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EuGH 24.11.2022 - C-596/21
EuGH 24.11.2022 - C-596/21 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) - 24. November 2022 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167 und 168 – Recht auf Vorsteuerabzug – Grundsatz des Verbots von Betrug – Lieferkette – Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug bei Steuerhinterziehung – Steuerpflichtiger – Zweiter Erwerber eines Gegenstands – Hinterziehung, die einen Teil der beim ersten Erwerb geschuldeten Mehrwertsteuer betrifft – Umfang der Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug“
Leitsatz
In der Rechtssache C-596/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Nürnberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. September 2021, in dem Verfahren
A
gegen
Finanzamt M
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter D. Gratsias (Berichterstatter), M. Ilešič, I. Jarukaitis und Z. Csehi,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek, und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Pethke und V. Uher als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 167, 168 und 178 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A und dem Finanzamt M (Deutschland) (im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen der Versagung des Vorsteuerabzugs für den Erwerb eines Fahrzeugs im Steuerjahr 2011.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Gemäß Art. 14 Abs. 2 Buchst. c in Titel IV („Steuerbarer Umsatz“) Kapitel 1 („Lieferung von Gegenständen“) der Richtlinie 2006/112 gilt die Übertragung eines Gegenstands auf Grund eines Vertrags über eine Einkaufs- oder Verkaufskommission als Lieferung eines Gegenstands.
Art. 167 in Titel X („Vorsteuerabzug“) Kapitel 1 („Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“) dieser Richtlinie bestimmt:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
Art. 168 in diesem Kapitel 1 sieht vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…“
Art. 178 in Titel X Kapitel 4 („Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug“) dieser Richtlinie bestimmt:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;
…“
Art. 203 in Titel XI („Pflichten der Steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen“) Kapitel 1 („Zahlungspflicht“) der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“
Art. 273 in Titel XI Kapitel 7 („Verschiedenes“) dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“
Deutsches Recht
§ 3 Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) bestimmt:
„Beim Kommissionsgeschäft (§ 383 des Handelsgesetzbuchs) liegt zwischen dem Kommittenten und dem Kommissionär eine Lieferung vor. Bei der Verkaufskommission gilt der Kommissionär, bei der Einkaufskommission der Kommittent als Abnehmer.“
§ 15 Abs. 1 UStG in der im entscheidungserheblichen Zeitraum anwendbaren Fassung sieht vor:
„Der Unternehmer kann die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen:
die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a ausgestellte Rechnung besitzt. …“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
Im Jahr 2011 erwarb A, der Händler und Kläger des Ausgangsverfahrens ist, von C, der sich für W ausgab, für sein Unternehmen einen Gebrauchtwagen (im Folgenden: in Rede stehender Wagen). W wusste, dass C sich für ihn ausgab, und war damit einverstanden. C stellte W eine Rechnung über die Lieferung dieses Wagens für 52100,84 Euro zuzüglich 9899,16 Euro Mehrwertsteuer aus, während W anschließend dem Kläger des Ausgangsverfahrens eine Rechnung über 64705,88 Euro zuzüglich 12294,12 Euro Mehrwertsteuer ausstellte. W übergab diese Rechnung an C, der sie wiederum an den Kläger des Ausgangsverfahrens weiterreichte.
A zahlte an C insgesamt 77000 Euro, und zwar 64705,88 Euro für den Wert des Gegenstands und 12294,12 Euro Mehrwertsteuer. C behielt diese Beträge vollständig für sich. In seiner Buchhaltung und seinen Steuererklärungen berücksichtigte C nur einen Verkaufspreis von 52100,84 Euro zuzüglich 9899,16 Euro Mehrwertsteuer, wie auf der von ihm für W ausgestellten Rechnung angegeben. C zahlte daher nur Steuer in der sich daraus ergebenden Höhe, d. h. 9899,16 Euro. W erfasste den Vorgang weder in seiner Buchhaltung noch in seinen Steuererklärungen und zahlte insoweit auch keine Steuer.
A macht für den Erwerb des in Rede stehenden Wagens 12294,12 Euro Vorsteuer geltend. Demgegenüber meint die Steuerverwaltung, A dürfe keinerlei Vorsteuer abziehen, weil er von der von C begangenen Steuerhinterziehung hätte wissen müssen.
Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass A aufgrund des Eintritts verschiedener Ereignisse, die es als „auffällig“ einstuft, die Identität seines Geschäftspartners hätte prüfen müssen. Anhand dieser Prüfung hätte er zum einen feststellen können, dass C seine Identität gezielt verschleiert habe, was keinen anderen Zweck habe haben können, als durch den Verkauf des in Rede stehenden Wagens entstehende Mehrwertsteuer zu hinterziehen, und zum anderen, dass W nicht die Absicht gehabt habe, seine steuerlichen Pflichten zu erfüllen.
Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sind die in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG vorgesehenen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug gegeben, was den genannten Betrag von 12294,12 Euro betrifft, der auf der von W an A ausgestellten Rechnung als Umsatzsteuer ausgewiesen ist. Aufgrund des Einverständnisses von W mit dem Vorgehen von C seien diese beiden Akteure durch eine atypische Verkaufskommission gebunden, in dem Sinn, dass der Kommittent, und zwar C, zugleich der Vertreter von W, dem Kommissionär, sei. Daher sei davon auszugehen, dass zunächst C den in Rede stehenden Wagen an W und dann W den Wagen an A geliefert habe.
Das vorlegende Gericht führt aus, dass A nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (Deutschland) der Abzug von 12294,12 Euro versagt werden könnte, obwohl erstens C nur in Höhe von 2394,96 Euro Mehrwertsteuer hinterzogen habe und zweitens die tatsächlich gezahlte Steuer insgesamt nur um diesen Betrag hinter der bei ordnungsgemäßer Abwicklung des Geschäftsvorfalls geschuldeten Steuer zurückgeblieben sei.
Das vorlegende Gericht ist jedoch der Auffassung, dass der Vorsteuerabzug nur insoweit zu versagen sei, wie es erforderlich sei, den durch betrügerisches Verhalten verursachten Verlust an Steuereinnahmen auszugleichen. Es weist allerdings auch darauf hin, dass nach dem Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf (C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 35), die Versagung des Vorsteuerabzugs nicht davon abhänge, ob die an einer Steuerhinterziehung beteiligte Person daraus einen steuerlichen oder wirtschaftlichen Vorteil erlangt habe, sondern betrügerischen Umsätzen entgegenwirken solle, indem sie den Waren und Dienstleistungen, die Gegenstand eines in eine Steuerhinterziehung einbezogenen Umsatzes gewesen seien, den Absatzmarkt nehme.
Daher neigt das vorlegende Gericht zu einer Begrenzung des Rechts auf Vorsteuerabzug auf den vom Staat erlittenen Steuerschaden. Dieser Schaden müsse durch einen Vergleich der für sämtliche Leistungen gesetzlich geschuldeten Steuer mit dem Betrag der tatsächlich gezahlten Steuer berechnet werden. Nach diesem Ansatz wäre A berechtigt, 9899,16 Euro Vorsteuer abzuziehen. Nur der Abzug des darüber hinausgehenden, dem Steuerschaden des Staates entsprechenden Betrags von 2394,96 Euro müsste ihm versagt werden.
Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Nürnberg (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Kann dem zweiten Erwerber eines Gegenstands der Vorsteuerabzug aus dem Erwerb versagt werden, weil er wissen musste, dass der ursprüngliche Verkäufer bei der ersten Veräußerung Mehrwertsteuer hinterzog, obwohl auch der erste Erwerber wusste, dass der ursprüngliche Verkäufer bei der ersten Veräußerung Mehrwertsteuer hinterzog?
Falls Frage 1 bejaht wird: Ist die Versagung bei dem zweiten Erwerber betragsmäßig auf den durch die Hinterziehung entstandenen Steuerschaden begrenzt?
