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BVerfG 30.07.2020 - 1 BvR 1082/20
BVerfG 30.07.2020 - 1 BvR 1082/20 - Nichtannahmebeschluss: Mangels hinreichender Begründung unzulässige Verfassungsbeschwerde bzgl der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse für eine LDL-Apherese
Normen
Art 2 Abs 1 GG, Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 20 Abs 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, Anl 1 Nr 1 § 3 Abs 2 MVVRL, § 135 Abs 1 SGB 5
Vorinstanz
vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 22. April 2020, Az: L 16 KR 153/20 B ER, Beschluss
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
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Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).
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Der Antrag auf Erstattung der Auslagen wird abgelehnt, weil die Voraussetzungen nach § 34a Absatz 2 oder Absatz 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht vorliegen.
Gründe
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Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für eine LDL-Apherese im Rahmen eines sozialgerichtlichen Eilverfahrens.
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1. Der 1986 geborene Beschwerdeführer ist gesetzlich krankenversichert. Er erlitt im März 2019 einen Myokardinfarkt aufgrund einer koronaren Eingefäßerkrankung; die Koronararterie wurde mit einem Ballonkatheter aufgedehnt und ein mit Medikamenten beschichteter Stent eingesetzt. Der Beschwerdeführer begehrt die Therapie einer Hyperlipoproteinämie (a) von 90 mg/dl mittels LDL-Apherese. Basierend auf einer Stellungnahme der beratenden Kommission der Kassenärztlichen Vereinigung zu Indikationsstellungen zur Apherese lehnte die gesetzliche Krankenversicherung des Beschwerdeführers den Antrag auf Bewilligung der LDL-Apherese ab.
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Hiergegen legte der Beschwerdeführer Widerspruch ein und beantragte beim Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Der Rechtsweg blieb erfolglos. Das Sozialgericht sowie das Landessozialgericht gingen davon aus, dass der Beschwerdeführer keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht habe. Nach der Begründung des Landessozialgerichts seien weder die medizinischen Voraussetzungen für eine Therapie mittels LDL-Apherese erfüllt, noch liege ein positives Beratungsergebnis der Apherese-Kommission vor. Nach Auslegung von § 6 der Anlage I.1. der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung binde das Beratungsergebnis der Kommission die gesetzliche Krankenkasse des Versicherten. Die Voraussetzungen von § 3 Abs. 2 der Anlage I.1. der genannten Richtlinie seien nicht erfüllt, weil der Wert des LDL-Cholesterin nicht im Normbereich liege und die Dokumentation eines Infarktes ohne klinische und durch bildgebende Verfahren dokumentierte Progredienz nicht ausreiche. Eine Apheresebehandlung komme zudem als "ultima-ratio"-Lösung in Betracht. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen habe angegeben, dass die Therapiemaßnahmen noch nicht erschöpft seien, auch wenn zur Senkung einer isolierten Lp(a)-Erhöhung derzeit keine Medikamente vorhanden seien.
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In der gegen den Beschluss des Landessozialgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, dass der Entscheidung keine hinreichende Würdigung der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich geschützten Belange zu entnehmen sei. Ohne die Behandlung durch die beantragte Apherese bestehe Sorge, dass der Beschwerdeführer einen weiteren Myokardinfarkt erleide, der tödlich verlaufen könne. Nach der Einschätzung der den Beschwerdeführer behandelnden Ärzte würden aufgrund einer weiteren Verzögerung der Apherese irreversible Nachteile entstehen. Im Gegensatz zum Verfahren 1 BvR 3101/06 sei der Beschwerdeführer zudem wesentlich jünger.
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2. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor, weil die Verfassungsbeschwerde bereits unzulässig ist. Der Beschwerdeführer zeigt nicht entsprechend den Anforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG substantiiert und schlüssig die Möglichkeit einer Verletzung in Grund- oder grundrechtsgleichen Rechten auf.
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a) Nach diesen Vorschriften ist ein Beschwerdeführer gehalten, den Sachverhalt, aus dem sich die Grundrechtsverletzung ergeben soll, substantiiert und schlüssig darzulegen (vgl. BVerfGE 81, 208 214>; 113, 29 44>; 130, 1 21>). Ferner muss sich die Verfassungsbeschwerde mit dem zugrunde liegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint (vgl. BVerfGE 28, 17 19>; 89, 155 171>; 140, 229 232 Rn. 9>). Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, bedarf es in der Regel einer ins Einzelne gehenden argumentativen Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung und ihrer konkreten Begründung. Dabei ist auch darzulegen, inwieweit das jeweils bezeichnete Grundrecht verletzt sein und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidieren soll (vgl. BVerfGE 99, 84 87>; 108, 370 386 f.>; 115, 166 179 f.>; 140, 229 232 Rn. 9>). Soweit das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe dargelegt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffenen Maßnahmen verletzt werden (vgl. BVerfGE 77, 170 214 ff.>; 123, 186 234>; 140, 229 232 Rn. 9>).
