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EuGH 15.09.2015 - C-67/14
EuGH 15.09.2015 - C-67/14 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) - 15. September 2015 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung — Freizügigkeit — Unionsbürgerschaft — Gleichbehandlung — Richtlinie 2004/38/EG — Art. 24 Abs. 2 — Sozialhilfe — Verordnung (EG) Nr. 883/2004 — Art. 4 und 70 — Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen — Arbeitsuchende Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die sich im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten — Ausschluss — Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft“
Leitsatz
In der Rechtssache C-67/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundessozialgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 12. Dezember 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Februar 2014, in dem Verfahren
Jobcenter Berlin Neukölln
gegen
Nazifa Alimanovic,
Sonita Alimanovic,
Valentina Alimanovic,
Valentino Alimanovic
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, L. Bay Larsen, T. von Danwitz, A. Ó Caoimh, J.-C. Bonichot und C. Vajda, der Richter E. Levits und A. Arabadjiev, der Richterinnen C. Toader und M. Berger (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund und J. L. da Cruz Vilaça,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Februar 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Nazifa Alimanovic, Sonita Alimanovic, Valentina Alimanovic und Valentino Alimanovic, vertreten durch Rechtsanwalt D. Mende und Rechtsanwältin E. Steffen,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
der dänischen Regierung, vertreten durch M. Wolff als Bevollmächtigte,
von Irland, vertreten durch E. Creedon, A. Joyce und E. McPhillips als Bevollmächtigte im Beistand von G. Gilmore, BL,
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und R. Coesme als Bevollmächtigte,
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Varrone, avvocato dello Stato,
der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, K. Sparrman, C. Meyer-Seitz, U. Persson, N. Otte Widgren, L. Swedenborg, E. Karlsson und F. Sjövall als Bevollmächtigte,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Beeko als Bevollmächtigte im Beistand von J. Coppel, QC,
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer und D. Martin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. März 2015
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 AEUV und Art. 45 Abs. 2 AEUV, der Art. 4 und 70 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1244/2010 der Kommission vom 9. Dezember 2010 (ABl. L 338, S. 35) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) sowie von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Jobcenter Berlin Neukölln (im Folgenden: Jobcenter) auf der einen und Nazifa Alimanovic und ihren drei Kindern Sonita, Valentina und Valentino Alimanovic (im Folgenden zusammen: Familie Alimanovic) auf der anderen Seite wegen der Aufhebung der Bewilligung von in den deutschen Rechtsvorschriften vorgesehenen Leistungen der Grundsicherung durch das Jobcenter.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens, das von den Mitgliedern des Europarats am 11. Dezember 1953 in Paris unterzeichnet wurde und in der Bundesrepublik Deutschland seit 1956 gilt (im Folgenden: Fürsorgeabkommen), stellt ein Gleichbehandlungsgebot mit folgendem Wortlaut auf:
„Jeder der Vertragschließenden verpflichtet sich, den Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge … zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.“
Nach Art. 16 Buchst. b des Fürsorgeabkommens hat „[j]eder Vertragschließende … dem Generalsekretär des Europarates alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden machen“. Der von der deutschen Regierung am 19. Dezember 2011 gemäß dieser Vorschrift erklärte Vorbehalt hat folgenden Wortlaut:
„Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland übernimmt keine Verpflichtung, die im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende [im Folgenden: SGB II] – in der jeweils geltenden Fassung vorgesehenen Leistungen an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden.“
Dieser Vorbehalt wurde den übrigen vertragschließenden Parteien des Fürsorgeabkommens gemäß dessen Art. 16 Buchst. c zur Kenntnis gebracht.
Unionsrecht
Die Verordnung Nr. 883/2004
Art. 4 („Gleichbehandlung“) der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:
„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.“
Art. 70 („Allgemeine Vorschrift“) der Verordnung Nr. 883/2004 steht in Kapitel 9 („Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“) des Titels III dieser Verordnung. Er sieht vor:
„(1) Dieser Artikel gilt für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, die nach Rechtsvorschriften gewährt werden, die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen.
