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BVerfG 16.07.2020 - 1 BvR 1541/20
BVerfG 16.07.2020 - 1 BvR 1541/20 - Erfolgloser Eilantrag gegen Untätigkeit des Gesetzgebers zu Vorgaben für eine sog Triage bei Kapazitätsengpässen im Gesundheitswesen infolge der Covid-19-Pandemie - Folgenabwägung
Normen
Art 2 Abs 2 S 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG
Vorinstanz
nachgehend BVerfG, 16. Dezember 2021, Az: 1 BvR 1541/20, Beschluss
Tenor
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe
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Die Voraussetzungen aus § 32 Abs. 1 BVerfGG zum Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.
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I.
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Die Beschwerdeführenden wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde, die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden ist, gegen die Untätigkeit des Gesetzgebers, der keine Vorgaben für eine Situation der sogenannten Triage gemacht habe, die aufgrund von Kapazitätsengpässen im Rahmen der Covid-19-Pandemie entstehen könne. Sie leiden unter verschiedenen Behinderungen sowie Vorerkrankungen und gehören nach der Definition des Robert-Koch-Instituts zu der Risikogruppe, bei der im Falle einer Covid-19-Erkrankung mit schweren Krankheitsverläufen zu rechnen ist. Im Fall knapper Behandlungsressourcen fürchten sie, aufgrund ihrer Behinderung schlechtere Behandlungsmöglichkeiten zu haben oder gar von einer lebensrettenden medizinischen Behandlung ausgeschlossen zu werden. Ihre Behinderung sei durch Beeinträchtigungen geprägt, die in der medizinischen Wahrnehmung, insbesondere in den Klinisch-Ethischen Empfehlungen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, als Begleiterkrankung (Komorbidität) oder Gebrechlichkeit (Frailty) angesehen würden. Diese verschlechterten statistisch die Erfolgsaussichten einer intensivmedizinischen Behandlung. Gerade diese soll aber nach den bisherigen Empfehlungen gerade entscheidend sein, um medizinische Ressourcen zuzuteilen. Mit dieser mittelbaren Ungleichbehandlung drohe eine Verletzung in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in Zusammenschau mit der völkerrechtlichen Gewährleistung in Art. 25 UN-BRK. Zudem verletze dies ihre Menschenwürde und ihre Rechte auf Leben und Gesundheit. Der Gesetzgeber müsse die entsprechenden Schutzpflichten erfüllen. Vorläufig solle die Bundesregierung ein Gremium einsetzen, das die Triage verbindlich regele.
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II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts angeführt werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 7, 367 371>; 134, 138 140 Rn. 6>; stRspr). Bei einem offenen Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 131, 47 55>; 132, 195 232>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2020 - 1 BvQ 15/20 -, Rn. 16; stRspr). Dabei müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe so schwerwiegend sein, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabweisbar machen.
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2. Danach kommt eine einstweilige Anordnung hier nicht in Betracht.
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a) Die Verfassungsbeschwerde ist zwar nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Sie wirft die Frage auf, ob und wann gesetzgeberisches Handeln in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten ist und wie weit der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers für die Regelung konkreter medizinischer Priorisierungsentscheidungen reicht. Dies bedarf einer eingehenden Prüfung, die im Rahmen eines Eilverfahrens nicht möglich ist.
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b) Grundsätzlich ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 3>; 143, 65 87>). Nach der bisherigen Rechtsprechung gilt ein besonders strenger Maßstab, wenn die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt wird (vgl. BVerfGE 121, 1 17 f.>; 122, 342 361>; 131, 47 61>; stRspr), denn darin läge stets ein erheblicher Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Die Nachteile, die ohne einstweilige Anordnung einträten, müssen daher in Ausmaß und Schwere diejenigen Nachteile deutlich überwiegen, die einträten, wenn das Bundesverfassungsgericht vorläufig verhinderte, dass ein sich später als verfassungsgemäß erweisendes Gesetzes in Kraft tritt (vgl. BVerfGE 112, 284 292>; 121, 1 17 f.>; 122, 342 361>; 131, 47 61>).
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Hier richtet sich der Antrag allerdings weitergehend darauf, den Gesetzgeber überhaupt erst zur Gesetzgebung zu verpflichten. Ob dies überhaupt in Betracht kommt und welche Anforderungen dafür gelten, ist bislang nicht geklärt. Es bedarf hier auch keiner Entscheidung. Denn schon die an den bisherigen Maßstäben orientierte Folgenabwägung rechtfertigt den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht.
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c) Erginge die einstweilige Anordnung nicht und würde sich nach dem Hauptsacheverfahren herausstellen, dass die geforderte gesetzliche Regelung verfassungsrechtlich geboten ist, träte, soweit derzeit ersichtlich, kein nicht irreversibler Schaden für die Antragstellenden ein. Das zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt erkennbare Infektionsgeschehen und die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten lassen es in Deutschland nicht als wahrscheinlich erscheinen, dass hier die gefürchtete Situation der Triage eintritt.
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Zudem ist der Eilantrag der Beschwerdeführenden darauf gerichtet, wegen der zu erwartenden Dauer eines Gesetzgebungsverfahrens zunächst durch die Bundesregierung ein Gremium auch mit Interessenvertretungen der Betroffenen benennen zu lassen, das die Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen vorläufig regelt. Dies würde die Situation der Beschwerdeführenden aber nicht wesentlich verbessern. Nicht nur verfügte ein solches Gremium über eine geringere Legitimation als beispielweise der Deutsche Ethikrat, den der Gesetzgeber eingerichtet hat. Ein solches Gremium hätte auch nicht die Kompetenz, verbindliche Regelungen zu verabschieden, auf die es den Beschwerdeführenden gerade ankommt.
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Wenn sich dagegen später herausstellte, dass eine gesetzliche Regelung verfassungsrechtlich nicht geboten ist, aber die einstweilige Anordnung dennoch erlassen würde, griffe diese ganz außerordentlich in die Aufgabenverteilung zwischen den Staatsgewalten ein und erzeugte zudem organisatorischen und monetären Aufwand. Dem steht wiederum kein deutlicher Vorteil der Antragstellenden gegenüber, denn die konkrete Behandlungsentscheidung im Fall einer Triage wäre auch dann nicht verbindlich vorgegeben. Damit überwiegen eventuelle Nachteile in Ausmaß und Schwere nach derzeitigen Erkenntnissen nicht derart, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung angesichts des hier besonders strengen Maßstabs gerechtfertigt wäre.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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