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b) Nach diesen Maßstäben hat der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG nicht substantiiert gerügt; es fehlt an der Darlegung der durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Maßstäbe, der Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung sowie der Benennung der verfassungsrechtlichen Anforderungen, mit denen der Beschluss des Landessozialgerichts kollidieren soll.
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Der Beschwerdeführer verweist zwar auf den Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Februar 2007 - 1 BvR 3101/06 -, jedoch ohne sich mit den dortigen Maßstäben zu befassen. Er hält dem Landessozialgericht nicht vor, dass es ohne vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage lediglich aufgrund summarischer Prüfung ohne eine dann gebotene Folgenabwägung im Eilverfahren entschieden hätte. Das Landessozialgericht hat die aufgeworfenen Anspruchsgrundlagen - gestützt auf drei alternative Gründe - letztendlich abschließend geprüft. Es hat sich mit der Rechts- und Aktenlage auseinandergesetzt und auf medizinische Unterlagen schlüssig bezogen, soweit dies aufgrund der lückenhaften Sachverhaltsdarstellung und der fehlenden Vorlage oder inhaltlichen Wiedergabe der medizinischen Unterlagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren nachvollzogen werden kann. Der Beschwerdeführer hat sich lediglich mit einem der vom Landessozialgericht angeführten Ablehnungsgründe befasst und bereits hierzu keine unvollständige Aufklärung durch das Gericht dargelegt, sondern seine eigene einfachrechtliche Subsumtion hinsichtlich der hinreichenden Dokumentation einer Progredienz der koronaren Herzerkrankung entgegengesetzt.
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c) Den obigen Substantiierungsanforderungen genügen das Vorbringen sowie die Sachverhaltsdarstellung des Beschwerdeführers bezüglich Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ebenso wenig. Selbst bei Auslegung seines Vorbringens als Rüge von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt sich keine schlüssige Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung.
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Der Beschwerdeführer geht weder darauf ein, dass grundsätzlich in der gesetzlichen Krankenversicherung kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung ableitbar ist, sondern gesetzliche oder auf Gesetz beruhende Leistungsausschlüsse und Leistungsbegrenzungen daraufhin zu prüfen sind, ob sie im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG gerechtfertigt sind (vgl. BVerfGE 115, 25 43>). Noch stützt er seinen Anspruch auf eine Apherese-Therapie auf einen unter bestimmten Voraussetzungen verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruch, wie ihn der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im sogenannten Nikolausbeschluss (BVerfGE 115, 25 ff.) begründet hat. Er hält die Voraussetzung einer progredienten kardiovaskulären Erkrankung in § 3 Abs. 2 der Anlage I.1. der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung angesichts des Auftretens des Myokardinfarkts in sehr jungem Lebensalter für gegeben, ohne sich mit der Argumentation des Landessozialgerichts, das auch auf die Ausführungen des Sozialgerichts verweist, oder den durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorliegenden Maßstäben auseinanderzusetzen.
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Die zwingende Annahme eines lebensbedrohlichen Zustands im fachgerichtlichen Eilverfahren ergibt sich auch nicht durch den Verweis des Beschwerdeführers auf den Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Februar 2007 - 1 BvR 3101/06 - und den Hinweis, dass eine Krankheit auch dann als regelmäßig tödlich zu qualifizieren sei, wenn sie "erst" in einigen Jahren zum Tod des Betroffenen führt (vgl. dort Rn. 22 m.w.N.). Eine zwischen den beiden Verfahren vergleichbare Befundlage hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt; er führt lediglich sein wesentlich jüngeres Alter an. Dies ist insbesondere in Anbetracht der vom Sozialgericht zitierten medizinischen Berichte ohne pathologischen Befund nicht ausreichend.
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d) Die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip in Gestalt eines Anspruchs auf verfassungsgemäße Ausgestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung als Versicherungssystem mit Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht (vgl. BVerfGE 140, 229 237 f.>) hat der Beschwerdeführer nicht gerügt. Vielmehr sieht er die Voraussetzungen von § 3 Abs. 2 der Anlage I.1. der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung als erfüllt an.
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Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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