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BSG 04.06.2013 - B 11 AL 38/12 B
BSG 04.06.2013 - B 11 AL 38/12 B - Revisionszulassung - Verfahrensfehler - Untersuchungsmaxime - Nichtbefolgung eines Beweisantrages auf Zeugenvernehmung - Minderung des Arbeitslosengeldanspruchs - Grenzgänger - Bezug einer mit dem Arbeitslosengeld vergleichbaren Leistung in Österreich
Normen
§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 103 SGG, § 128 Abs 1 Nr 1 SGB 3, Art 12 Abs 1 EWGV 1408/71
Vorinstanz
vorgehend SG Karlsruhe, 11. August 2010, Az: S 6 AL 731/09, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 23. März 2012, Az: L 8 AL 4638/10, Urteil
nachgehend BSG, 12. Oktober 2015, Az: B 11 AL 4/15 B, Beschluss
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. März 2012 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Der Kläger begehrt von der beklagten Bundesagentur für Arbeit (BA) höheres Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit ab 7.8.2008 bzw Gewährung von Alg ohne Anrechnung von österreichischen Bezugszeiten.
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Der 1961 geborene und in Deutschland wohnende Kläger war in der Zeit vom 16.10.2006 bis 10.3.2007 in Deutschland und ab April 2007 bis Juli 2008 als Grenzgänger mit Unterbrechungen bei verschiedenen Arbeitgebern in Österreich bzw an neun Tagen bei einem Arbeitgeber in Liechtenstein beschäftigt.
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Am 7.8.2008 meldete sich der Kläger bei der BA arbeitslos und beantragte Alg. Der BA wurde eine vom österreichischen Arbeitsmarktservice (AMS) Feldkirch unterzeichnete Bescheinigung E 301 vorgelegt, aus der sich ergab, dass der Kläger in Österreich auch Leistungen wegen Arbeitslosigkeit für 26 Tage (31.10. bis 25.11.2007) und für 57 Tage (16.12.2007 bis 10.2.2008) bezogen hatte. Die BA bewilligte dem Kläger Alg ab 7.8.2008 für 97 Tage in Höhe von 19,84 Euro täglich auf der Grundlage eines Bemessungsentgelts von 66,18 Euro entsprechend dem Durchschnitt des von Juli 2007 bis Juli 2008 erzielten Entgelts (Bescheid vom 17.10.2008, Änderungsbescheide vom 24.10.2008 und 30.12.2008, Widerspruchsbescheid vom 19.1.2009).
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Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.8.2010). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen (Urteil vom 23.3.2012). In den Entscheidungsgründen hat das LSG ua ausgeführt: Der in Deutschland wohnende Kläger sei echter Grenzgänger und erhalte Leistungen nach deutschem Recht (Art 71 Abs 1 Buchst a ii EWGV 1408/71). Die Anspruchsdauer von sechs Monaten (§ 127 Abs 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch <SGB III>) mindere sich um 83 Tage (Bezug von Alg in Österreich, § 128 Abs 1 Nr 1 SGB III, Art 12 Abs 1 EWGV 1408/71), sodass noch ein Anspruch für 97 Tage bestehe. Der Kläger habe in Österreich entgegen seiner von ihm im Berufungsverfahren weiter vertretenen Auffassung Alg und nicht etwa nur "Notstandshilfe" bezogen, was der Bescheinigung E 301 und einer vom Kläger im Widerspruchsverfahren vorgelegten Bestätigung des AMS Feldkirch vom 2.12.2008 zu entnehmen sei. Soweit sich der Kläger auf einen Ablehnungsbescheid des AMS Feldkirch vom 2.1.2008 berufe, gehe der Senat davon aus, dass diese Entscheidung keinen Bestand gehabt habe. Die Höhe des Alg sei von der Beklagten zutreffend berechnet. Der Kläger habe auch keinen Anspruch gemäß § 131 Abs 4 SGB III in Höhe des in Österreich bezogenen Alg (33,12 Euro täglich); denn er habe in den letzten zwei Jahren vor der Entstehung des Anspruchs am 7.8.2008 kein Alg von der Beklagten bezogen. Die EWGV 1408/71 sehe eine Gleichstellung des Bezugs von Alg in einem anderen Mitgliedstaat mit dem inländischen Bezug nicht vor.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich der Kläger mit der Beschwerde und macht geltend, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Er habe in seiner Berufungsschrift einen Beweisantrag formuliert, wonach er in Österreich kein Alg, sondern Hilfe zum Lebensunterhalt bezogen habe, und er habe insoweit Herrn G. als Sachbearbeiter des AMS Feldkirch als Zeugen benannt. Das LSG sei selbst sei davon ausgegangen, dass er - als im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertretener Beteiligter - diesen Beweisantrag aufrechterhalten habe. Nach der Rechtsauffassung des LSG komme es darauf an, ob es sich bei den bestätigten österreichischen Leistungsbezugszeiten um Alg, um Notstandshilfe oder um Beihilfen nach dem österreichischen Arbeitsmarktservicegesetz handle. Dem LSG habe sich deshalb eine Beweiserhebung aufdrängen müssen.
