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BFH 19.05.2020 - VIII B 114/19
BFH 19.05.2020 - VIII B 114/19 - Verletzung des rechtlichen Gehörs durch eine Überraschungsentscheidung bei Nichterscheinen eines ordnungsgemäß geladenen Beteiligten in der mündlichen Verhandlung
Normen
§ 96 Abs 2 FGO, § 91 Abs 2 FGO, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 21. Mai 2019, Az: 8 K 8198/15, Urteil
Leitsatz
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NV: Die Ladung zur mündlichen Verhandlung beinhaltet nur für bereits in das jeweilige Verfahren eingeführte und den Beteiligten bekannte oder bekanntgegebene Tatsachen bzw. Rechtsfragen in der Regel eine ausreichende Gewährung rechtlichen Gehörs. Im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu befinden, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Es ist im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung nur aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war.
Tenor
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Auf die Beschwerde des Beigeladenen wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 21.05.2019 - 8 K 8198/15 aufgehoben.
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Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
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Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Gründe
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Die Beschwerde ist begründet.
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Der vom Beigeladenen und Beschwerdeführer (Beigeladener) gerügte Verfahrensfehler in Gestalt einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt vor. Die Vorentscheidung des Finanzgerichts (FG) wird aufgehoben und zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Das FG hat eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil es der Klage der Klägerin --ohne vorherigen Hinweis an den ordnungsgemäß geladenen und nicht zur mündlichen Verhandlung erschienenen Beigeladenen und ohne die Sache zu vertagen-- auf Grundlage eines nicht zuvor in das in das Verfahren eingeführten rechtlichen Gesichtspunkts stattgegeben hat.
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a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet den Beteiligten das Recht, sich vor der Entscheidung des Gerichts zum entscheidungserheblichen Sachverhalt und zur Rechtslage ausreichend äußern zu können. Das Gericht verletzt daher das Recht auf Gehör i.S. von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), wenn die Verfahrensbeteiligten von einer Entscheidung überrascht werden, weil das Urteil auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gegründet ist, zu denen sie sich nicht geäußert haben und zu denen sich zu äußern sie nach dem vorherigen Verlauf des Verfahrens auch keine Veranlassung hatten. Art. 103 Abs. 1 GG schützt daher die Beteiligten davor, von neuen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten überfahren zu werden, die dem Rechtsstreit eine Wendung geben, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. statt vieler Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.07.1993 - 2 BvR 218/92, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1993, 595; Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 21.01.1998 - III R 31/97, BFH/NV 1998, 732, unter II.1., m.w.N.).
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b) Dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör wird auch nicht stets bereits dadurch entsprochen, dass ein Beteiligter unter Hinweis auf die Folgen seines (unentschuldigten) Ausbleibens (vgl. § 91 Abs. 2 FGO) ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen wird. Zwar genügt es grundsätzlich für die Gewährung rechtlichen Gehörs, den Verfahrensbeteiligten ausreichend Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Es obliegt dann der Verantwortung der Verfahrensbeteiligten, die Gelegenheit zur Verwirklichung ihres rechtlichen Gehörs auch wahrzunehmen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird damit durch die prozessuale Mitverantwortung der Beteiligten begrenzt. Deshalb kommt das FG seiner Verpflichtung, den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren, in der Regel bereits dadurch nach, dass es eine mündliche Verhandlung anberaumt, die Beteiligten ordnungsgemäß lädt und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt durchführt (BFH-Beschluss vom 04.12.2017 - X B 91/17, BFH/NV 2018, 342, Rz 23, 24, m.w.N.).
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c) Die Ladung zur mündlichen Verhandlung beinhaltet jedoch nur für bereits in das jeweilige Verfahren eingeführte und den Beteiligten bekannte oder bekanntgegebene Tatsachen bzw. Rechtsfragen in der Regel eine ausreichende Gewährung rechtlichen Gehörs. Im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu befinden, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Es ist im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung nur aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2018, 342, Rz 25).
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d) Nach diesen Vorgaben hat das FG nach dem Verfahrensablauf des Streitfalls den Anspruch des Beigeladenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es ohne Vertagung der Klage stattgegeben hat.
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aa) Die Klägerin hatte ihren ursprünglich gegen den gesonderten und einheitlichen Feststellungsbescheid selbst erhobenen Einspruch zurückgenommen. Sie war danach ausweislich des Rubrums der Einspruchsentscheidung vom 02.06.2015 zum Einspruchsverfahren des Beigeladenen notwendig hinzugezogen worden. Gegen den dem Beigeladenen gegenüber ergangenen gesonderten und einheitlichen Feststellungsbescheid in Gestalt der durch die Einspruchsentscheidung vom 02.06.2015 geänderten Feststellungen richtete sich die von der Klägerin erhobene Klage (s. zum Klagerecht des Hinzugezogenen gegen eine gesonderte und einheitliche Feststellung BFH-Beschluss vom 07.02.2007 - IV B 210/04, BFH/NV 2007, 869, unter II.1.b).
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bb) Die Klägerin kündigte im Rahmen ihrer Klagebegründung vom 24.08.2015 den Antrag an, die Einspruchsentscheidung sei wegen eines Verstoßes des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) gegen das Verböserungsverbot gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) aufzuheben, hilfsweise begehrte sie eine geänderte Feststellung des für den Beigeladenen festgestellten Veräußerungsgewinns, eine Herabsetzung des dem Beigeladenen zugewiesenen laufenden Gewinns und einen zusätzlichen Betriebsausgabenabzug in Höhe von 152.280,05 €. Höchst hilfsweise beantragte die Klägerin den Abzug weiterer Betriebsausgaben für die Abschreibung des Praxiswerts in Höhe von 33.840 €. Der Beigeladene wurde durch Beschluss des FG vom 04.09.2017, in dem die schriftsätzlich vorgetragenen Anträge der Klägerin samt Begründung und die Gegenäußerung des FA inhaltlich wiedergegeben waren, gemäß § 60 Abs. 3 FGO zum Verfahren notwendig beigeladen.
