Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
EuGH 03.02.2022 - C-515/20
EuGH 03.02.2022 - C-515/20 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) - 3. Februar 2022 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 122 – Ermäßigter Steuersatz für Lieferungen von Brennholz – Differenzierung nach den objektiven Merkmalen und Eigenschaften der Waren – Zum Verbrennen bestimmte Holzformen, die demselben Bedürfnis des Verbrauchers dienen und miteinander im Wettbewerb stehen – Grundsatz der steuerlichen Neutralität“
Leitsatz
In der Rechtssache C-515/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 10. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Oktober 2020, in dem Verfahren
B AG
gegen
Finanzamt A
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der Richter N. Jääskinen und J.-C. Bonichot (Berichterstatter),
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der B AG, vertreten durch Wirtschaftsprüfer und Steuerberater T. Hammer sowie Steuerberaterin C. Hammer,
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und S. Costanzo als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und R. Pethke als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 98 und 122 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der B AG und dem Finanzamt A (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) über die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Lieferungen von Holzhackschnitzeln.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Mehrwertsteuerrichtlinie
Der vierte Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Voraussetzung für die Verwirklichung des Ziels, einen Binnenmarkt zu schaffen[,] ist, dass in den Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern angewandt werden, durch die die Wettbewerbsbedingungen nicht verfälscht und der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht behindert werden. Es ist daher erforderlich, eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern im Wege eines Mehrwertsteuersystems vorzunehmen, um so weit wie möglich die Faktoren auszuschalten, die geeignet sind, die Wettbewerbsbedingungen sowohl auf nationaler Ebene als auch auf Gemeinschaftsebene zu verfälschen.“
Der siebte Erwägungsgrund dieser Richtlinie hat folgenden Wortlaut:
„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sollte, selbst wenn die Sätze und Befreiungen nicht völlig harmonisiert werden, eine Wettbewerbsneutralität in dem Sinne bewirken, dass gleichartige Gegenstände und Dienstleistungen innerhalb des Gebiets der einzelnen Mitgliedstaaten ungeachtet der Länge des Produktions- und Vertriebswegs steuerlich gleich belastet werden.“
Art. 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer-Normalsatz an, den jeder Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.“
In Art. 98 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.
(2) Die ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien anwendbar.
…
(3) Zur Anwendung der ermäßigten Steuersätze im Sinne des Absatzes 1 auf Kategorien von Gegenständen können die Mitgliedstaaten die betreffenden Kategorien anhand der Kombinierten Nomenklatur genau abgrenzen.“
Anhang III dieser Richtlinie, der ein Verzeichnis der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen enthält, auf die ermäßigte Mehrwertsteuersätze gemäß Art. 98 dieser Richtlinie angewandt werden können, enthält keine Warenkategorie „Brennholz“.
Die Art. 109 bis 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie legen die Voraussetzungen fest, unter denen die Mitgliedstaaten ermäßigte Mehrwertsteuersätze anwenden können, solange keine endgültige Regelung eingeführt worden ist.
Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können auf … Lieferungen von Brennholz einen ermäßigten Satz anwenden.“
KN
Die Kombinierte Nomenklatur (im Folgenden: KN) ist in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. 1987, L 256, S. 1) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1101/2014 der Kommission vom 16. Oktober 2014 (ABl. 2014, L 312, S. 1) geänderten Fassung enthalten.
