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BSG 28.08.2018 - B 8 SO 13/18 B
BSG 28.08.2018 - B 8 SO 13/18 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Absehen von der Bestellung eines besonderen Vertreters - keine offensichtliche Haltlosigkeit des Klagebegehrens - absoluter Revisionsgrund
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 72 Abs 1 SGG, § 71 Abs 1 SGG, § 104 Nr 2 BGB, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 4 ZPO
Vorinstanz
vorgehend SG Mainz, 24. Februar 2017, Az: S 12 SO 8/08, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, 30. Mai 2017, Az: L 1 SO 3/17, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. Mai 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Der 1961 geborene Kläger, der nicht unter Betreuung steht, bezieht Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). In dem vor dem Sozialgericht (SG) Mainz geführten Klageverfahren hat er (zusammengefasst formuliert) die Anerkennung etwaiger Herstellungsansprüche aufgrund Untätigkeit bzw fehlerhafter Beratung und Nichthilfen, die Verurteilung zu Beratung und Besprechung seiner Ansprüche, die Anerkennung der Möglichkeit falscher Datenspeicherung, die Verurteilung zum Tätigwerden von Amts wegen auf seine Anträge hin sowie zum Unterbinden aller Nachteile, welche ihm durch falsche und einseitige Daten entstehen, die Verpflichtung nach Feststellung der Rechtswidrigkeit von Datenspeicherungen, die Erfassung des ihm entstandenen Schadens und einen sachgerechten Schadensausgleich sowie die Überprüfung von Befangenheitssorgen einer Mitarbeiterin und eines Bürgermeisters beantragt. Das SG hat die Klage als offensichtlich unzulässig abgewiesen, weil die vom Kläger gestellten Anträge zu unbestimmt oder subsidiär seien. Es könne daher offenbleiben, ob von einer Prozessunfähigkeit des Klägers auszugehen sei (Gerichtsbescheid vom 30.12.2016; den Antrag des Klägers auf Urteilsergänzung ablehnender weiterer Gerichtsbescheid vom 24.2.2017). Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufungen des Klägers als unzulässig verworfen (Urteil vom 30.5.2017). Zwar sei der Kläger zumindest partiell prozessunfähig; es sei jedoch nicht im Ansatz die Möglichkeit ersichtlich, dass ein besonderer Vertreter die Zulässigkeit einer Klage erreichen könnte. Angesichts dessen sei die Bestellung eines besonderen Vertreters nicht erforderlich gewesen.
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Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil rügt der Kläger durch seinen vom Senat bestellten besonderen Vertreter als Verfahrensmangel, dass das LSG zu Unrecht die Bestellung eines besonderen Vertreters nicht vorgenommen habe. Sie könne trotz erwiesener (partieller) Prozessunfähigkeit nur bei zweifellos aussichtsloser und abwegiger Rechtsverfolgung unterbleiben. Der dabei anzulegende strenge Maßstab sei hier nicht erfüllt. Jedenfalls der erste Antrag, mit welchem er sinngemäß vorgetragen habe, dass verschiedene Anträge von ihm nicht bearbeitet worden seien, hätte unter Zugrundelegung des Grundsatzes der Meistbegünstigung als ein auf eine Beendigung der Untätigkeit der Behörde gerichtetes Prozesshandeln verstanden werden können. Diesem Begehren habe bei fehlerfreier Betrachtung ein Rechtsschutzbedürfnis nicht abgesprochen werden können. Wenn sich bei mehreren Streitgegenständen zumindest einer als nicht offensichtlich haltlos erweise, so sei für das gesamte Verfahren ein besonderer Vertreter zu bestellen (unter Verweis auf BSGE 91, 146 ff).