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cc) Der zuständige Berichterstatter beim FG erteilte der Klägerin mit Schreiben vom 26.02.2019 den schriftlichen Hinweis, er halte die Klage für unbegründet, soweit im Hauptantrag das Fehlen eines Verböserungshinweises gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 AO geltend gemacht werde. Er führte weiter aus, dass der Ermittlung der laufenden Einkünfte der Klägerin und des festgestellten Aufgabe-/Veräußerungsgewinns des Beigeladenen in der Einspruchsentscheidung durch das FA inhaltlich zu folgen sein dürfte, forderte die Klägerin zur Stellungnahme auf und setzte dieser gemäß § 79b Abs. 2 FGO eine Ausschlussfrist zur Vorlage von Nachweisen über bestimmte Zahlungen an den Beigeladenen. Im Vorfeld der Ladung zur auf den 21.05.2019 terminierten mündlichen Verhandlung übersandte der Berichterstatter dem Beigeladenen nach einer in den FG-Akten befindlichen Verfügung vom 29.04.2019 das Hinweisschreiben an die Klägerin und das FA. In einem Schreiben vom 17.05.2019 nahm die Klägerin hierzu Stellung und brachte nochmals Argumente gegen die Auffassung des Berichterstatters vor, dass das FA einen ausreichenden Verböserungshinweis erteilt habe.
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dd) In der mündlichen Verhandlung vom 21.05.2019, zu der der ordnungsgemäß geladene Beigeladene nicht erschienen war, erteilte der Vorsitzende den Hinweis, es sei im Streitfall nicht entscheidungserheblich, ob der Verböserungshinweis des FA deutlich genug erteilt worden sei, weil es im Zeitpunkt der Verböserung an einem noch anhängigen Einspruchsverfahren des Beigeladenen gefehlt habe; die Einspruchsentscheidung sei fehlerhaft und aus diesem Grund isoliert aufzuheben. Daraufhin beantragte die Klägerin nur noch, die Einspruchsentscheidung vom 02.06.2015 aufzuheben. Das FG gab der Klage statt. Es stützte sich in den Entscheidungsgründen ausschließlich auf den Gesichtspunkt, dass das FA über einen Einspruch entschieden habe, obwohl zu diesem Zeitpunkt kein "zulässiges Einspruchsverfahren" des Beigeladenen mehr anhängig gewesen sei. Dem Beigeladenen habe schon bei Einspruchseinlegung die gemäß § 350 AO erforderliche Einspruchsbefugnis gefehlt, weil er die Erhöhung des für ihn festgestellten Veräußerungsgewinns um 75.000 € begehrt habe. Zudem sei der Veräußerungsgewinn des Beigeladenen nach Erhebung des Einspruchs durch einen geänderten Feststellungsbescheid vom 10.09.2010 durch das FA um 75.000 € erhöht worden.
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ee) Das FG hat angesichts des geschilderten Verfahrensablaufs den Anspruch des Beigeladenen auf rechtliches Gehör im Streitfall verletzt. Es war zur Vertagung der mündlichen Verhandlung verpflichtet, da es die Entscheidung auf tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte gestützt hat, zu denen dem Beigeladenen zuvor kein rechtliches Gehör gewährt worden war. Bei dem die Vorentscheidung des FG allein tragenden rechtlichen Gesichtspunkt, das FA habe über ein nicht mehr anhängiges Einspruchsverfahren des Beigeladenen entschieden, handelt es sich um eine Rechtsfrage, die bis zur mündlichen Verhandlung nicht in das Verfahren eingeführt worden war. Der Beigeladene musste und konnte den an ihn weitergeleiteten Hinweis des Berichterstatters vom 26.02.2019 an die Klägerin und das FA im Lichte der konkreten Verfahrenslage interpretieren und verstehen (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 19.01.2018 - X B 60/17, BFH/NV 2018, 530, Rz 18). Aus diesem war für ihn im Vorfeld der mündlichen Verhandlung nur erkennbar, dass das FG von einem ausreichenden Verböserungshinweis des FA ausgehen und den zuvor angekündigten Hauptantrag der Klägerin für unbegründet halten könnte. Nur der Streit der Beteiligten zum Vorliegen eines Verböserungshinweises des FA war im Hinblick auf das Begehren der Klägerin, die Einspruchsentscheidung vom 02.06.2015 isoliert aufzuheben, in das Verfahren eingeführt worden. Dass der Beigeladene trotz ordnungsgemäßer Ladung und Belehrung darüber, dass das FG bei seinem Fernbleiben auch ohne ihn verhandeln und entscheiden könne, nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen war, stellt keine Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten dar und steht der Annahme eines Gehörsverstoßes nicht entgegen, da das FG die Klagestattgabe ausschließlich auf einen neuen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt hat.
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e) Der Senat hält es für sachdienlich, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
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2. Da die Nichtzulassungsbeschwerde des Beigeladenen aus den dargelegten Gründen Erfolg hat, ist es nicht notwendig, auf die weiteren geltend gemachten Verfahrensfehler und Zulassungsgründe einzugehen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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