Falls Frage 2 bejaht wird: Berechnet sich der Steuerschaden
durch Vergleich der in der Leistungskette gesetzlich geschuldeten mit der tatsächlich festgesetzten Steuer,
durch Vergleich der in der Leistungskette gesetzlich geschuldeten mit der tatsächlich bezahlten Steuer oder
auf welche andere Weise?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
Obwohl das vorlegende Gericht in der Formulierung seiner drei Fragen keine spezielle Vorschrift der Richtlinie 2006/112 und keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz nennt, geht aus seinem Ersuchen hervor, dass seine Fragen die Auslegung der Art. 167 und 168 dieser Richtlinie im Licht des Grundsatzes des Verbots von Betrug betreffen, der einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Granarolo, C-617/19, EU:C:2021:338, Rn. 63).
In diesem Zusammenhang ist eingangs darauf hinzuweisen, dass das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die Gegenstände und Dienstleistungen, die sie für eine steuerbare Tätigkeit erworben oder empfangen haben, als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, einen fundamentalen Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt. Das in den Art. 167 ff. der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug ist somit integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden, sofern die materiellen wie auch die formellen Anforderungen oder Bedingungen, denen dieses Recht unterliegt, von den Steuerpflichtigen, die es ausüben wollen, eingehalten werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C-281/20, EU:C:2021:910, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Insbesondere soll der Unternehmer durch die Regelung über den Vorsteuerabzug vollständig von der im Rahmen aller seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet folglich die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten im Prinzip selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 39).
Zudem ist für das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug nicht von Bedeutung, ob die Mehrwertsteuer, die für die vorausgegangenen oder nachfolgenden Verkäufe der betreffenden Gegenstände geschuldet war, tatsächlich an den Fiskus entrichtet wurde. Denn die Mehrwertsteuer wird auf jeden Produktions- oder Vertriebsvorgang erhoben, abzüglich der Mehrwertsteuer, mit der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet worden sind (Urteil vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 40).
Allerdings ist die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel, das von der Richtlinie 2006/112 anerkannt und gefördert wird, weshalb eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist. Die nationalen Behörden und Gerichte haben daher das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 21, und Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C-281/20, EU:C:2021:910, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Das Recht auf Vorsteuerabzug ist nicht nur zu versagen, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Hinterziehung begeht, sondern auch, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Hinterziehung der Umsatzsteuer einbezogen war. Für die Zwecke der Richtlinie 2006/112 gilt, dass ein solcher Steuerpflichtiger sich an der Hinterziehung beteiligt oder sie begünstigt, und zwar unabhängig davon, ob er im Rahmen seiner besteuerten Ausgangsumsätze aus dem Weiterverkauf der Gegenstände oder der Verwendung der Dienstleistungen einen Gewinn erzielt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 22 und 23, und Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C-281/20, EU:C:2021:910, Rn. 46 und 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Mit der Vorsteuerabzugsregelung der Richtlinie 2006/112 ist es hingegen nicht vereinbar, einem Steuerpflichtigen, der weder wusste noch wissen konnte, dass der betreffende Umsatz in eine vom Lieferer begangene Steuerhinterziehung einbezogen war oder dass in der Lieferkette bei einem anderen Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausging oder nachfolgte, Umsatzsteuer hinterzogen wurde, das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen. Die Einführung eines Systems der verschuldensunabhängigen Haftung würde nämlich über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Fiskus zu schützen (Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 25, und Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C-281/20, EU:C:2021:910, Rn. 49).
Nach Art. 273 der Richtlinie 2006/112 haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Maßnahmen zu erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden. Insbesondere können die Mitgliedstaaten mangels einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften bei Nichtbeachtung der in der Unionsrechtsordnung für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts vorgesehenen Voraussetzungen die Sanktionen wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen (Urteil vom 15. April 2021, Grupa Warzywna, C-935/19, EU:C:2021:287, Rn. 25).
Die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen sind im Licht dieser Erwägungen zu prüfen.
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112 im Licht des Grundsatzes des Verbots von Betrug dahin auszulegen sind, dass dem zweiten Erwerber eines Gegenstands der Vorsteuerabzug versagt werden kann, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass dieser Erwerb mit einer vom ursprünglichen Verkäufer bei der ersten Veräußerung begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung in Zusammenhang stand, obwohl auch der erste Verkäufer Kenntnis von dieser Hinterziehung hatte.
