrechung oder Verlängerung noch nicht abgelaufen ist.
Der Effektivitätsgrundsatz steht der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung jedoch entgegen, wenn diese dahin auszulegen ist, dass die Nichteinhaltung der Frist für die Stellung eines Antrags auf Steuerentlastung automatisch und ausnahmslos zur Ablehnung dieses Antrags führt, und zwar auch dann, wenn die Frist für die Festsetzung der betreffenden Steuer – die gleich lang ist und zum selben Zeitpunkt zu laufen beginnt wie die Frist für die Antragstellung, aber unterbrochen, ausgesetzt oder verlängert werden kann – etwa wegen einer beim Antragsteller durchgeführten Außenprüfung noch nicht abgelaufen ist. In diesem Fall kann eine solche Regelung nämlich bewirken, dass ein Steuerpflichtiger sein Recht auf Steuerentlastung unabhängig von den Umständen des Einzelfalles verliert, obwohl sich der betreffende Mitgliedstaat dafür entschieden hat, den Wirtschaftsteilnehmern in seinem Hoheitsgebiet dieses Recht zu garantieren.
Diese Erwägungen werden durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts gestützt, dessen Auslegung das vorlegende Gericht begehrt und der von nationalen Vorschriften, mit denen Unionsrecht durchgeführt wird, ebenfalls einzuhalten ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Juli 2017, Vakarų Baltijos laivų statykla, C-151/16, EU:C:2017:537, Rn. 45, vom 9. September 2021, Hauptzollamt B [Fakultative Steuerermäßigung], C-100/20, EU:C:2021:716, Rn. 31, und vom 30. Juni 2022, ARVI ir ko, C-56/21, EU:C:2022:509, Rn. 34). Nach diesem Grundsatz müssen die Mitgliedstaaten Mittel einsetzen, mit denen sich das Ziel der nationalen Regelung wirksam, aber mit möglichst geringer Beeinträchtigung der unionsrechtlichen Prinzipien erreichen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2021, Finanzamt N und Finanzamt G [Mitteilung der Zuordnungsentscheidung], C-45/20 und C-46/20, EU:C:2021:852, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass eine nationale Regelung, die einen Steuerpflichtigen, der den Vorsteuerabzug nicht geltend gemacht hat, innerhalb der allgemeinen Verjährungsfrist von fünf Jahren an der Berichtigung seiner Mehrwertsteuererklärungen für bereits steuerlich geprüfte Zeiträume hindert, indem sie ihm das Recht auf Vorsteuerabzug entzieht, in Anbetracht des hohen Stellenwerts, den das Recht auf Vorsteuerabzug im Mehrwertsteuersystem einnimmt, im Hinblick auf das mit der nationalen Regelung verfolgte Ziel unangemessen erscheint, wenn kein Betrug und keine Schädigung des Staatshaushalts nachgewiesen sind (Urteil vom 26. April 2018, Zabrus Siret, C-81/17, EU:C:2018:283, Rn. 51). Diese Beurteilung gilt entsprechend für eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende.
Da nicht ersichtlich ist, dass unter Umständen wie den in Rn. 30 des vorliegenden Urteils genannten die Zulassung eines Antrags auf Steuerbefreiung oder -ermäßigung, der nach Ablauf der Frist für die Stellung eines solchen Antrags, aber innerhalb der Frist für die Festsetzung der fraglichen Steuer gestellt wurde, mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar wäre, und unter Berücksichtigung der Systematik und des Zwecks der Richtlinie 2003/96, die auf dem Grundsatz beruhen, dass Energieerzeugnisse nach ihrer tatsächlichen Verwendung besteuert werden (Urteil vom 2. Juni 2016, ROZ-ŚWIT, C-418/14, EU:C:2016:400, Rn. 33), steht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ebenfalls entgegen, wenn an der tatsächlichen Verwendung der Energieerzeugnisse kein Zweifel besteht.
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass der Effektivitätsgrundsatz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie im Rahmen der Umsetzung einer Bestimmung wie Art. 5 vierter Gedankenstrich der Richtlinie 2003/96, wonach die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen gestaffelte Steuersätze anwenden können, bei denen zwischen betrieblicher und nicht betrieblicher Verwendung der von dieser Richtlinie erfassten Energieerzeugnisse bzw. von elektrischem Strom unterschieden wird, einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats einen Antrag auf Steuerentlastung, der innerhalb der im nationalen Recht vorgesehenen Frist für die Festsetzung der betreffenden Steuer gestellt wurde, automatisch und ausnahmslos ablehnen müssen, allein weil der Antragsteller die im nationalen Recht für eine solche Antragstellung festgelegte Frist nicht eingehalten hat.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Der Effektivitätsgrundsatz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts sind wie folgt auszulegen: Im Rahmen der Umsetzung einer Bestimmung wie Art. 5 vierter Gedankenstrich der Richtlinie 2003/96/EG des Rates vom 27. Oktober 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom, wonach die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen gestaffelte Steuersätze anwenden können, bei denen zwischen betrieblicher und nicht betrieblicher Verwendung der von dieser Richtlinie erfassten Energieerzeugnisse bzw. von elektrischem Strom unterschieden wird, stehen diese Grundsätze einer nationalen Regelung entgegen, nach der die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats einen Antrag auf Steuerentlastung, der innerhalb der im nationalen Recht vorgesehenen Frist für die Festsetzung der betreffenden Steuer gestellt wurde, automatisch und ausnahmslos ablehnen müssen, allein weil der Antragsteller die im nationalen Recht für eine solche Antragstellung festgelegte Frist nicht eingehalten hat.
Piçarra
Jääskinen
Gavalec
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 22. Dezember 2022.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Für den Kammerpräsidenten
N. Piçarra
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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