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EuGH 10.02.2022 - C-9/20
EuGH 10.02.2022 - C-9/20 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) - 10. Februar 2022 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 66 Abs. 1 Buchst. b – Entstehung des Anspruchs auf die Mehrwertsteuer – Vereinnahmung des Preises – Art. 167 – Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug – Art. 167a – Abweichung – Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten (Kassenbuchführung) – Vermietung und Untervermietung eines Gewerbegrundstücks“
Leitsatz
In der Rechtssache C-9/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Hamburg (Deutschland) mit Beschluss vom 10. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Januar 2020, in dem Verfahren
Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136
gegen
Finanzamt Hamburg-Oberalster
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter) und M. Ilešič,
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136, vertreten durch M. Gerber, Steuerberater,
der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch J. Möller und S. Eisenberg, dann durch J. Möller als Bevollmächtigte,
der schwedischen Regierung, vertreten durch O. Simonsson, C. Meyer-Seitz, M. Salborn Hodgson, H. Shev, H. Eklinder und R. Shahsavan Eriksson als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch R. Pethke und N. Gossement, dann durch R. Pethke als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. September 2021
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 167 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 (im Folgenden: Grundstücksgemeinschaft) und dem Finanzamt Hamburg-Oberalster (Deutschland) (im Folgenden: Steuerbehörde) wegen der Bestimmung des Zeitpunkts der Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Im 24. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Die Begriffe ‚Steuertatbestand‘ und ‚Steueranspruch‘ sollten harmonisiert werden, damit die Anwendung und die späteren Änderungen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems in allen Mitgliedstaaten zum gleichen Zeitpunkt wirksam werden.“
Im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/45 heißt es:
„Zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, denen es Schwierigkeiten bereitet, vor Eingang der Zahlung ihrer Kunden Mehrwertsteuer an die zuständige Behörde zu entrichten, sollte den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt werden, diesen Unternehmen zu gestatten, dass sie die Mehrwertsteuer mit Hilfe einer Cash-accounting-Regelung (‚Kassenbuchführung‘) abrechnen, so dass der Lieferer oder Dienstleistungserbringer die Steuer erst dann an die zuständige Behörde entrichtet, wenn er die Zahlung für seine Lieferung oder Dienstleistung erhält, und sein Recht auf Vorsteuerabzug dann entsteht, wenn er eine Lieferung oder Dienstleistung bezahlt. Dies dürfte es den Mitgliedstaaten ermöglichen, ein fakultatives Cash-accounting-System einzuführen, das keine negativen Auswirkungen auf den Cashflow ihrer Mehrwertsteuereinnahmen hat.“
Titel VI („Steuertatbestand und Steueranspruch“) der Mehrwertsteuerrichtlinie umfasst vier Kapitel. In Kapitel 2 („Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen“) bestimmt Art. 63:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“
Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Abweichend von den Artikeln 63, 64 und 65 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder Gruppen von Steuerpflichtigen zu einem der folgenden Zeitpunkte entsteht:
…
b) spätestens bei der Vereinnahmung des Preises;
…“
Titel X („Vorsteuerabzug“) der Mehrwertsteuerrichtlinie umfasst fünf Kapitel. Kapitel 1 („Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“) enthält u. a. die Art. 167, 167a und 168.
Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
Art. 167a der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können im Rahmen einer fakultativen Regelung vorsehen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug eines Steuerpflichtigen, bei dem ausschließlich ein Steueranspruch gemäß Artikel 66 Buchstabe b eintritt, erst dann ausgeübt werden darf, wenn der entsprechende Lieferer oder Dienstleistungserbringer die Mehrwertsteuer auf die dem Steuerpflichtigen gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen erhalten hat.
…“
Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…“
Kapitel 4 („Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug“) des Titels X der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält u. a. die Art. 178 und 179.
Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen“.
Art. 179 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.
