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EuGH 13.01.2022 - C-514/20
EuGH 13.01.2022 - C-514/20 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer) - 13. Januar 2022 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 31 Abs. 2 – Richtlinie 2003/88/EG – Arbeitszeitgestaltung – Art. 7 – Jahresurlaub – Arbeitszeit – Überstunden – Berechnung der Arbeitszeit auf Monatsbasis – Kein Mehrarbeitszuschlag bei Inanspruchnahme von Urlaub“
Leitsatz
In der Rechtssache C-514/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 17. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Oktober 2020, in dem Verfahren
DS
gegen
Koch Personaldienstleistungen GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Sechsten Kammer I. Ziemele (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Siebten Kammer sowie der Richter T. von Danwitz und A. Kumin,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von DS, vertreten durch R. Buschmann,
der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Recchia als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen DS und der Koch Personaldienstleistungen GmbH (im Folgenden: Koch) über die Frage der Berücksichtigung von bezahltem Jahresurlaub bei der Berechnung der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
In den Erwägungsgründen 4 und 5 der Richtlinie 2003/88 heißt es:
Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.
Alle Arbeitnehmer sollten angemessene Ruhezeiten erhalten. …“
Art. 7 („Jahresurlaub“) dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
Deutsches Recht
Der Manteltarifvertrag für Zeitarbeit in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: MTV) enthält in § 3.1. („Arbeitszeit“) folgende Passagen:
„3.1.1. Die individuelle regelmäßige monatliche Arbeitszeit beträgt für Vollzeitbeschäftigte 151,67 Stunden. …
3.1.2. Die individuelle regelmäßige Arbeitszeit pro Monat richtet sich nach der Anzahl der Arbeitstage.
In Monaten mit
…
23 Arbeitstagen beträgt die Monatsarbeitszeit 161 [Stunden].
…“
§ 4.1.2. MTV sieht vor:
„Mehrarbeitszuschläge werden für Zeiten gezahlt, die in Monaten mit
…
23 Arbeitstagen über 184 geleistete [Stunden] hinausgehen.
Der Mehrarbeitszuschlag beträgt 25 Prozent.
…“
Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefrage
Im August 2017, auf den 23 Arbeitstage entfielen, arbeitete DS, der bei Koch als Leiharbeitnehmer in Vollzeit beschäftigt ist, an den ersten 13 Arbeitstagen des Monats 121,75 Stunden und nahm für die verbleibenden zehn Tage bezahlten Jahresurlaub, der 84,7 Arbeitsstunden entsprach.
Da DS der Ansicht war, dass die für den bezahlten Jahresurlaub abgerechneten Tage bei der Bestimmung der geleisteten Arbeitsstunden zu berücksichtigen seien, erhob er bei den deutschen Gerichten Klage und beantragte, Koch zur Zahlung eines Zuschlags in Höhe von 25 % für 22,45 Stunden, also von 72,32 Euro, zu verurteilen, was der die Schwelle von 184 Stunden übersteigenden Arbeitszeit entspreche.
Nachdem seine Klage im ersten Rechtszug und in der Berufungsinstanz abgewiesen worden war, legte DS beim vorlegenden Gericht Revision ein.
Das Bundesarbeitsgericht (Deutschland) weist darauf hin, dass gemäß dem Wortlaut von § 4.1.2. MTV bei der Feststellung, ob die Schwelle der normalen monatlichen Arbeitszeit vom Arbeitnehmer überschritten worden sei, nur die geleisteten Stunden angerechnet werden könnten. Unter „geleisteten Stunden“ seien tatsächlich erbrachte Arbeitsstunden zu verstehen, wovon Urlaubszeiten nicht erfasst seien.
Der Zweck des Mehrarbeitszuschlags bestehe gemäß dem MTV darin, einen Ausgleich für eine besondere Arbeitsbelastung zu gewähren, die während des bezahlten Jahresurlaubs nicht auftrete, so dass der Zuschlag darauf abziele, den Arbeitnehmer dafür zu belohnen, dass er mehr als vertraglich vereinbart arbeite. Der Zuschlag sei also ein Anspruch, der durch Arbeit erworben werde, ohne dass Urlaubszeiten berücksichtigt werden könnten.
Weiter weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Arbeitgeber durch die Mehrarbeitszuschläge auch veranlasst sein könnten, nicht in den Freizeitbereich der Arbeitnehmer einzugreifen, da ein solcher Eingriff Mehrkosten in Höhe von 25 % des vertraglich vereinbarten Stundenlohns verursache.