(2) Für die Zwecke dieses Kapitels bezeichnet der Ausdruck ‚besondere beitragsunabhängige Geldleistungen‘ die Leistungen:
die dazu bestimmt sind:
einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken zu gewähren, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind, und den betreffenden Personen ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantieren, das in Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat steht,
oder
allein dem besonderen Schutz des Behinderten zu dienen, der eng mit dem sozialen Umfeld dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat verknüpft ist,
und
deren Finanzierung ausschließlich durch obligatorische Steuern zur Deckung der allgemeinen öffentlichen Ausgaben erfolgt und deren Gewährung und Berechnung nicht von Beiträgen hinsichtlich der Leistungsempfänger abhängen. Jedoch sind Leistungen, die zusätzlich zu einer beitragsabhängigen Leistung gewährt werden, nicht allein aus diesem Grund als beitragsabhängige Leistungen zu betrachten,
und
die in Anhang X aufgeführt sind.
(3) Artikel 7 und die anderen Kapitel dieses Titels gelten nicht für die in Absatz 2 des vorliegenden Artikels genannten Leistungen.
(4) Die in Absatz 2 genannten Leistungen werden ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach dessen Rechtsvorschriften gewährt. Die Leistungen werden vom Träger des Wohnorts und zu seinen Lasten gewährt.“
In Anhang X („Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“) der Verordnung Nr. 883/2004 sind für die Bundesrepublik Deutschland folgende Leistungen aufgeführt:
„…
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitssuchende, soweit für diese Leistungen nicht dem Grunde nach die Voraussetzungen für den befristeten Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld (§ 24 Absatz 1 [SGB II]) erfüllt sind.“
Die Richtlinie 2004/38
In den Erwägungsgründen 10, 16 und 21 der Richtlinie 2004/38 heißt es:
Allerdings sollten Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Daher sollte das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen.
…
Solange die Aufenthaltsberechtigten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, sollte keine Ausweisung erfolgen. Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen sollte daher nicht automatisch zu einer Ausweisung führen. Der Aufnahmemitgliedstaat sollte prüfen, ob es sich bei dem betreffenden Fall um vorübergehende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und den gewährten Sozialhilfebetrag berücksichtigen, um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger die Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen hat, und in diesem Fall seine Ausweisung zu veranlassen. In keinem Fall sollte eine Ausweisungsmaßnahme gegen Arbeitnehmer, Selbstständige oder Arbeitssuchende in dem vom Gerichtshof definierten Sinne erlassen werden, außer aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit.
…
Allerdings sollte es dem Aufnahmemitgliedstaat überlassen bleiben, zu bestimmen, ob er anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, die diesen Status beibehalten, und ihren Familienangehörigen Sozialhilfe während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder im Falle von Arbeitssuchenden für einen längeren Zeitraum gewährt oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Unterhaltsbeihilfen für die Zwecke des Studiums, einschließlich einer Berufsausbildung, gewährt.“
Art. 7 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen …
…
(3) Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a) bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten:
Er ist wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig;
er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung;
er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung; in diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten;
er beginnt eine Berufsausbildung; die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft setzt voraus, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren.“
Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) der Richtlinie 2004/38 lautet:
„(1) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach Artikel 6 zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.
(2) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.
In bestimmten Fällen, in denen begründete Zweifel bestehen, ob der Unionsbürger oder seine Familienangehörigen die Voraussetzungen der Artikel 7, 12 und 13 erfüllen, können die Mitgliedstaaten prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Prüfung wird nicht systematisch durchgeführt.
(3) Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat darf nicht automatisch zu einer Ausweisung führen.
(4) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 und unbeschadet der Bestimmungen des Kapitels VI darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden, wenn
die Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder
die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.“
Art. 24 („Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2004/38 sieht vor:
„(1) Vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen.
(2) Abweichend von Absatz 1 ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b) einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren.“
Deutsches Recht
Das Sozialgesetzbuch
§ 19a Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs Erstes Buch sieht folgende zwei Hauptarten von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende vor:
„Nach dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende können in Anspruch genommen werden
Leistungen zur Eingliederung in Arbeit,
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.“
§ 1 („Aufgabe und Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende“) SGB II bestimmt in den Abs. 1 und 3:
„(1) Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.
…
(3) Die Grundsicherung für Arbeitsuchende umfasst Leistungen
zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Eingliederung in Arbeit und
zur Sicherung des Lebensunterhalts.“
In § 7 („Leistungsberechtigte“) SGB II heißt es:
„(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
erwerbsfähig sind,
hilfebedürftig sind und
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben
(erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Ausgenommen sind
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des [Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern, im Folgenden: FreizügG/EU] freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen,
…
Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.