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II. Die durch den besonderen Vertreter des Klägers (Beschluss des Senats vom 18.10.2017) und Prozessbevollmächtigten eingelegte Beschwerde ist zulässig und begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters für den bereits im Klage- und Berufungsverfahren prozessunfähigen Kläger abgesehen hat. Dieser war dadurch in der mündlichen Verhandlung beim LSG, auf die das Urteil ergangen ist, nicht wirksam vertreten (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 4 Zivilprozessordnung <ZPO>); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht. Das angefochtene Urteil ist deshalb gemäß § 160a Abs 5 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
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Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich gemäß § 104 Nr 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (Bundessozialgericht <BSG> SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65).
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Eine solche partielle Prozessunfähigkeit zur Führung sozialgerichtlicher Verfahren liegt beim Kläger vor. Diese Überzeugung hat der Senat sich bereits im vom Kläger geführten Verfahren B 8 SO 7/16 B auf der Grundlage des Gutachtens von Prof. Dr. B. vom 22.5.2015 gebildet (vgl den Beschluss des Senats vom 21.9.2016). Der Kläger leidet danach unter einem sog Paranoischen Querulantenwahn (Prägnanztyp einer Psychose, die durch ein subjektiv empfundenes Trauma in Gang gesetzt wurde), der ihn dauerhaft und bereits seit vielen Jahren außerstande setzt, sein eigenes Denken infrage zu stellen bzw zu reflektieren. Dies gilt zur Überzeugung des Senats unverändert. Der Kläger ist - unter Berücksichtigung auch seiner in diesem Verfahren selbst verfassten Schriftsätze - weiterhin partiell prozessunfähig. Anhaltspunkte für eine Verbesserung der gesundheitlichen Situation des Klägers sind (wovon im Übrigen auch das LSG ausgegangen ist) weder erkennbar noch vorgetragen.
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Das LSG hätte daher (nach Aufhebung der Vertreterbestellung in der ersten Instanz erneut) einen besonderen Vertreter bestellen müssen. Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, muss dieser grundsätzlich mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet und ein Betreuer nicht bestellt ist (im Einzelnen zuletzt BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 9). Hiervon kann zwar ausnahmsweise abgesehen werden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (BSGE 5, 176, 178 ff); dies kann insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen sein, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht geäußert werden oder wenn das Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 10).
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Eine solche Fallgestaltung liegt hier aber nicht vor. Bei der prozessualen Begründung eines offensichtlich haltlosen Klagebegehrens, wie sie das LSG mit der Annahme einer aus anderen Gründen als der Prozessunfähigkeit unzulässigen Klage seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, ist besondere Zurückhaltung geboten. Die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens und damit die Auslegung von Verfahrensvorschriften hat immer in einem angemessenen Verhältnis zu dem auf Sachverhaltsaufklärung und Verwirklichung des materiellen Rechts gerichteten Verfahrensziel zu stehen. Dies gilt nicht nur für den Weg zu den Gerichten, der nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden darf (vgl BVerfGE 35, 263, 274; 40, 272, 274 f; 77, 275, 284), sondern in gleicher Weise innerhalb des Verfahrens, soweit es darum geht, sich dort effektiv rechtliches Gehör zu verschaffen (BVerfGE 81, 123, 129). Der Einzelne darf nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein; vielmehr muss er vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen (stRspr; BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 12 mwN; grundlegend BVerfGE 1, 418, 429).
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Diesen Maßstäben wird das Vorgehen des LSG bei der Anwendung und Auslegung des § 72 Abs 1 SGG nicht gerecht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass zumindest nach Hinweisen des Vorsitzenden (§ 106 SGG) unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes (vgl nur: BSGE 74, 77 ff = SozR 3-4100 § 104 Nr 11 S 49 ff; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 92 RdNr 12 mwN) ein besonderer Vertreter in der Lage gewesen wäre, im wohlverstandenen Interesse des Klägers (zB hinsichtlich der exemplarisch vom Prozessbevollmächtigten benannten Untätigkeitsbegehren) sachdienliche Klageanträge jedenfalls gegen einen der Beklagten mit hinreichendem Bezug zum materiellen Recht zu formulieren (BSG aaO).
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Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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