Allerdings könnten die Bestimmungen des MTV einen Anreiz für Arbeitnehmer begründen, den bezahlten Mindestjahresurlaub nicht in Anspruch zu nehmen. Im vorliegenden Fall hätte DS, wenn er während des von ihm genommenen bezahlten Jahresurlaubs gearbeitet hätte, die normale Arbeitszeit um 22,45 Stunden überschritten und für diese Stunden einen Anspruch auf den Zuschlag von 25 % gehabt.
Daher hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob das mit dem MTV eingerichtete System, soweit es letztlich dazu führt, dass der Anspruch auf den Mehrarbeitszuschlag beschnitten wird, mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar ist, nach der die Arbeitnehmer nicht davon abgehalten werden dürfen, ihren Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub geltend zu machen.
Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass das Ausgangsverfahren der dem Urteil vom 22. Mai 2014, Lock (C-539/12, EU:C:2014:351), zugrunde liegenden Rechtssache insoweit vergleichsweise ähnlich sei, als der finanzielle Nachteil in beiden Fällen nicht das eigentliche Urlaubsentgelt betreffe, sondern in einem dem Urlaub vor- oder nachgelagerten Zeitraum eintrete.
Das vorlegende Gericht erinnert auch daran, dass der Gerichtshof im Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein (C-385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 47), entschieden hat, dass die Vergütung für Überstunden in das während der Urlaubszeit geschuldete Arbeitsentgelt einbezogen werden sollte, wenn der Arbeitnehmer gemäß dem Arbeitsvertrag verpflichtet ist, Überstunden zu leisten, die weitgehend vorhersehbar und gewöhnlich sind und deren Vergütung einen wesentlichen Teil des gesamten Arbeitsentgelts ausmacht.
Sollte die Rechtsprechung aus jenem Urteil auf das Ausgangsverfahren zu übertragen sein, wären die für die geleisteten Überstunden geschuldeten Mehrarbeitszuschläge nicht in das während des bezahlten Jahresurlaubs gezahlte Entgelt einzubeziehen, da es sich im Ausgangsverfahren wohl um Überstunden handele, die ausnahmsweise zu leisten und unvorhersehbar gewesen seien. Daher liege es nahe, die Urlaubstage bei der Berechnung der zu Mehrarbeitszuschlägen berechtigenden Arbeitszeit außer Acht zu lassen.
Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass in Tarifverträgen nicht von § 1 des Mindesturlaubsgesetzes für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) abgewichen werden dürfe, der vorsehe, dass jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub habe, und der nach Maßgabe von Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 unionsrechtskonform auszulegen sei.
Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Stehen Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88 einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegen, die für die Berechnung, ob und für wie viele Stunden einem Arbeitnehmer Mehrarbeitszuschläge zustehen, nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt und nicht auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nimmt?
Zur Vorlagefrage
Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegenstehen, nach der für die Berechnung, ob die Schwelle der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit erreicht ist, die Stunden, die dem vom Arbeitnehmer in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaub entsprechen, nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt werden.
Erstens ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 „[d]ie Mitgliedstaaten … die erforderlichen Maßnahmen [treffen], damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen … erhält“.
Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung ist es zwar Sache der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen, aber sie dürfen dabei nicht bereits die Entstehung dieses sich unmittelbar aus der Richtlinie ergebenden Anspruchs von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen (Urteil vom 29. November 2017, King, C-214/16, EU:C:2017:914, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zweitens hat der Gerichtshof zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88 entschieden, dass das Recht jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in dieser Richtlinie selbst ausdrücklich gezogen werden (Urteil vom 6. November 2018, Kreuziger, C-619/16, EU:C:2018:872, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Das Recht auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union hat zudem nicht nur besondere Bedeutung, sondern ist auch in Art. 31 Abs. 2 der Charta, der nach Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zukommt, ausdrücklich verbürgt (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca SpA, C-762/18 und C-37/19, EU:C:2020:504, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Somit wird mit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub widergespiegelt und konkretisiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2020, Kommission und Rat/Carreras Sequeros u. a., C-119/19 P und C-126/19 P, EU:C:2020:676, Rn. 115). Während die letztgenannte Bestimmung jeder Arbeitnehmerin und jedem Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub garantiert, setzt die erstgenannte Vorschrift diesen Grundsatz um, indem sie die Dauer des Jahresurlaubs festlegt.
Insoweit ist zu betonen, dass die Charta, wie sich aus ihrem Art. 51 Abs. 1 ergibt, von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts zu berücksichtigen ist.
