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BSG 17.02.2016 - B 6 KA 50/15 B
BSG 17.02.2016 - B 6 KA 50/15 B - Vertragsärztliche Versorgung - Kassenärztliche Vereinigung - Plausibilitätsprüfung - Vergleich mit hypothetischer Gemeinschaftspraxis - Berechnungsweise für die sachlich-rechnerische Richtigstellung - sozialgerichtliches Verfahren - Urteil - Entscheidungsgründe
Normen
§ 128 Abs 1 S 2 SGG, § 136 Abs 1 Nr 6 SGG, § 106a Abs 2 S 1 SGB 5
Vorinstanz
vorgehend SG Berlin, 23. November 2011, Az: S 79 KA 368/09, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 25. März 2015, Az: L 7 KA 5/12, Urteil
Tenor
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 25. März 2015 wird zurückgewiesen.
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Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
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Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 24 959 Euro festgesetzt.
Gründe
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I. Im Streit steht eine sachlich-rechnerische Richtigstellung.
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Der Kläger ist Facharzt für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Gastroenterologie. Von 1986 bis Ende 2006 war er zur vertragsärztlichen Versorgung in B. zugelassen. Seit Juli 1993 bildete der Kläger eine Praxisgemeinschaft mit dem Facharzt für Allgemeinmedizin L., der zuvor seit 1990 als Praxisassistent in der Praxis des Klägers angestellt war. Ab dem 1.1.2005 führte der Kläger seine Praxis als Gemeinschaftspraxis mit Dr. K. Mit Bescheid vom 20.2.2008 idF vom 26.2.2008 hob die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) nach Durchführung einer Plausibilitätsprüfung die Honorarbescheide des Klägers für die Quartale III/2003 bis IV/2004 auf, stellte die Honoraranforderung sachlich-rechnerisch richtig und kürzte das Honorar um insgesamt 24 670,04 Euro; mit weiterem Bescheid vom 20.2.2008 (idF vom 26.2.2008) hob die Beklagte auch den Honorarbescheid für das Quartal I/2005 auf und kürzte das Honorar um 289,12 Euro. Die Rückforderungsbeträge berechnete sie, indem sie die Zahl der Patienten, die den von ihr bestimmten Grenzwert von 60 % identischer Patienten überschritten, mit dem jeweiligen Fallwert multiplizierte. Die hiergegen erhobenen Widersprüche wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheiden vom 24.2.2009 zurück. Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteil des SG vom 23.11.2011, Urteil des LSG vom 25.3.2015).
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Das LSG hat unter Bezugnahme auf das Urteil des SG ausgeführt, das gemeinsame Patientenaufkommen habe in den streitigen sieben Quartalen zwischen 61,2 % und 85 % - im Durchschnitt 72,2 % - betragen. Bei dieser Größenordnung dauerhaft gemeinsamer Patienten habe die Praxisgemeinschaft das Gepräge einer Gemeinschaftspraxis gehabt. Die Koordinierung des Patientenaufkommens zeige sich schon in dem Einlesen der Chipkarten der Patienten beim ersten Besuch der Ärzte im Quartal in beide Praxiscomputer. Die Doppelbehandlungen seien für eine Praxisgemeinschaft überwiegend nicht plausibel begründet. Die Honorarkürzung setze kein Verschulden voraus, da kein Fall vorliege, in dem die Bescheide allein wegen der Unrichtigkeit der Abrechnungssammelerklärung aufgehoben würden. Ob das Honorar sogar höher gewesen wäre, wenn die Ärzte eine Gemeinschaftspraxis geführt hätten, sei unbeachtlich.
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Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil macht der Kläger Rechtsprechungsabweichungen (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG) sowie Verfahrensmängel (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend.
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II. Die Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.