Sie enthält u. a. folgende Tarifpositionen:
KN-Code
Warenbezeichnung
4401
Brennholz in Form von Rundlingen, Scheiten, Zweigen, Reisigbündeln oder ähnlichen Formen; Holz in Form von Plättchen oder Schnitzeln; Sägespäne, Holzabfälle und Holzausschuss, auch zu Pellets, Briketts, Scheiten oder ähnlichen Formen zusammengepresst
4401 10 00
- Brennholz in Form von Rundlingen, Scheiten, Zweigen, Reisigbündeln oder ähnlichen Formen
- Holz in Form von Plättchen oder Schnitzeln
4401 21 00
-- Nadelholz
4401 22 00
--anderes Holz
- Sägespäne, Holzabfälle und Holzausschuss, auch zu Pellets, Briketts, Scheiten oder ähnlichen Formen zusammengepresst
4401 31 00
-- Holzpellets
4401 39
-- andere
4401 39 20
--- zusammengepresst (z. B. Briketts)
--- andere
4401 39 30
---- Sägespäne
Deutsches Recht
§ 12 des Umsatzsteuergesetzes bestimmt:
„(1) Die Steuer beträgt für jeden steuerpflichtigen Umsatz 19 Prozent der Bemessungsgrundlage (§§ 10, 11, 25 Abs. 3 und § 25a Abs. 3 und 4).
(2) Die Steuer ermäßigt sich auf sieben Prozent für die folgenden Umsätze:
die Lieferungen, die Einfuhr und der innergemeinschaftliche Erwerb der in Anlage 2 bezeichneten Gegenstände mit Ausnahme der in der Nummer 49 Buchstabe f, den Nummern 53 und 54 bezeichneten Gegenstände;
…“
Nr. 48 der Anlage 2 des Umsatzsteuergesetzes lautet:
Lfd. Nr.
Warenbezeichnung
Zolltarif (Kapitel, Position, Unterposition)
48
Holz, und zwar
a) Brennholz in Form von Rundlingen, Scheiten, Zweigen, Reisigbündeln oder ähnlichen Formen.
Unterposition
4401 10 00
b) Sägespäne, Holzabfälle und Holzausschuss, auch zu Pellets, Briketts, Scheiten oder ähnlichen Formen zusammengepresst
Unterposition
4401 30
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Der Rechtsstreit betrifft die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes bei der Lieferung von Holzhackschnitzeln.
Im Jahr 2015 handelte die Klägerin des Ausgangsverfahrens mit Holzhackschnitzeln der geschützten Bezeichnungen „Flokets weiß“ (sogenannte Industriehackschnitzel) und „Flokets natur“ (sogenannte Waldhackschnitzel) und führte die Wartung von Hackschnitzelheizungsanlagen durch.
Die Industriehackschnitzel bestehen aus dem beim Zerlegen von Baumstämmen anfallenden Sägerestholz, das mittels mit Hackmessern ausgestatteten Häckslern zu Holzhackschnitzeln zerkleinert wird. Die Waldhackschnitzel werden aus Wipfelholz oder Schwachholz bei der Waldpflege gewonnen. Das Waldrestholz wird im Wald mechanisch zerhackt und anschließend von der Klägerin des Ausgangsverfahrens getrocknet.
Im Steuerjahr 2015 lieferte die Klägerin des Ausgangsverfahrens Wald- und Industriehackschnitzel an die Gemeinde A und das Pfarramt B. In diesem Zeitraum lieferte sie darüber hinaus im Rahmen eines Vertrags über das „Betreiben einer Hackschnitzelheizungsanlage einschließlich Wartung und Reinigung“ mit der Gemeinde C Hackschnitzel als Brennstoff.
In der Umsatzsteuervoranmeldung für das Steuerjahr 2015 wandte die Klägerin des Ausgangsverfahrens auf die oben genannten Leistungen entsprechend der vom Finanzamt bei einer vorangegangenen Steuerprüfung geäußerten Auffassung den Regelsatz (19 %) an.
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens beanstandete diesen Steuersatz beim Finanzgericht (Deutschland), das der Klage teilweise stattgab. Dieses Gericht entschied, dass die Lieferungen von Holzhackschnitzeln an die Gemeinde A und das Pfarramt B dem ermäßigten Steuersatz unterliegen müssten, das gegenüber der Gemeinde C erbrachte Leistungsbündel jedoch mit dem Regelsteuersatz zu versteuern sei, weil es eine einheitliche Gesamtleistung darstelle.
Gegen das Urteil des Finanzgerichts legten sowohl die Klägerin des Ausgangsverfahrens als auch das Finanzamt Revision zum Bundesfinanzhof (Deutschland) ein.