…“
§ 8 („Erwerbsfähigkeit“) Abs. 1 SGB II lautet:
„Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.“
§ 9 Abs. 1 SGB II bestimmt:
„Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.“
§ 20 SGB II enthält ergänzende Bestimmungen über den Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts. § 21 SGB II regelt die Mehrbedarfe und § 22 SGB II die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Die §§ 28 bis 30 SGB II schließlich regeln die Leistungen für Bildung und Teilhabe.
In § 1 des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (im Folgenden: SGB XII) heißt es:
„Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. …“
§ 21 SGB XII bestimmt:
„Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt …“
Das FreizügG/EU
Der Anwendungsbereich des FreizügG/EU in seiner zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung war in dessen § 1 geregelt:
„Dieses Gesetz regelt die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) und ihrer Familienangehörigen.“
§ 2 FreizügG/EU sah hinsichtlich des Rechts auf Einreise und Aufenthalt Folgendes vor:
„(1) Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.
(2) Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind:
Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitsuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen,
…
nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4,
Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4,
…
(3) Das Recht nach Absatz 1 bleibt für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige unberührt bei
vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall,
unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit,
Aufnahme einer Berufsausbildung, wenn zwischen der Ausbildung und der früheren Erwerbstätigkeit ein Zusammenhang besteht; der Zusammenhang ist nicht erforderlich, wenn der Unionsbürger seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren hat.
Bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung bleibt das Recht aus Absatz 1 während der Dauer von sechs Monaten unberührt.
…“
§ 3 („Familienangehörige“) FreizügG/EU bestimmte:
„(1) Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 genannten Unionsbürger haben das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Für Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 genannten Unionsbürger gilt dies nach Maßgabe des § 4.
(2) Familienangehörige sind
der Ehegatte und die Verwandten in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten, die noch nicht 21 Jahre alt sind,
die Verwandten in aufsteigender und in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten, denen diese Personen oder ihre Ehegatten Unterhalt gewähren.
…“
§ 5 FreizügG/EU sah in Bezug auf Aufenthaltskarten und die Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht vor:
„(1) Freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union wird von Amts wegen unverzüglich eine Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht ausgestellt.
…
(3) Die zuständige Ausländerbehörde kann verlangen, dass die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 drei Monate nach der Einreise glaubhaft gemacht werden. Für die Glaubhaftmachung erforderliche Angaben und Nachweise können von der zuständigen Meldebehörde bei der meldebehördlichen Anmeldung entgegengenommen werden. Diese leitet die Angaben und Nachweise an die zuständige Ausländerbehörde weiter …
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Nazifa Alimanovic, die 1966 geboren wurde, und ihre 1994, 1998 und 1999 geborenen Kinder, Sonita, Valentina und Valentino, besitzen alle die schwedische Staatsangehörigkeit. Frau Alimanovic kam in Bosnien zur Welt, alle ihre Kinder wurden in Deutschland geboren.
Aus dem Vorabentscheidungsersuchen, das allerdings weder das genaue Ausreisedatum noch den Ausreisegrund nennt, geht hervor, dass die Familie Alimanovic Deutschland 1999 verließ, um nach Schweden zu gehen, und im Juni 2010 nach Deutschland zurückkehrte.
Am 1. Juli 2010 wurde den Mitgliedern der Familie Alimanovic eine unbefristete Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt. Nach ihrer Ankunft in Deutschland waren Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita, die im Sinne der deutschen Rechtsvorschriften erwerbsfähig waren, zwischen Juni 2010 und Mai 2011 weniger als ein Jahr in kürzeren Beschäftigungen bzw. Arbeitsgelegenheiten tätig.
Für den Zeitraum vom 1. Dezember 2011 bis zum 31. Mai 2012 wurden Frau Alimanovic Kindergeld für ihre Kinder Valentina und Valentino sowie, ebenso wie ihrer Tochter Sonita, Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, nämlich Arbeitslosengeld II genannte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Langzeitarbeitslose, bewilligt; außerdem wurde ihr Sozialgeld für nicht erwerbstätige Leistungsberechtigte zugunsten der beiden anderen Kinder, Valentina und Valentino, bewilligt (im Folgenden zusammen: streitige Leistungen).