Wie aus Rn. 26 des vorliegenden Urteils hervorgeht, wird bereits die Tatsache, dass der Steuerpflichtige Gegenstände oder Dienstleistungen erworben hat, obwohl er wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit diesem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette begangene Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war, für die Zwecke der Richtlinie 2006/112 als Beteiligung an dieser Steuerhinterziehung angesehen. Die einzige für die Versagung eines Abzugsrechts in einer solchen Situation entscheidende aktive Handlung besteht in dem Erwerb dieser Gegenstände oder Dienstleistungen. Dieser Erwerb begünstigt die Steuerhinterziehung, indem er den Absatz der betreffenden Waren ermöglicht, und er reicht aus, um das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 26 und 34).
Wenn hinreichend nachgewiesen ist, dass der zweite Erwerber von einer vom ursprünglichen Verkäufer begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, was das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren zu prüfen hat, hindert folglich die Tatsache, dass der erste Erwerber eines Gegenstands ebenfalls über die vom ursprünglichen Verkäufer begangene Steuerhinterziehung Bescheid wusste und sie begünstigte, nicht daran, dem zweiten Erwerber den Abzug der Mehrwertsteuer zu versagen, die bei einem von dieser Hinterziehung betroffenen oder einem danach erfolgenden Umsatz entrichtet wurde.
Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112 im Licht des Grundsatzes des Verbots von Betrug dahin auszulegen sind, dass dem zweiten Erwerber eines Gegenstands der Vorsteuerabzug versagt werden kann, weil er von einer vom ursprünglichen Verkäufer bei der ersten Veräußerung begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, obwohl auch der erste Verkäufer Kenntnis von dieser Hinterziehung hatte.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112 im Licht des Grundsatzes des Verbots von Betrug dahin auszulegen sind, dass dem zweiten Erwerber eines Gegenstands, mit dem auf einer Umsatzstufe vor diesem Erwerb ein betrügerischer Umsatz bewirkt wurde, der nur einen Teil der Mehrwertsteuer betraf, die der Staat erheben darf, das Recht auf Abzug der für diesen Umsatz entrichteten Mehrwertsteuer vollständig oder nur in Höhe des Betrags versagt werden kann, der Gegenstand der Steuerhinterziehung war, die zu dem Steuerschaden geführt hat, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass dieser Erwerb mit einer Steuerhinterziehung in Zusammenhang stand.
Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Richtlinie 2006/112 anerkannt und gefördert wird, weshalb eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist. Die nationalen Behörden und Gerichte haben daher das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 21, und Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C-281/20, EU:C:2021:910, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im Fall der Hinterziehung ist das Recht auf Vorsteuerabzug nicht nur zu versagen, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Hinterziehung begeht, sondern auch, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Hinterziehung der Umsatzsteuer einbezogen war. Ein solcher Steuerpflichtiger ist für die Zwecke der Richtlinie 2006/112 als an der Hinterziehung Beteiligter anzusehen, und zwar unabhängig davon, ob er im Rahmen seiner besteuerten Ausgangsumsätze aus dem Weiterverkauf der Gegenstände oder der Verwendung der Dienstleistungen einen Gewinn erzielt, da der Steuerpflichtige in einer solchen Situation den Urhebern der Hinterziehung zur Hand geht und sich einer solchen mitschuldig macht (Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 22 und 23, und Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C-281/20, EU:C:2021:910, Rn. 46 und 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Zum anderen ist hervorzuheben, dass die Versagung des Rechts auf Abzug der vom Kläger des Ausgangsverfahrens entrichteten Vorsteuer von den Sanktionen zu trennen ist, die der Mitgliedstaat gemäß Art. 273 der Richtlinie 2006/112 vorsehen kann. Steuerbetrug ist zwar im Rahmen der Anwendung der Sanktionen zu ahnden, die die Mitgliedstaaten zur Abschreckung von betrügerischen steuerlichen Verhaltensweisen festgelegt haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2021, Tribunal Económico Administrativo Regional de Galicia, C-521/19, EU:C:2021:527, Rn. 26 und 38).
Allerdings ist es gemäß dem harmonisierten Mehrwertsteuersystem Sache der nationalen Behörden und Gerichte, das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass dieses Recht betrügerisch geltend gemacht wird oder der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass der Umsatz, an dem er teilnahm, mit einem Betrug in Zusammenhang stand, hätte er die Überprüfungen vorgenommen, die vernünftigerweise von jedem Wirtschaftsteilnehmer verlangt werden können (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 53, 54 und 59).