…“
Titel XI („Pflichten der Steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen“) der Mehrwertsteuerrichtlinie umfasst acht Kapitel, u. a. das Kapitel 3 („Erteilung von Rechnungen“). In dessen Abschnitt 4 („Rechnungsangaben“) bestimmt Art. 226:
„Unbeschadet der in dieser Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen müssen gemäß den Artikeln 220 und 221 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die folgenden Angaben enthalten:
…
die Angabe ‚Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten‘ (Kassenbuchführung), sofern der Steueranspruch gemäß Artikel 66 [Unterabsatz 1] Buchstabe b zum Zeitpunkt des Eingangs der Zahlung entsteht und das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht;
…“
Deutsches Recht
§ 13 („Entstehung der Steuer“) des Umsatzsteuergesetzes vom 21. Februar 2005 (BGBl. 2005 I S. 386) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: UStG) bestimmt:
„(1) Die Steuer entsteht
1. für Lieferungen und sonstige Leistungen
bei der Berechnung der Steuer nach vereinbarten Entgelten (§ 16 Abs. 1 Satz 1) mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen ausgeführt worden sind. Das gilt auch für Teilleistungen. Sie liegen vor, wenn für bestimmte Teile einer wirtschaftlich teilbaren Leistung das Entgelt gesondert vereinbart wird. Wird das Entgelt oder ein Teil des Entgelts vereinnahmt, bevor die Leistung oder die Teilleistung ausgeführt worden ist, so entsteht insoweit die Steuer mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem das Entgelt oder das Teilentgelt vereinnahmt worden ist,
bei der Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten (§ 20) mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Entgelte vereinnahmt worden sind,
…“
§ 15 („Vorsteuerabzug“) UStG bestimmt:
„(1) Der Unternehmer kann die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen:
die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a ausgestellte Rechnung besitzt.
…“
§ 16 („Steuerberechnung, Besteuerungszeitraum und Einzelbesteuerung“) UStG bestimmt:
„(1) Die Steuer ist, soweit nicht § 20 gilt, nach vereinbarten Entgelten zu berechnen. Besteuerungszeitraum ist das Kalenderjahr. …
(2) Von der nach Absatz 1 berechneten Steuer sind die in den Besteuerungszeitraum fallenden, nach § 15 abziehbaren Vorsteuerbeträge abzusetzen.“
§ 20 („Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten“) UStG bestimmt:
„Das Finanzamt kann auf Antrag gestatten, dass ein Unternehmer,
dessen Gesamtumsatz (§ 19 Abs. 3) im vorangegangenen Kalenderjahr nicht mehr als 500000 Euro betragen hat, oder
der von der Verpflichtung, Bücher zu führen und auf Grund jährlicher Bestandsaufnahmen regelmäßig Abschlüsse zu machen, nach § 148 der Abgabenordnung befreit ist, oder
soweit er Umsätze aus einer Tätigkeit als Angehöriger eines freien Berufs im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes ausführt,
die Steuer nicht nach den vereinbarten Entgelten (§ 16 Abs. 1 Satz 1), sondern nach den vereinnahmten Entgelten berechnet.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Die Grundstücksgemeinschaft, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, vermietete ein Gewerbegrundstück, das sie ihrerseits gemietet hatte.
Sowohl die Grundstücksgemeinschaft als auch ihre Vermieterin hatten wirksam auf die Steuerbefreiung für derartige Vermietungsumsätze verzichtet und somit zur Umsatzsteuer optiert. Beiden war von der Steuerbehörde gemäß § 20 UStG gestattet worden, die Steuer nicht nach den vereinbarten Entgelten, sondern nach den vereinnahmten Entgelten zu berechnen, d. h. nach der Methode der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten (Kassenbuchführung). Mit dem Mietvertrag verfügte die Grundstücksgemeinschaft über eine ordnungsgemäße Dauerrechnung.