Der Bundesfinanzhof wirft erstens Fragen hinsichtlich des Begriffs „Brennholz“ in Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf, insbesondere die Frage, ob dieser Begriff Holzhackschnitzel umfasst.
Zweitens fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Mitgliedstaaten bei der Ausübung der in Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Möglichkeit befugt sind, den Anwendungsbereich eines ermäßigten Steuersatzes auf Lieferungen von Brennholz anhand der KN genau abzugrenzen, oder ob die dahin gehende, in Art. 98 Abs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Befugnis auf die Fälle der Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes bei der Lieferung von Gegenständen der in Anhang III dieser Richtlinie genannten Kategorien beschränkt ist.
Drittens möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass die Mitgliedstaaten befugt sein sollten, den Anwendungsbereich des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Lieferungen von Brennholz anhand der KN genau zu bestimmen, wissen, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität der Anwendung unterschiedlicher Steuersätze auf verschiedene Formen von Brennholz entgegensteht.
Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist der Begriff des Brennholzes in Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass er jegliches Holz umfasst, das nach seinen objektiven Eigenschaften ausschließlich zum Verbrennen bestimmt ist?
Kann ein Mitgliedstaat, der auf der Grundlage von Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie einen ermäßigten Steuersatz für Lieferungen von Brennholz schafft, dessen Anwendungsbereich entsprechend Art. 98 Abs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie anhand der KN genau abgrenzen?
Falls die zweite Frage zu bejahen ist: Darf ein Mitgliedstaat die ihm durch Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 98 Abs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeräumte Befugnis, den Anwendungsbereich der Steuersatzermäßigung für Lieferungen von Brennholz anhand der KN abzugrenzen, bei Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität so ausüben, dass die Lieferungen verschiedener Formen von Brennholz, die sich nach ihren objektiven Merkmalen und Eigenschaften unterscheiden, aber aus der Sicht eines Durchschnittsverbrauchers nach dem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung demselben Bedürfnis (hier: Heizen) dienen und somit miteinander in Wettbewerb stehen, unterschiedlichen Steuersätzen unterliegen?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Brennholz“ jegliches Holz umfasst, das nach seinen objektiven Eigenschaften ausschließlich zum Verbrennen bestimmt ist.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangen sowohl die einheitliche Anwendung des Unionsrechts als auch der Gleichheitsgrundsatz, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union unabhängig von den in den Mitgliedstaaten verwendeten Begriffen autonom und einheitlich auszulegen sind (Urteil vom 9. September 2021, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [Folgeantrag auf internationalen Schutz], C-18/20, EU:C:2021:710, Rn. 32).
Da Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie keinen Verweis beinhaltet, ist folglich der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „Brennholz“ als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen, dessen Bedeutung und Tragweite in sämtlichen Mitgliedstaaten identisch sein müssen. Daher ist es Aufgabe des Gerichtshofs, diesen Begriff in der Unionsrechtsordnung einheitlich auszulegen.
Da der Begriff „Brennholz“ in der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht definiert wird, ist insoweit zum einen auf den üblichen Sinn des Ausdrucks nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch abzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand, C-406/20, EU:C:2021:720, Rn. 29), d. h. zum Verbrennen bestimmtes Holz zum Heizen öffentlicher oder privater Räumlichkeiten.
Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Ausnahmeregelung darstellt. Nach Art. 96 dieser Richtlinie wird nämlich auf Lieferungen von Gegenständen und auf Dienstleistungen der gleiche Mehrwertsteuersatz, d. h. der Normalsatz, angewendet. Mithin sieht Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie als Ausnahme von dieser Regel die Möglichkeit vor, u. a. auf Brennholz vorläufig einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden.