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Der Kläger macht weiter geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Klärungsbedürftig seien Rechtsfragen zur Höhe des Alg bei echten Grenzgängern unter Berücksichtigung der fiktiven deutschen Lohnsteuer sowie zum Verhältnis des Kumulierungsverbots nach Art 12 EWGV 1408/71 zu Art 8 des deutsch-österreichischen Abkommens über die Arbeitslosenversicherung.
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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet, soweit sie eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht durch die unterbliebene Vernehmung des Zeugen G. als Sachbearbeiter des AMS Feldkirch geltend macht (§§ 103, 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
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In der Beschwerdebegründung wird hinreichend deutlich aufgezeigt, dass der im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertretene Kläger einen Beweisantrag auf Vernehmung des Zeugen G. gestellt hat, von dessen Aufrechterhaltung das LSG ausweislich des Tatbestands des angefochtenen Urteils ausgegangen ist. Dargelegt ist auch, dass das LSG nach seiner Rechtsauffassung dem Beweisantrag hätte nachgehen müssen. Die Anforderungen der Rechtsprechung an die formgerechte Bezeichnung einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht sind gewahrt (vgl ua BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9, 29, 35; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1).
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Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor. Das LSG hat den auf Vernehmung des Zeugen G. gerichteten Beweisantrag des Klägers entgegen § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ohne hinreichende Begründung übergangen. Der Beweisantrag, den Zeugen G. dazu zu hören, dass der Kläger in Österreich mangels Erfüllung der Anwartschaftszeit kein Alg, sondern Hilfe zum Lebensunterhalt bezogen hatte, entsprach auch hinsichtlich des Beweisthemas den Anforderungen an einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag (vgl ua Beschluss des Senats vom 19.2.2002 - B 11 AL 240/01 B - Juris RdNr 6 mwN).
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Das LSG hätte sich auch nach seiner Rechtsauffassung gedrängt sehen müssen, dem Beweisantrag nachzugehen. Denn das LSG hat die Rechtsauffassung vertreten, dass der insbesondere der Bescheinigung E 301 zu entnehmende Leistungsbezug in Österreich auf den Leistungsanspruch in Deutschland gemäß Art 12 Abs 1 EWGV 1408/71 anzurechnen sei und dass es sich bei dem bescheinigten Leistungsbezug um den Bezug von Alg iS des österreichischen Rechts und nicht - wie vom Kläger im Berufungsverfahren vorgetragen - um den Bezug einer Notstandshilfe gehandelt habe. Nach der Rechtsauffassung des LSG ist somit klärungsbedürftig und entscheidungserheblich, welche Leistungen - Alg, Notstandshilfe oder sonstige Beihilfen - der Kläger in Österreich bezogen hat.