Ab dem Jahr 2004 wurden die Mietzahlungen der Grundstücksgemeinschaft teilweise gestundet. Die Grundstücksgemeinschaft zahlte einen Teil ihrer Mieten für die Jahre 2009 bis 2012 somit erst in den Jahren 2013 bis 2016. Außerdem wurde ihr im Jahr 2016 durch die Vermieterin eine Schuld erlassen.
In den Zahlungen waren jeweils 19 % Umsatzsteuer enthalten. Die Grundstücksgemeinschaft machte ihr Recht auf Vorsteuerabzug, unabhängig von dem Mietzeitraum, für den die Zahlungen bestimmt waren, immer in dem Voranmeldezeitraum bzw. Kalenderjahr geltend, in dem die Zahlung erfolgte.
Bei einer Prüfung vertrat die Steuerbehörde die Auffassung, dass das Recht auf Vorsteuerabzug bereits mit der Ausführung des Umsatzes, hier der monatsweisen Überlassung des Grundstücks, entstanden sei und daher jeweils für den entsprechenden Zeitraum hätte geltend gemacht werden müssen.
In der Folge ergingen entsprechende Steuerbescheide für die Jahre 2011 bis 2015 sowie ein entsprechender Steuervorauszahlungsbescheid für das Jahr 2016. Darin wurde die Vorsteuer anhand der für jedes Jahr vereinbarten Miete berechnet. Dementsprechend wurden für die Jahre 2013 bis 2016 Steuern in Höhe von insgesamt 18409,67 Euro nacherhoben.
Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Steuerbescheide für die früheren Steuerjahre nicht geändert wurden, da insoweit bereits Festsetzungsverjährung eingetreten war. Die Umsatzsteuer, die in den Mietzahlungen aus 2013 und 2014 für die Mietzeiträume 2009 und 2010 enthalten war, wurde bei der Grundstücksgemeinschaft nicht als Vorsteuer berücksichtigt. Die Steuerbehörde vertrat die Auffassung, dass das Recht auf Vorsteuerabzug für die Jahre 2009 und 2010 hätte geltend gemacht werden müssen.
Die Grundstücksgemeinschaft legte gegen die Steuerbescheide für die Jahre 2013 bis 2016 am 3. Juli 2017 Einspruch ein. Der Einspruch wurde am 8. November 2017 zurückgewiesen. Die Grundstücksgemeinschaft erhob daraufhin am 28. November 2017 beim Finanzgericht Hamburg (Deutschland) Klage. Sie macht einen Verstoß gegen die Mehrwertsteuerrichtlinie geltend. Sie vertritt die Auffassung, dass das Recht des Empfängers der Lieferung oder Dienstleistung auf Vorsteuerabzug in Fällen, in denen der Lieferer oder Dienstleistungserbringer seine Steuer nach vereinnahmten Entgelten berechne, erst dann entstehe, wenn das Entgelt entrichtet worden sei.
Das vorlegende Gericht hat darüber zu befinden, ob das Recht auf Vorsteuerabzug in Fällen, in denen der Lieferer oder Dienstleistungserbringer die Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet, mit der Ausführung der Lieferung oder Dienstleistung entsteht oder erst mit der Vereinnahmung des Entgelts. Es fragt sich in diesem Zusammenhang, ob die deutsche Regelung, nach der das Recht auf Vorsteuerabzug stets mit der Ausführung der Lieferung oder Dienstleistung geltend zu machen ist, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
Das vorlegende Gericht führt aus, dass das Recht auf Vorsteuerabzug nach der deutschen Regelung entstehe, wenn die Lieferung oder Dienstleistung ausgeführt worden sei. Insoweit sei unerheblich, wann der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer entstehe und ob dieser die Steuer nach vereinbarten oder nach vereinnahmten Entgelten berechne. Das vorlegende Gericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber von der den Mitgliedstaaten durch Art. 167a der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeräumten Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht habe. Nach deutschem Recht entstehe das Recht auf Vorsteuerabzug des Empfängers der Lieferung oder Dienstleistung daher auch dann schon mit deren Ausführung, wenn der Lieferer oder Dienstleistungserbringer ein Steuerpflichtiger sei, bei dem die Steuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet werde.
Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob das deutsche Recht im Hinblick auf Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie, nach dem das Recht auf Vorsteuerabzug erst entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entstanden ist, mit dem Unionsrecht vereinbar sei.
Bei strikter Anwendung des Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie sei das deutsche Recht nicht mit dieser Vorschrift vereinbar. Denn der nationale Gesetzgeber habe von der den Mitgliedstaaten eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, vorzusehen, dass der Steueranspruch gegen bestimmte Steuerpflichtige erst mit der Vereinnahmung des Preises entstehe, gleichzeitig aber vorgesehen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug auch in diesen Fällen bereits dann entstehe, wenn die Lieferung oder Dienstleistung ausgeführt worden sei. Dadurch werde der Zusammenhang zwischen Steueranspruch und Vorsteueranspruch aufgehoben.
Für eine solche konsequente Anwendung von Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie spreche auch deren Art. 226 Nr. 7a, der nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt worden sei. Obwohl Art. 226 Nr. 7a der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Bundesrepublik Deutschland nicht umgesetzt worden sei, werde in der Literatur die Auffassung vertreten, dass sich aus dieser Vorschrift ergebe, dass der in Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie geregelte Zusammenhang zwischen Steueranspruch und Vorsteueranspruch nunmehr zwingend sei.
Es könne umgekehrt aber auch die Auffassung vertreten werden, dass das deutsche Recht mit dem Unionsrecht vereinbar sei, wenn es sich bei Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht um eine zwingende Vorgabe, sondern lediglich um eine „Leitidee“ handele. Eine solche Auslegung ergebe sich aus der Protokollerklärung des Rates der Europäischen Union und der Europäischen Kommission zu Art. 17 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1), dessen Wortlaut in Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie übernommen worden sei. Danach könnten die Mitgliedstaaten von dem in Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 77/388 vorgesehenen Grundsatz abweichen, wenn der Lieferer oder Dienstleistungserbringer nach vereinnahmten Entgelten besteuert werde.
Für den Fall, dass ein Mitgliedstaat von Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie abweichen darf, möchte das vorlegende Gericht ferner wissen, ob der Steuerpflichtige das Recht auf Vorsteuerabzug in diesen Fällen jedenfalls dann auch in dem Besteuerungszeitraum geltend machen darf, in dem es unter strikter Beachtung des Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie entstanden wäre, wenn eine Geltendmachung in dem nach nationalem Recht zutreffenden früheren Besteuerungszeitraum nicht mehr möglich ist.
Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass es nach deutschem Recht, wenn der Steuerpflichtige den Vorsteuerabzug unterlassen habe, nicht möglich sei, das Recht auf Vorsteuerabzug für einen späteren Besteuerungszeitraum geltend zu machen. Wenn eine rückwirkende Geltendmachung der Vorsteuer wie im Ausgangsrechtsstreit wegen eingetretener Festsetzungsverjährung nicht mehr möglich sei, könne das Recht auf Vorsteuerabzug daher nicht mehr ausgeübt werden. Das vorlegende Gericht ist jedoch der Auffassung, dass Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie in solchen Fällen eine andere Bewertung gebieten könnte. Die grundlegende Bedeutung des Rechts auf Vorsteuerabzug und die Sicherstellung der Neutralität des Mehrwertsteuersystems könnten es notwendig machen, dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit zu geben, die Vorsteuer auch dann für den sich nach Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergebenden Besteuerungszeitraum geltend zu machen, wenn das nationale Recht von dieser Vorschrift abweiche.
Das Finanzgericht Hamburg hat deshalb beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Steht Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer nationalen Regelung entgegen, nach der das Recht zum Vorsteuerabzug auch dann bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer nach nationalem Recht erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht und das Entgelt noch nicht gezahlt worden ist?
Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird: Steht Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer nationalen Regelung entgegen, wonach das Recht zum Vorsteuerabzug nicht für den Besteuerungszeitraum geltend gemacht werden kann, in dem das Entgelt bezahlt worden ist, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht, die Leistung bereits in einem früheren Besteuerungszeitraum erbracht worden ist und eine Geltendmachung des Vorsteueranspruchs für diesen früheren Steuerzeitraum nach nationalem Recht wegen Verjährung nicht mehr möglich ist?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Recht auf Vorsteuerabzug bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer nach einer nationalen Abweichung gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht und dieses noch nicht gezahlt worden ist.
Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Recht auf Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG entsteht, wenn die Lieferung oder Dienstleistung ausgeführt worden ist, ohne dass berücksichtigt wird, wann der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer entsteht. Es kommt insbesondere nicht darauf an, ob der Lieferer oder Dienstleistungserbringer die Umsatzsteuer gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 UStG nach vereinbarten oder gemäß § 20 UStG nach vereinnahmten Entgelten berechnet.
Zunächst ist auf die Bedenken einzugehen, die das vorlegende Gericht hinsichtlich der Auffassung äußert, nach der es sich bei Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie, wie sich aus der Protokollerklärung des Rates und der Kommission zu Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 77/388 ergebe, nicht um eine zwingende Vorgabe, sondern lediglich um eine Leitidee handele. Eine solche Erklärung kann nicht zur Auslegung abgeleiteten Rechts herangezogen werden, wenn der Inhalt der Erklärung wie im Ausgangsverfahren in der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden und somit keine rechtliche Bedeutung hat (Urteil vom 26. Februar 1991, Antonissen, C-292/89, EU:C:1991:80, Rn. 18).
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 27. Januar 2021, De Ruiter, C-361/19, EU:C:2021:71, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Als Erstes ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie, wie der Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, klar und unzweideutig ist. Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie stellt die allgemeine Regel auf, dass das Recht des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer auf die entsprechende abziehbare Steuer entsteht.
Was als Zweites den Zusammenhang der Vorschrift angeht, ist festzustellen, dass nach Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.
Nach Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten jedoch abweichend u. a. von Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder Gruppen von Steuerpflichtigen spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht.
Da Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Abweichung von der in Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Regelung darstellt, ist er eng auszulegen (Urteil vom 16. Mai 2013, TNT Express Worldwide [Poland], C-169/12, EU:C:2013:314, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zwar legt der Umstand, dass der Gesetzgeber die zulässigen Abweichungen erheblich ausgedehnt hat, die Schlussfolgerung nahe, dass er den Mitgliedstaaten einen erheblichen Spielraum einräumen wollte, doch berechtigt dies nicht zu der Annahme, dass ein Mitgliedstaat über ein Ermessen verfügt, um für das Entstehen des Steueranspruchs einen anderen Zeitpunkt als einen der in Art. 66 Abs. 1 Buchst. a bis c der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen zu bestimmen (Urteil vom 16. Mai 2013, TNT Express Worldwide [Poland], C-169/12, EU:C:2013:314, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Um zu einer Auslegung zu gelangen, bei der Art. 66 Abs. 1 Buchst. b und Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie, nach dem das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht, miteinander in Einklang stehen, muss somit in Fällen, in denen der Steueranspruch gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht, auch das Recht auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Vereinnahmung des Preises entstehen.