Als Ausnahmebestimmung ist dieser Artikel eng auszulegen (Urteile vom 29. Juli 2019, Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen, C-411/17, EU:C:2019:622, Rn. 147, sowie vom 16. Juli 2020, JE [Auf die Ehescheidung anzuwendendes Recht], C-249/19, EU:C:2020:570, Rn. 23) und folglich auch der Begriff „Brennholz“, der dessen Anwendungsbereich bestimmt. Im Einklang mit der vom vorlegenden Gericht vorgeschlagenen Definition ist jegliches Holz als „Brennholz“ anzusehen, das nach seinen objektiven Eigenschaften, wie etwa einem im Voraus festgelegten Trocknungsgrad, ausschließlich zum Verbrennen bestimmt ist.
Nach alledem ist Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass der Begriff „Brennholz“ im Sinne dieses Artikels jegliches Holz bezeichnet, das nach seinen objektiven Eigenschaften ausschließlich zum Verbrennen bestimmt ist.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der in Anwendung dieser Bestimmung einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Lieferungen von Brennholz schafft, dessen Anwendungsbereich entsprechend Art. 98 Abs. 3 dieser Richtlinie anhand der KN abgrenzen kann.
Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 98 Abs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten ausdrücklich gestattet, die in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgeführten Kategorien von Lieferungen von Gegenständen, die nach Art. 98 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie Gegenstand eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes sein können, anhand der KN genauer abzugrenzen.
Dieselbe Möglichkeit lässt sich dagegen aus dem Wortlaut von Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie selbst nicht ableiten, der lediglich vorsieht, dass die Mitgliedstaaten u. a. auf Lieferungen von Brennholz einen ermäßigten Steuersatz anwenden können, solange die endgültige Mehrwertsteuerregelung nicht eingeführt worden ist.
Jedoch ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie, wie in Rn. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, eine Ausnahmebestimmung darstellt und folglich eng auszulegen ist. Daher steht es den Mitgliedstaaten nicht frei, für andere Lieferungen von Holz als Lieferungen von Brennholz in Anwendung dieser Bestimmung einen ermäßigten Steuersatz zu gewähren.
Zum anderen können die Mitgliedstaaten, da ihnen Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie während eines Übergangszeitraums die Befugnis einräumt, auf Lieferungen von Brennholz einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden, davon absehen, auf diese Lieferungen einen solchen Steuersatz anzuwenden, und sich dafür entscheiden, hierauf den in Art. 96 dieser Richtlinie vorgesehenen Normalsatz anzuwenden. Diese Befugnis schließt auch die Möglichkeit ein, nur auf bestimmte Lieferungen von Brennholz einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden, sofern diese Befugnis, wie in der vorstehenden Randnummer ausgeführt worden ist, innerhalb der engen Grenzen der Ausnahmeregelung ausgeübt wird.
Wie sich nämlich auch aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 98 der Mehrwertsteuerrichtlinie (Urteil vom 27. Juni 2019, Belgisch Syndicaat van Chiropraxie u. a., C-597/17, EU:C:2019:544, Rn. 44) ergibt, ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber in Art. 122 dieser Richtlinie lediglich eine Befugnis für die Mitgliedstaaten vorgesehen hat, ausnahmsweise und übergangsweise auf Lieferungen u. a von Brennholz einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden. Daher haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, diesen ermäßigten Satz nur einem Teil dieser Lieferungen vorzubehalten.
Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, die von der ihnen durch Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeräumten Befugnis einen eingeschränkten und damit selektiven Gebrauch machen möchten, unter Heranziehung aller Mittel in ihrem nationalen Recht die Lieferungen von Brennholz zu bestimmen, die nach ihrer Entscheidung einem ermäßigten Steuersatz unterliegen sollen. Keine Bestimmung des Unionsrechts verbietet es ihnen, zu diesem Zweck auf ein unionsrechtliches Instrument zurückzugreifen und, insbesondere, die KN heranzuziehen, auch wenn dies in Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie – anders als in deren Art. 98 – nicht ausdrücklich vorgesehen ist.