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1. Soweit der Kläger Rechtsprechungsabweichungen geltend macht, ist die Rüge unbegründet, weil das LSG nicht vom Urteil des BSG vom 22.3.2006 (B 6 KA 76/04 R - BSGE 96, 99 = SozR 4-5520 § 33 Nr 6) abgewichen ist. Zwar ist zutreffend, dass nach dem zweiten Leitsatz des genannten Urteils Ärzten im Falle des Gestaltungsmissbrauchs nicht mehr Honorar zustehen soll, als wenn sie in einer Gemeinschaftspraxis tätig geworden wären. Dies ist aber nicht im Sinne einer Obergrenze für die sachlich-rechnerische Richtigstellung zu verstehen (vgl auch SG Marburg Urteil vom 2.4.2014 - S 12 KA 634/12 - RdNr 44 - Juris). Zum einen hat der Senat die Aussage in den Entscheidungsgründen selbst (aaO RdNr 22) durch die Wendung "jedenfalls" relativiert ("steht ihnen jedenfalls nicht mehr an Honorar zu"), zum anderen an anderer Stelle der Entscheidung - als Obersatz - darauf hingewiesen, dass der "auf der pflichtwidrigen Verhaltensweise beruhende Honoraranteil" sachlich-rechnerisch richtiggestellt werden darf (aaO RdNr 12). Der Vergleich mit einer hypothetischen Gemeinschaftspraxis stellt damit eine mögliche, aber keine zwingende Berechnungsweise für die sachlich-rechnerische Richtigstellung dar (in diesem Sinne auch BSG Beschluss vom 6.2.2013 - B 6 KA 43/12 B - RdNr 6 - Juris: "ausgeführt, dass … auf die Abrechnungsregelungen für die Gemeinschaftspraxis zurückgegriffen werden kann").
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Im Übrigen hat der Senat in einer späteren Entscheidung, der ein Fall einer vorgetäuschten Gemeinschaftspraxis zugrunde lag, eine Verpflichtung des Arztes zur vollständigen Erstattung der zu Unrecht erhaltenen Honorare gebilligt und betont, diese Rechtsfolge sei unvermeidlich, um die Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung zu erhalten (BSGE 106, 222 = SozR 4-5520 § 32 Nr 4, RdNr 66 f). Ebenso hat der Senat dort die KÄV als berechtigt angesehen, das verbleibende Honorar im Wege der Schätzung zu ermitteln (BSG aaO RdNr 69-70). Dieser Schätzung muss nicht zwingend ein Vergleich mit einer hypothetischen Gemeinschaftspraxis zugrunde liegen. Dem steht schon entgegen, dass bei einem Missbrauch der Gestaltungsform "Praxisgemeinschaft" nicht allein die für Gemeinschaftspraxen bzw Berufsausübungsgemeinschaften geltenden Regelungen umgangen werden, sondern mit ihm oftmals auch eine nicht medizinisch begründete Fallzahlvermehrung einhergeht; vorliegend wird dies etwa durch den Umstand belegt, dass die Chipkarten der Patienten regelhaft in beiden Praxen eingelesen werden. Die Verpflichtung zur vollständigen Erstattung des zu Unrecht Erlangten besteht selbst dann, wenn bei Wahl der rechtmäßigen Gestaltungsform der Honoraranspruch ebenso hoch gewesen wäre (BSG aaO RdNr 67; SG Marburg aaO).
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2. Erfolglos bleibt auch die Rüge, das LSG habe verfahrensfehlerhaft entschieden. Die gerügten Verfahrensmängel liegen nicht vor.
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a. Soweit der Kläger eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 2 iVm § 136 Abs 1 Nr 6 SGG rügt, weil das LSG nicht alle Gründe im Urteil angegeben habe, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen seien, ist seine Beschwerde jedenfalls unbegründet. § 128 Abs 1 Satz 2 SGG konkretisiert die Vorschrift des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG und regelt den Umfang des in der Entscheidung zu erörternden Streitstoffs (vgl hierzu BSG Beschluss vom 5.4.2006 - B 12 KR 9/05 B - Juris). Dabei hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, inwieweit ein Gericht seine Rechtsauffassung in den einzelnen Abschnitten seiner Entscheidung begründen muss (vgl BSG Beschluss vom 4.7.2008 - B 7 AL 189/07 B -; BSG Beschluss vom 26.5.2011 - B 11 AL 145/10 B - Juris RdNr 3). Eine Verpflichtung des Tatsachengerichts, sich mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen, besteht nicht. Das Gericht muss alle wesentlichen Fragen abhandeln, dabei aber nicht notwendig auf alle Einzelheiten eingehen, sondern nur die Leitgedanken wiedergeben (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr 16).