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Die Ausführungen des LSG im angefochtenen Urteil, es bestünden keine vernünftigen Zweifel hinsichtlich des Bezugs von Alg, weil der Kläger eine Bestätigung des AMS Feldkirch vom 2.12.2008 vorgelegt und mit Schreiben vom 8.12.2008 selbst den Bezug von Alg angegeben habe, stellen keine hinreichende Begründung für eine Entbehrlichkeit der Beweiserhebung dar. Denn auf die Vernehmung eines ordnungsgemäß benannten Zeugen darf ein Gericht nur in engen Ausnahmefällen verzichten, etwa wenn es auf die unter Beweis gestellten Tatsachen nicht ankommt, diese bereits erwiesen sind oder das Beweismittel ungeeignet oder unerreichbar ist (vgl ua Beschluss des Senats vom 16.5.2007 - B 11b AS 37/06 B - Juris RdNr 10). Eine solche Fallgestaltung ist vorliegend nicht gegeben, insbesondere konnte die beantragte Zeugenvernehmung nicht - wie das LSG offenbar meint - im Hinblick auf die eigenen Angaben des Klägers unterbleiben. Denn der Kläger hatte bereits im Widerspruchsverfahren vorgetragen, er habe in Österreich keinen Anspruch auf Alg gehabt, was auch dem späteren Schreiben vom 8.12.2008 insoweit zu entnehmen war, als es den Hinweis des Klägers enthielt, er habe nie einen Bescheid über die Bewilligung von Alg erhalten. Dementsprechend hat der Kläger später im Berufungsverfahren ua unter Hinweis auf einen Ablehnungsbescheid des AMS Feldkirch vom 2.1.2008 geltend gemacht, er habe nur "Hilfe zum Lebensunterhalt" bezogen. In Bezug auf diesen Bescheid vom 2.1.2008 ist auch der nicht näher substantiierte Hinweis des LSG, es gehe davon aus, dass "diese Entscheidung keinen Bestand gehabt" habe, unzureichend (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 49).
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Aus den vorstehenden Ausführungen folgt auch, dass das angefochtene Urteil des LSG auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Nach den Gesamtumständen ist es nicht ausgeschlossen, dass nach Anhörung bzw Befragung des Zeugen G. Erkenntnisse zum Rechtscharakter der vom Kläger in Österreich bezogenen Leistungen gewonnen werden, die - uU nach weiteren Ermittlungen - bei der Anwendung des § 12 Abs 1 EWGV 1408/71 von Relevanz sind.
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Der Senat macht von der bei Verfahrensmängeln iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG in § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
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Sollten die noch durchzuführenden Ermittlungen ergeben, dass der Kläger in Österreich Alg und insoweit eine Leistung "gleicher Art" iS des Art 12 Abs 1 EWGV 1408/71 bezogen hat, wird das LSG Gelegenheit haben, seine Ausführungen zu § 131 Abs 4 SGB III in der bis 31.3.2012 geltenden Fassung zu überprüfen (vgl zum Anwendungsbereich Brand in Niesel/Brand, SGB III, 5. Aufl 2010, § 131 RdNr 22, 23; Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III, § 131 RdNr 85, Stand 2011). Das LSG hat zwar ausgeführt, dass der Kläger die für den Erwerb eines Anspruchs auf Alg erforderliche Anwartschaftszeit von mindestens zwölf Monaten (§ 123 Abs 1 S 1 SGB III in der bis zum 31.3.2012 gültigen Fassung) innerhalb der maßgeblichen zweijährigen Rahmenfrist (6.8.2008 bis 7.8.2006) nur unter Berücksichtigung der in Österreich ab 24.4.2007 zurückgelegten Versicherungszeiten erfüllt habe. Nicht festgestellt ist jedoch, ob dem Kläger noch ein Restanspruch auf Alg in Österreich zugestanden hätte. Außerdem wird das LSG den Vortrag der Beschwerdebegründung zur Höhe des Alg unter Berücksichtigung der fiktiven deutschen Lohnsteuer sowie zum Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Arbeitslosenversicherung vom 19.7.1978 (BGBl II 1979, 790) zu würdigen haben.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.
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