Bei der Gewährung der streitigen Leistungen für diesen Zeitraum ging das Jobcenter davon aus, dass die in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vorgesehene Ausschlussregelung für arbeitsuchende Unionsbürger auf die Familie Alimanovic nicht anwendbar sei, da diese Ausschlussregelung wegen des in Art. 1 des Fürsorgeabkommens vorgesehenen Gleichbehandlungsgebots auf die Mitglieder dieser Familie als schwedische Staatsangehörige nicht angewandt werden dürfe. Mit Urteil vom 19. Oktober 2010 hatte das Bundessozialgericht nämlich entschieden, dass die sich aus dieser Vorschrift ergebende Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, den Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden, die sich in irgendeinem Teil ihres Gebiets erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie ihren eigenen Staatsangehörigen Fürsorgeleistungen zu gewähren, auch die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den §§ 19 ff. SGB II einschließt.
Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch ist ein Verwaltungsakt jedoch mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass dieses Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Hinsichtlich der Gewährung von Leistungen auf der Grundlage von Art. 1 des Fürsorgeabkommens ist im Mai 2012 infolge des von der deutschen Regierung am 19. Dezember 2011 in Bezug auf dieses Abkommen erklärten Vorbehalts eine Änderung eingetreten. Aufgrund dessen hob das Jobcenter die Entscheidung über die Gewährung der streitigen Leistungen für Mai 2012 in vollem Umfang auf.
Auf eine Klage der Familie Alimanovic hin hob das Sozialgericht Berlin diese Entscheidung auf und entschied insbesondere, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita Anspruch auf die sie betreffenden streitigen Leistungen hätten; dieser Anspruch ergebe sich u. a. aus Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004, der jede Diskriminierung von Unionsbürgern gegenüber den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats verbiete, in Verbindung mit Art. 70 dieser Verordnung, der besondere beitragsunabhängige Geldleistungen wie die betreffe, um die es in der bei ihm anhängig gemachten Klage gehe.
Mit seinem bei dem vorlegenden Gericht eingelegten Rechtsmittel macht das Jobcenter insbesondere geltend, bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II handele es sich um Leistungen der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, so dass Arbeitsuchende vom Anspruch auf diese Leistungen ausgeschlossen werden könnten.
Das vorlegende Gericht weist u. a. darauf hin, dass sich Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita – nach den für das vorlegende Gericht bindenden Feststellungen des Sozialgerichts Berlin – nicht mehr auf ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerinnen nach § 2 FreizügG/EU hätten berufen können. Seit Juni 2010 seien sie nämlich nur in kürzeren Beschäftigungen oder im Rahmen von ihnen zugewiesenen Arbeitsgelegenheiten für weniger als ein Jahr und seit Mai 2011 überhaupt nicht mehr abhängig oder selbständig tätig gewesen.
Unter Hinweis auf das Urteil Vatsouras und Koupatantze (C-22/08 und C-23/08, EU:C:2009:344) vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, aus § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU ergebe sich bei einer Auslegung unter Berücksichtigung von Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita keine Arbeitnehmerinnen oder Selbständige mehr seien und daher als arbeitsuchend im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU angesehen werden müssten.
Dementsprechend seien insbesondere Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – der Personen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von dem Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz ausnimmt – von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Langzeitarbeitslose ausgeschlossen worden.
Das vorlegende Gericht wirft infolgedessen zum einen die Frage auf, ob diese Bestimmung des SGB II gegen das in Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Gleichbehandlungsgebot verstößt.
Zum anderen fragt es sich, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als zulässige Umsetzung von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 in das innerstaatliche Recht angesehen werden kann oder ob, falls diese Vorschrift des Unionsrechts nicht anwendbar sein sollte, der genannten Bestimmung des SGB II Art. 45 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 18 AEUV entgegensteht.
Unter diesen Umständen hat das Bundessozialgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Gilt das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 – mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 – auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 883/2004?
Falls Frage 1 bejaht wird: Sind – gegebenenfalls in welchem Umfang – Einschränkungen des Gleichbehandlungsgebots des Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 durch Bestimmungen in nationalen Rechtsvorschriften in Umsetzung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 möglich, nach denen der Zugang zu diesen Leistungen ausnahmslos nicht besteht, wenn sich ein Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers in dem anderen Mitgliedstaat allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt?