Da es sich bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung um eine solche Durchführung der Richtlinie 2003/88 handelt, ist im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta auszulegen, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie einer solchen Regelung entgegensteht.
Drittens ist in Bezug auf den Zweck der Richtlinie 2003/88 darauf hinzuweisen, dass deren Zielsetzung gemäß ihrem vierten Erwägungsgrund in der Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit besteht. Im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie wird präzisiert, dass die Arbeitnehmer angemessene Ruhezeiten erhalten sollten.
In diesem Kontext sieht Art. 1 der Richtlinie 2003/88 vor, dass diese Richtlinie Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung enthält, insbesondere, was den Mindestjahresurlaub angeht.
In Anbetracht dieser Ziele hat der Gerichtshof entschieden, dass mit dem in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 verankerten Anspruch auf Jahresurlaub ein doppelter Zweck verfolgt wird, der darin besteht, dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca SpA, C-762/18 und C-37/19, EU:C:2020:504, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Arbeitnehmer muss normalerweise über eine tatsächliche Ruhezeit verfügen können, damit ein wirksamer Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit sichergestellt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn. 23).
Folglich ist die Schaffung eines Anreizes, auf den Erholungsurlaub zu verzichten oder die Arbeitnehmer dazu anzuhalten, darauf zu verzichten, mit den Zielen unvereinbar, die mit dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub verfolgt werden und u. a. darin bestehen, zu gewährleisten, dass der Arbeitnehmer zum wirksamen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit über eine tatsächliche Ruhezeit verfügt. Demnach verstößt auch jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf bezahlten Jahresurlaub verfolgte Ziel (Urteil vom 6. November 2018, Kreuziger, C-619/16, EU:C:2018:872, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Aus diesem Grund hat der Gerichtshof ausgeführt, dass der Erhalt des gewöhnlichen Arbeitsentgelts während des bezahlten Jahresurlaubs dem Arbeitnehmer ermöglichen soll, den Urlaub, auf den er Anspruch hat, tatsächlich zu nehmen. Ist das aufgrund des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 gezahlte Entgelt geringer als das gewöhnliche Entgelt, das der Arbeitnehmer in Zeiträumen tatsächlicher Arbeitsleistung erhält, könnte dieser aber veranlasst sein, seinen bezahlten Jahresurlaub nicht zu nehmen, zumindest nicht in solchen Arbeitszeiträumen, da dies dann zu einer Verringerung seines Entgelts führen würde (Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein, C-385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Ebenso hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass ein Arbeitnehmer aufgrund eines finanziellen Nachteils möglicherweise davon absieht, sein Recht auf Jahresurlaub auszuüben, selbst wenn dieser Nachteil mit zeitlicher Verzögerung eintritt, nämlich in der auf den Jahresurlaub folgenden Zeit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2014, Lock, C-539/12, EU:C:2014:351, Rn. 21).
Im vorliegenden Fall scheint das vorlegende Gericht davon auszugehen, dass § 4.1.2. MTV einen Arbeitnehmer davon abhalten könnte, seinen bezahlten Jahresurlaub in Anspruch zu nehmen, da diese Vorschrift vorsieht, dass im Hinblick auf den etwaigen Erhalt eines Mehrarbeitszuschlags bei der Feststellung, ob die Schwelle der normalen monatlichen Arbeitszeit vom Arbeitnehmer überschritten wurde, nur die geleisteten Stunden angerechnet werden können.
Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens im August 2017 an den ersten 13 Arbeitstagen 121,75 Stunden arbeitete und für die verbleibenden zehn Arbeitstage dieses Monats Jahresurlaub nahm. Hätte er hingegen während dieser letzten zehn Tage gearbeitet, so hätte er über diese 121,75 Stunden hinaus noch 84,7 Arbeitsstunden erbracht, so dass sich die Arbeitszeit im genannten Monat, vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen, auf 206,45 Stunden belaufen und die zu Mehrarbeitszuschlägen berechtigende Schwelle um 22,45 Stunden überschritten hätte.
Da jedoch gemäß § 4.1.2. MTV der Monat als Bezugseinheit dient, um die Schwelle des für einen Mehrarbeitszuschlag berücksichtigten Stundenvolumens zu bestimmen, hat die Tatsache, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens in dem Monat Jahresurlaub genommen hat, in dem er Überstunden geleistet hat, zur Folge, dass gemäß diesem § 4.1.2. der monatliche Schwellenwert von 184 Stunden nicht erreicht wurde.