Als Drittes ist festzustellen, dass dieses Ergebnis durch das Ziel der Mehrwertsteuerrichtlinie bestätigt wird. Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass mit der Mehrwertsteuerrichtlinie ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem geschaffen worden ist, das insbesondere auf einer einheitlichen Definition der steuerbaren Umsätze beruht. Insbesondere wird im 24. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie klargestellt, dass die Begriffe „Steuertatbestand“ und „Steueranspruch“ harmonisiert werden sollten, damit die Anwendung und die späteren Änderungen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems in allen Mitgliedstaaten zum gleichen Zeitpunkt wirksam werden. Der Unionsgesetzgeber wollte somit den Zeitpunkt, zu dem die Steuerschuld in allen Mitgliedstaaten entsteht, so weit wie möglich harmonisieren, um eine einheitliche Erhebung der Mehrwertsteuer zu gewährleisten (Urteil vom 2. Mai 2019, Budimex, C-224/18, EU:C:2019:347, Rn. 21 und 22).
Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug ein fundamentaler Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist, grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann und für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden kann (Urteil vom 21. November 2018, Vădan, C-664/16, EU:C:2018:933, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Durch diese Regelung soll der Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher, dass alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, sofern sie der Mehrwertsteuer unterliegen, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis in völlig neutraler Weise steuerlich belastet werden (Urteil vom 21. November 2018, Vădan, C-664/16, EU:C:2018:933, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Das Ergebnis, zu dem der Gerichtshof oben in Rn. 45 gelangt ist, ermöglicht eine Anwendung der Mehrwertsteuerrichtlinie, die mit diesen Grundsätzen in Einklang steht. Der Steuerpflichtige kann das Recht auf Vorsteuerabzug nämlich erlangen, sobald der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer entsteht.
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Vorbringen der deutschen Regierung, wonach das Recht auf Vorsteuerabzug, da die Bundesrepublik Deutschland von der Ermächtigung des Art. 167a der Mehrwertsteuerrichtlinie keinen Gebrauch gemacht habe, wegen des systematischen Zusammenhangs zwischen Art. 63 und 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu dem Zeitpunkt entstehe, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht werde, und zwar unabhängig davon, dass der Steueranspruch für bestimmte Steuerpflichtige bei der Vereinnahmung des Preises entstehe.
Wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hätte der Unionsgesetzgeber, wenn er gewollt hätte, dass das Vorsteuerabzugsrecht zwingend im Zeitpunkt der Lieferung oder Dienstleistung entsteht, den Zeitpunkt der Entstehung des Vorsteuerabzugsrechts mit dem Steuertatbestand verknüpft, der nicht durch die besonderen Regelungen in den Art. 64 bis 67 der Mehrwertsteuerrichtlinie geändert wird, und nicht mit dem Zeitpunkt, zu dem der Steueranspruch entsteht und diesen Regelungen unterliegt.
Das Ergebnis, zu dem der Gerichtshof oben in Rn. 45 gelangt ist, wird auch nicht durch das Vorbringen der deutschen Regierung entkräftet, dass Art. 167a neben Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie keinen eigenständigen Anwendungsbereich hätte, wenn das Recht auf Vorsteuerabzug in den Fällen des Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie mit der Vereinnahmung des Preises entstehen würde.
Art. 167a der Mehrwertsteuerrichtlinie wurde mit dem Ziel in die Mehrwertsteuerrichtlinie eingefügt, es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, für Steuerpflichtige, die die Mehrwertsteuer im Rahmen einer fakultativen Kassenbuchführungsregelung abrechnen, die kleinen Unternehmen die Entrichtung der Steuer erleichtert, eine Ausnahme in Bezug auf den Zeitpunkt anzuwenden, zu dem das Recht auf Vorsteuerabzug ausgeübt werden kann (Urteil vom 16. Mai 2013, TNT Express Worldwide [Poland], C-169/12, EU:C:2013:314, Rn. 34).
Dementsprechend bestimmt Art. 167a der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen einer fakultativen Regelung vorsehen können, dass das Recht auf Vorsteuerabzug eines Steuerpflichtigen, bei dem ausschließlich ein Steueranspruch gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie eintritt, erst dann ausgeübt werden darf, wenn der entsprechende Lieferer oder Dienstleistungserbringer die Mehrwertsteuer auf die dem Steuerpflichtigen gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen erhalten hat.