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Nach diesen Maßstäben ist die Rüge des Klägers unbegründet. Soweit der Kläger rügt, die Urteilsgründe verhielten sich nicht zur Einhaltung der vierjährigen Ausschlussfrist, geht dieser Einwand ins Leere. Im Gerichtsverfahren war (bislang) zu Recht nicht problematisiert worden, dass die Beklagte die Ausschlussfrist eingehalten hat, weil diese Frist - entgegen der Auffassung des Klägers - nicht mit Ablauf des geprüften Quartals, sondern mit dem Tag der Bekanntgabe des entsprechenden Honorarbescheides beginnt (stRspr des Senats, vgl BSGE 98, 169 = SozR 4-2500 § 85 Nr 35, RdNr 17, 18; BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 29 RdNr 30; BSG SozR 4-2500 § 106a Nr 10 RdNr 13); der Honorarbescheid für das Quartal III/2003 wurde am 16.3.2004 versandt. Nichts anderes gilt für die Rüge, das LSG habe in den Entscheidungsgründen den Umstand nicht gewürdigt, dass er - der Kläger - nicht mehr an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehme, denn dieser Umstand steht sachlich-rechnerischen Richtigstellungen nicht entgegen (vgl BSG SozR 4-5540 § 48 Nr 2 RdNr 27).
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Zu dem vom Kläger geltend gemachten Vertrauensschutz unter dem Gesichtspunkt einer "Duldung" des Abrechnungsverhaltens durch die Beklagte hat das Berufungsgericht in den Entscheidungsgründen Ausführungen gemacht. Da Vertrauensschutz eine wissentliche Duldung unberechtigter Leistungserbringung und deren Vergütung über längere Zeit voraussetzte und eine länger andauernde Verwaltungspraxis allein nicht ausreichend ist (siehe BSG SozR 4-2500 § 106a Nr 1 RdNr 24), ist der Verweis des LSG darauf, dass der Kläger selbst nicht behaupte, dass ihm die Beklagte freigestellt habe, seine Praxisgemeinschaft wie eine ungenehmigte Gemeinschaftspraxis zu führen, als Begründung ausreichend.
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Die Urteilsgründe sind auch nicht deswegen widersprüchlich oder unverständlich, weil das LSG - anders als das SG - nicht von einer Aufhebung der Abrechnungssammelerklärung ausgegangen ist und damit keine Prüfung des Verschuldens vorgenommen hat. Es wird ohne Weiteres erkennbar, dass das Berufungsgericht insoweit der Auffassung des SG nicht gefolgt ist. Das LSG hat seine Schlussfolgerung auch nicht unzureichend begründet. Die Kläger rügt im Kern insoweit nicht eine unzureichende Begründung des Urteils, sondern hält die Entscheidung des LSG in der Sache für fehlerhaft; selbst wenn dessen Schlussfolgerung unzutreffend sein sollte, begründete dies jedoch keinen Verfahrensfehler. Der Senat hat bereits in seinem grundlegenden Urteil vom 22.3.2006 darauf hingewiesen, dass die Rechtmäßigkeit sachlich-rechnerischer Richtigstellungen grundsätzlich kein Verschulden voraussetzt (BSGE 96, 99 = SozR 4-5520 § 33 Nr 6, RdNr 28-29). Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Beklagte den gesamten Honorarbescheid für ein Quartal allein wegen der Unrichtigkeit der Abrechnungssammelerklärung aufhebt (siehe hierzu BSG SozR 3-5550 § 35 Nr 1). Dass in Fällen eines Gestaltungsmissbrauchs ein solches Vorgehen erforderlich ist, hat der Senat jedoch weder in seinem Urteil vom 22.3.2006 (siehe BSG aaO RdNr 28-29) noch in späteren Entscheidungen angenommen.
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b. Angesichts des Umstandes, dass sich aus der Rechtsprechung des Senats kein Anhalt dafür ergibt, dass in Fällen der sachlich-rechnerischen Richtigstellung wegen eines Gestaltungsmissbrauchs die Grundsätze über die Fehlerhaftigkeit der Abrechnungssammelerklärung anzuwenden sind, liegt in der Entscheidung des LSG, diese Grundsätze nicht anzuwenden, auch keine Überraschungsentscheidung. Eine Überraschungsentscheidung liegt nur dann vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bislang nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht rechnen musste (BSG SozR 4-2500 § 103 Nr 6 RdNr 17). Da - wie dargestellt - nach der Rechtsprechung des Senats kein Zusammenhang zwischen einer Richtigstellung infolge eines Gestaltungsmissbrauchs und einer unrichtigen Abrechnungssammelerklärung besteht, musste der Kläger damit rechnen, dass das Berufungsgericht seine Entscheidung - entgegen dem SG - hierauf stützen könnte.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm §§ 154 ff VwGO. Danach hat der Kläger auch die Kosten des von ihm ohne Erfolg durchgeführten Rechtsmittels zu tragen (§ 154 Abs 2 VwGO).
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Die Festsetzung des Streitwerts entspricht der Festsetzung der Vorinstanz vom 25.3.2015, die von keinem der Beteiligten in Frage gestellt worden ist (§ 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG).
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