Steht Art. 45 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 18 AEUV einer nationalen Bestimmung entgegen, die Unionsbürgern, die sich als Arbeitsuchende auf die Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts berufen können, eine Sozialleistung, die der Existenzsicherung dient und gleichzeitig auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, ausnahmslos für die Zeit eines Aufenthaltsrechts nur zur Arbeitsuche und unabhängig von der Verbindung mit dem Aufnahmestaat verweigert?
Mit Schreiben vom 26. November 2014 hat die Kanzlei des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht das Urteil Dano (C-333/13, EU:C:2014:2358) übermittelt und um Mitteilung ersucht, ob es angesichts der Nr. 1 des Tenors dieses Urteils die erste Vorlagefrage aufrechterhalten wolle. Mit Beschluss vom 11. Februar 2015, der bei der Kanzlei des Gerichtshofs am 19. Februar 2015 eingegangen ist, hat das Bundessozialgericht die erste Vorlagefrage für erledigt erklärt.
Zu den Vorlagefragen
Zur Einstufung der streitigen Leistungen
Ausweislich der dem Gerichtshof übermittelten Akten geht das vorlegende Gericht davon aus, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchende haben und dass es durch die diesbezüglichen Tatsachenfeststellungen des Tatsachengerichts gebunden ist.
Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob eine nationale Regelung, die arbeitsuchende Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter Leistungen ausschließt, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, mit Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 sowie mit Art. 18 AEUV und Art. 45 Abs. 2 AEUV vereinbar ist.
Anhand welcher Regel die entsprechende Vereinbarkeit zu beurteilen ist, hängt davon ab, ob sie als Leistungen der Sozialhilfe oder als Maßnahmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, einzustufen sind; daher ist ihre Einstufung erforderlich.
Insoweit genügt jedoch die Feststellung, dass das vorlegende Gericht selbst die im Ausgangsverfahren streitigen Leistungen als „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 eingestuft hat. Es führt insoweit aus, dass diese Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts von Personen dienten, die ihn nicht selbst bestreiten könnten, und beitragsunabhängig durch Steuermittel finanziert würden. Da die betreffenden Leistungen auch in Anhang X der Verordnung Nr. 883/2004 erwähnt werden, erfüllen sie die Voraussetzungen von Art. 70 Abs. 2 dieser Verordnung, selbst wenn sie Teil eines Systems sind, das außerdem Leistungen zur Erleichterung der Arbeitsuche vorsieht.
Unbeschadet dessen ist darauf hinzuweisen, dass solche Leistungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch unter den Begriff „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 fallen. Dieser Begriff bezieht sich nämlich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann (Urteil Dano, C-333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 63).
Im vorliegenden Fall ist im Übrigen festzustellen, dass – wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – die überwiegende Funktion der in Rede stehenden Leistungen gerade darin besteht, das Minimum an Existenzmitteln zu gewährleisten, das erforderlich ist, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich somit, dass die betreffenden Leistungen nicht als finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen, eingestuft werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil Vatsouras und Koupatantze, C-22/08 und C-23/08, EU:C:2009:344, Rn. 45), sondern als „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 anzusehen sind, wie der Generalanwalt in den Nrn. 66 bis 71 seiner Schlussanträge festgestellt hat.
Daher ist die dritte Vorlagefrage nicht zu beantworten.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats Arbeit suchen, vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.
Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ein Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen wie den im Ausgangsverfahren streitigen eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 erfüllt (Urteil Dano, C-333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 69).
Ließe man nämlich zu, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten, liefe dies dem im zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie genannten Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern (Urteil Dano, C-333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 74).
Um feststellen zu können, ob Sozialhilfeleistungen wie die streitigen Leistungen auf der Grundlage der Ausnahmebestimmung von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 verweigert werden dürfen, muss daher vorab geprüft werden, ob der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie anwendbar ist, und damit, ob sich der betreffende Unionsbürger rechtmäßig im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält.
Nur zwei Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 kommen in Betracht, Arbeitsuchenden in der Situation von Frau Alimanovic und ihrer Tochter Sonita möglicherweise ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat nach dieser Richtlinie zu verleihen, nämlich ihr Art. 7 Abs. 3 Buchst. c und ihr Art. 14 Abs. 4 Buchst. b.
Nach Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 bleibt einem Erwerbstätigen, wenn er sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt, seine Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens sechs Monate aufrechterhalten. Während dieses Zeitraums behält der betreffende Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat sein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 dieser Richtlinie und kann sich folglich auf das in ihrem Art. 24 Abs. 1 verankerte Gleichbehandlungsgebot berufen.