Die sich aus Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergebende Befugnis, nur bestimmten Lieferungen von Brennholz einen ermäßigten Steuersatz vorzubehalten, unterliegt jedoch der Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität. Nach ständiger Rechtsprechung ist es den Mitgliedstaaten gestattet, die Kategorien von Lieferungen von Gegenständen oder von Dienstleistungen genauer zu bestimmen, auf die sie nach der Mehrwertsteuerrichtlinie einen ermäßigten Satz anwenden dürfen, sofern der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird (Urteile vom22. April 2021, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Katowicach, C-703/19, EU:C:2021:314, Rn. 38, und vom 9. September 2021, Phantasialand, C-406/20, EU:C:2021:720, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 122 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der in Anwendung dieser Bestimmung einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Lieferungen von Brennholz schafft, dessen Anwendungsbereich anhand der KN auf bestimmte Kategorien von Lieferungen von Brennholz begrenzen kann, sofern der Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird.
Zur dritten Frage
Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass die Lieferung von Holzhackschnitzeln von dem auf die Lieferung anderer Formen von Brennholz anwendbaren ermäßigten Steuersatz ausgeschlossen ist.
Wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, hat ein Mitgliedstaat den Grundsatz der steuerlichen Neutralität zu beachten, wenn er sich dafür entscheidet, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz selektiv auf Lieferungen von Gegenständen oder auf Dienstleistungen anzuwenden, auf die nach der Mehrwertsteuerrichtlinie ein solcher Satz angewendet werden kann.
Dieser Grundsatz lässt es nicht zu, gleichartige Gegenstände oder Dienstleistungen, die miteinander in Wettbewerb stehen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand, C-406/20, EU:C:2021:720, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Beantwortung der Frage, ob Gegenstände oder Dienstleistungen gleichartig sind, in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen. Gegenstände oder Dienstleistungen sind gleichartig, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers zwischen diesen Gegenständen oder Dienstleistungen nicht erheblich beeinflussen (Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand, C-406/20, EU:C:2021:720, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Mit anderen Worten ist zu prüfen, ob die fraglichen Gegenstände oder Dienstleistungen aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers austauschbar sind. In diesem Fall könnte nämlich die Anwendung unterschiedlicher Mehrwertsteuersätze die Wahl des Verbrauchers beeinflussen, was somit auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität hindeuten würde (Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand, C-406/20, EU:C:2021:720, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, eine konkrete Prüfung durchzuführen, um festzustellen, ob Holzhackschnitzel und andere Formen von Brennholz aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers austauschbar sind.
Folglich ist auf die dritte Frage zu antworten, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er dem nicht entgegensteht, dass die Lieferung von Holzhackschnitzeln nach dem nationalen Recht von dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz ausgeschlossen ist, obwohl dieser nach den nationalen Rechtsvorschriften den Lieferungen anderer Formen von Brennholz zugutekommt, sofern Holzhackschnitzel und diese anderen Formen von Brennholz für den Durchschnittsverbraucher nicht austauschbar sind. Dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 122 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Brennholz“ im Sinne dieses Artikels jegliches Holz bezeichnet, das nach seinen objektiven Eigenschaften ausschließlich zum Verbrennen bestimmt ist.
Art. 122 der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der in Anwendung dieser Bestimmung einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Lieferungen von Brennholz schafft, dessen Anwendungsbereich anhand der Kombinierten Nomenklatur auf bestimmte Kategorien von Lieferungen von Brennholz begrenzen kann, sofern der Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird.
Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass er dem nicht entgegensteht, dass die Lieferung von Holzhackschnitzeln nach dem nationalen Recht von dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz ausgeschlossen ist, obwohl dieser nach den nationalen Rechtsvorschriften den Lieferungen anderer Formen von Brennholz zugutekommt, sofern Holzhackschnitzel und diese anderen Formen von Brennholz für den Durchschnittsverbraucher nicht austauschbar sind. Dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Bay Larsen
Jääskinen
Bonichot
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 3. Februar 2022.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident
K. Lenaerts
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
Kontakt zur AOK Sachsen-Anhalt
Persönlicher Ansprechpartner
Hotline 0800 226 5354
E-Mail-Service