Bei Steuerpflichtigen, bei denen ausschließlich ein Steueranspruch gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie eintritt, ermöglicht Art. 167a der Mehrwertsteuerrichtlinie somit eine Aufschiebung des Rechts auf Vorsteuerabzug, bis die Zahlung an ihre Lieferer oder Dienstleistungserbringer erfolgt ist.
Wie sich aus dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/45 ergibt, wurde Art. 167a in die Mehrwertsteuerrichtlinie eingefügt, um kleine und mittlere Unternehmen zu fördern, denen es Schwierigkeiten bereitet, vor Eingang der Zahlung ihrer Kunden Mehrwertsteuer an die zuständige Behörde zu entrichten, und um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, ein fakultatives Cash-accounting-System einzuführen, das keine negativen Auswirkungen auf den Cashflow ihrer Mehrwertsteuereinnahmen hat.
Art. 167a der Mehrwertsteuerrichtlinie gehört somit zu einer fakultativen Regelung, die die Mitgliedstaaten vorsehen können und deren Anwendung wiederum zu der Abweichung gehört, die bereits durch Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehen ist. Der Zusammenhang zwischen dem Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer und dem Recht des Steuerpflichtigen auf sofortigen Vorsteuerabzug kann daher nur in Fällen des Art. 167a der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgehoben werden.
Wie der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ist der Anwendungsbereich von Art. 167a der Mehrwertsteuerrichtlinie viel enger als der von Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie. Beim Erlass der letztgenannten Bestimmung ging es ursprünglich nämlich nicht um Kassenbuchführungsregelungen für mittlere und kleinere Unternehmen. Es ist weder eine Umsatzobergrenze vorgesehen noch die Voraussetzung, dass die Abweichung für die betreffenden Steuerpflichtigen „fakultativ“ sein müsste.
Art. 167a der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft mithin eine spezifische und sehr begrenzte Abweichung, die das Ergebnis, zu dem der Gerichtshof oben in Rn. 45 gelangt ist, nicht in Frage zu stellen vermag.
Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland von der Ermächtigung gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie Gebrauch gemacht hat. Aus dem Vorlagebeschluss geht nämlich hervor, dass der deutsche Gesetzgeber von der Ermächtigung gemäß dieser Vorschrift Gebrauch gemacht hat, indem er in § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b UStG vorgesehen hat, dass die Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen bei Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums entsteht, in dem die Entgelte vereinnahmt worden sind.
Was zweitens die Frage angeht, ob die Umsätze und die Steuerpflichtigen, um die es im Ausgangsverfahren geht, unter die „Umsätze“ bzw. „Gruppen von Steuerpflichtigen“ im Sinne von Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen, geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass der Grundstücksgemeinschaft und ihrer Vermieterin von der Steuerbehörde gemäß § 20 UStG gestattet worden war, die Steuer nicht nach den vereinbarten Entgelten, sondern nach den vereinnahmten Entgelten zu berechnen. Sie zählten also – vorbehaltlich der Nachprüfungen, die das vorlegende Gericht insoweit vorzunehmen haben wird – zu den Steuerpflichtigen, für die der Steueranspruch gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht.
Vorbehaltlich der Nachprüfungen, die das vorlegende Gericht hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen der nationalen Abweichung gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b und Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorzunehmen haben wird, ist somit davon auszugehen, dass das Recht der Grundstücksgemeinschaft auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Vereinnahmung des Preises durch den Vermieter entstanden ist.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Recht auf Vorsteuerabzug bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer nach einer nationalen Abweichung gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht und dieses noch nicht gezahlt worden ist.
Zur zweiten Frage
In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 167 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Recht auf Vorsteuerabzug bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer nach einer nationalen Abweichung gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2010/45 geänderten Fassung erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht und dieses noch nicht gezahlt worden ist.
Lycourgos
Jarukaitis
Ilešič
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. Februar 2022.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident
K. Lenaerts
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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