Unter diesen Umständen war das Entgelt des Klägers des Ausgangsverfahrens für August 2017 aufgrund der Ausübung seines Urlaubsanspruchs niedriger als das Entgelt, das er bekommen hätte, wenn er in diesem Monat keinen Urlaub genommen hätte.
In gleicher Weise könnte die Anwendung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Tarifvertrags auch dann, wenn ein Arbeitnehmer am Monatsanfang Urlaub nimmt, für diesen Monat ein geringeres Entgelt zur Folge haben, da die von diesem Arbeitnehmer gegebenenfalls im Anschluss an seinen Urlaub geleisteten Überstunden durch die zu Beginn des Monats genommenen Urlaubstage neutralisiert werden könnten. Wie aber in Rn. 34 des vorliegenden Urteils erwähnt, kann es sein, dass der Arbeitnehmer aufgrund eines finanziellen Nachteils, der mit zeitlicher Verzögerung, nämlich in der auf den Jahresurlaub folgenden Zeit, eintritt, davon absieht, sein Recht auf Jahresurlaub auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2014, Lock, C-539/12, EU:C:2014:351, Rn. 21).
Somit ist ein Mechanismus zur Anrechnung von Arbeitsstunden, wie er im Ausgangsverfahren in Rede steht und bei dem die Inanspruchnahme von Urlaub für den Arbeitnehmer ein geringeres Entgelt nach sich ziehen kann, da dieses um den für tatsächlich geleistete Überstunden vorgesehenen Zuschlag beschnitten wird, dazu geeignet, den Arbeitnehmer davon abzuhalten, in dem Monat, in dem er Überstunden erbracht hat, von seinem Recht auf bezahlten Jahresurlaub Gebrauch zu machen; dies im Ausgangsverfahren zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Wie aber in Rn. 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verstößt jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, seinen Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf bezahlten Jahresurlaub verfolgte Ziel.
Diese Feststellung kann auch nicht durch den vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand in Frage gestellt werden, dass der Erwerb des Anspruchs auf einen Mehrarbeitszuschlag nach § 4.1.2. MTV an tatsächlich „geleistete“ Arbeitsstunden gebunden ist. Denn vorbehaltlich der von diesem Gericht insoweit vorzunehmenden Prüfungen steht zwar fest, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens Überstunden geleistet hat, denen ein Zuschlag von 25 % zuzuordnen war, aber der Anspruch auf einen Mehrarbeitszuschlag wurde durch die Tatsache neutralisiert, dass der Monat als Bezugseinheit dient, um die Schwelle des für einen solchen Zuschlag berücksichtigten Stundenvolumens zu bestimmen, und der Kläger in dem Monat von seinem Recht auf bezahlten Jahresurlaub Gebrauch gemacht hat, in dem er die Überstunden geleistet hat.
Im Übrigen hat sich der Gerichtshof, wie vom vorlegenden Gericht dargelegt, in der Rechtssache, in der das Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein (C-385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 47), ergangen ist, mit der Frage befasst, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen von einem Arbeitnehmer geleistete Überstunden bei der Berechnung des gewöhnlichen Arbeitsentgelts, das der Arbeitnehmer für den in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen bezahlten Jahresurlaub beanspruchen kann, berücksichtigt werden müssen, damit der Arbeitnehmer während dieses Urlaubs in den Genuss wirtschaftlicher Bedingungen kommt, die mit denen vergleichbar sind, die ihm bei Ausübung seiner Arbeit zugutekommen.
Hierbei handelt es sich jedoch um eine andere Frage als jene nach der Schwelle, die für die Bezahlung des Mehrarbeitszuschlags für die vom Arbeitnehmer innerhalb eines bestimmten monatlichen Zeitraums wie dem hier in Rede stehenden tatsächlich geleisteten Überstunden erforderlich ist, so dass die vom Gerichtshof in Rn. 47 jenes Urteils genannten Voraussetzungen, die das gewöhnliche, im Hinblick auf den bezahlten Jahresurlaub geschuldete Arbeitsentgelt betreffen, hier nicht maßgeblich sind.
Folglich ist ein Mechanismus zur Anrechnung von Arbeitsstunden wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht mit dem in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vereinbar.
Nach alledem ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass er einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegensteht, nach der für die Berechnung, ob die Schwelle der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit erreicht ist, die Stunden, die dem vom Arbeitnehmer in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaub entsprechen, nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt werden.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegensteht, nach der für die Berechnung, ob die Schwelle der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit erreicht ist, die Stunden, die dem vom Arbeitnehmer in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaub entsprechen, nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt werden.
Ziemele
von Danwitz
Kumin
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. Januar 2022.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident
K. Lenaerts
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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