Da es somit eine implizite materielle Voraussetzung für das Recht auf Vorsteuerabzug darstellt, dass der Steuerpflichtige trotz Vornahme der Überprüfungen, die vernünftigerweise von jedem Wirtschaftsteilnehmer verlangt werden können, keine Kenntnis vom Vorliegen einer Steuerhinterziehung hatte, die den besteuerten und zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsatz betraf, muss einem Steuerpflichtigen, der diese Voraussetzung nicht erfüllt, daher die Ausübung seines Rechts auf Vorsteuerabzug vollständig versagt werden (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 24, 31 und 33).
Diese Schlussfolgerung wird durch die Ziele bestätigt, die mit der Pflicht der nationalen Behörden und Gerichte verfolgt werden, das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn ein Steuerpflichtiger wusste oder hätte wissen müssen, dass der Umsatz in eine Steuerhinterziehung einbezogen war. Wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, soll dieses Erfordernis nämlich die Steuerpflichtigen anhalten, die Sorgfalt walten zu lassen, die vernünftigerweise bei jedem wirtschaftlichen Vorgang verlangt werden kann, um sicherzustellen, dass die von ihnen bewirkten Umsätze nicht zu ihrer Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Dieses Ziel könnte jedoch nicht wirksam erreicht werden, wenn die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug anteilig auf denjenigen Teil der als geschuldete Mehrwertsteuer gezahlten Beträge beschränkt würde, der dem hinterzogenen Betrag entspricht, da die Steuerpflichtigen so nur motiviert würden, die geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Folgen einer eventuellen Steuerhinterziehung zu begrenzen, aber nicht unbedingt Maßnahmen, mit denen sie sicherzustellen können, dass die von ihnen bewirkten Umsätze nicht dazu führen, dass sie sich an einer Steuerhinterziehung beteiligen oder diese begünstigen.
Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Tatsache, dass ein Steuerpflichtiger Gegenstände oder Dienstleistungen erworben hat, obwohl er wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangene Steuerhinterziehung einbezogen war, ausreicht, um eine Beteiligung des Steuerpflichtigen an dieser Steuerhinterziehung anzunehmen und um ihm das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, ohne dass es erforderlich ist, eine Gefährdung des Steueraufkommens festzustellen (Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C-281/20, EU:C:2021:910, Rn. 56).
Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, dass die Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112 im Licht des Grundsatzes des Verbots von Betrug dahin auszulegen sind, dass dem zweiten Erwerber eines Gegenstands, mit dem auf einer Umsatzstufe vor diesem Erwerb ein betrügerischer Umsatz bewirkt wurde, der nur einen Teil der Mehrwertsteuer betraf, die der Staat erheben darf, das Recht auf Vorsteuerabzug vollständig zu versagen ist, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass der Erwerb mit einer Steuerhinterziehung in Zusammenhang stand.
Zur dritten Frage
In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sind im Licht des Grundsatzes des Verbots von Betrug
dahin auszulegen, dass
dem zweiten Erwerber eines Gegenstands der Vorsteuerabzug versagt werden kann, weil er von einer vom ursprünglichen Verkäufer bei der ersten Veräußerung begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, obwohl auch der erste Verkäufer Kenntnis von dieser Hinterziehung hatte.
Die Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112/EG in der durch die Richtlinie 2010/45/EU geänderten Fassung sind im Licht des Grundsatzes des Verbots von Betrug
dahin auszulegen, dass
dem zweiten Erwerber eines Gegenstands, mit dem auf einer Umsatzstufe vor diesem Erwerb ein betrügerischer Umsatz bewirkt wurde, der nur einen Teil der Mehrwertsteuer betraf, die der Staat erheben darf, das Recht auf Vorsteuerabzug vollständig zu versagen ist, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass der Erwerb mit einer Steuerhinterziehung in Zusammenhang stand.
Regan
Gratsias
Ilešič
Jarukaitis
Csehi
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 24. November 2022.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Kammerpräsident
E. Regan
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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