Dementsprechend hat der Gerichtshof im Urteil Vatsouras und Koupatantze (C-22/08 und C-23/08, EU:C:2009:344, Rn. 32) entschieden, dass Unionsbürger, die die Erwerbstätigeneigenschaft gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 behalten haben, während des genannten Zeitraums von mindestens sechs Monaten Anspruch auf Sozialhilfeleistungen wie die streitigen Leistungen haben.
Wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge darlegt, ist indessen unbestritten, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita, denen die Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens sechs Monate nach dem Ende ihrer letzten Beschäftigung erhalten blieb, diese Eigenschaft zu dem Zeitpunkt, zu dem ihnen die Gewährung der streitigen Leistungen versagt wurde, nicht mehr besaßen.
Hinsichtlich der Frage, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 für Unionsbürger, die sich in der Situation von Frau Alimanovic und ihrer Tochter Sonita befinden, ein Aufenthaltsrecht nach dieser Richtlinie begründen kann, ist dieser Vorschrift zu entnehmen, dass ein Unionsbürger, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, um Arbeit zu suchen, nicht ausgewiesen werden darf, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.
Zwar können Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita dem vorlegenden Gericht zufolge aus dieser Vorschrift auch nach Ablauf des in Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 genannten Zeitraums für die Dauer des von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie abgedeckten Zeitraums ein Aufenthaltsrecht ableiten, das ihnen einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich des Zugangs zu Sozialhilfeleistungen verschafft; der Aufnahmemitgliedstaat kann sich in diesem Fall aber auf die Ausnahmebestimmung von Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie berufen, um dem betreffenden Unionsbürger die beantragte Sozialhilfe nicht zu gewähren.
Aus der in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgenommenen Verweisung auf deren Art. 14 Abs. 4 Buchst. b ergibt sich nämlich ausdrücklich, dass der Aufnahmemitgliedstaat einem Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht allein aufgrund der letztgenannten Vorschrift zusteht, jegliche Sozialhilfeleistung verweigern darf.
Zwar hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Mitgliedstaat die persönlichen Umstände des Betreffenden berücksichtigen muss, wenn er eine Ausweisung veranlassen oder feststellen will, dass diese Person im Rahmen ihres Aufenthalts dem Sozialhilfesystem eine unangemessene Belastung verursacht (Urteil Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, Rn. 64, 69 und 78); eine solche individuelle Prüfung ist aber bei einer Fallgestaltung wie der des Ausgangsverfahrens nicht erforderlich.
Die Richtlinie 2004/38, die ein abgestuftes System für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft schafft, das das Aufenthaltsrecht und den Zugang zu Sozialleistungen sichern soll, berücksichtigt nämlich selbst verschiedene Faktoren, die die jeweiligen persönlichen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichnen, insbesondere die Dauer der Ausübung einer Erwerbstätigkeit.
Das Kriterium, auf das sowohl § 7 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 2 Abs. 3 FreizügG/EU als auch Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 abstellen, nämlich ein Zeitraum von sechs Monaten nach Beendigung einer Erwerbstätigkeit, in dem der Anspruch auf Sozialhilfe aufrechterhalten bleibt, ermöglicht es den Betroffenen, ihre Rechte und Pflichten eindeutig zu erfassen; folglich ist es geeignet, bei der Gewährung von Sozialhilfeleistungen im Rahmen der Grundsicherung ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit und Transparenz zu gewährleisten, und steht zugleich im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Was zudem die individuelle Prüfung angeht, mit der eine umfassende Beurteilung der Frage vorgenommen werden soll, welche Belastung die Gewährung einer Leistung konkret für das gesamte im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Sozialhilfesystem darstellen würde, ist festzustellen, dass die einem einzigen Antragsteller gewährte Hilfe schwerlich als „unangemessene Inanspruchnahme“ eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 eingestuft werden kann; eine solche Inanspruchnahme kann nämlich den betreffenden Mitgliedstaat nicht infolge eines einzelnen Antrags, sondern nur nach Aufsummierung sämtlicher bei ihm gestellten Einzelanträge belasten.
Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 24 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in der von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 erfassten Situation befinden, vom Bezug bestimmter„besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG und Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1244/2010 der Kommission vom 9. Dezember 2010 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in der von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 erfassten Situation befinden, vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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