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BFH 22.12.2011 - III R 66/10
BFH 22.12.2011 - III R 66/10 - Berücksichtigungsfähigkeit eines Kindes trotz ausgeübter Vollzeiterwerbstätigkeit
Normen
§ 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst c EStG 2002, § 32 Abs 4 S 2 EStG 2002, § 70 Abs 4 EStG 2002
Vorinstanz
vorgehend FG Düsseldorf, 30. Juli 2009, Az: 14 K 4563/08 Kg, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Eine Vollzeiterwerbstätigkeit steht der Berücksichtigung als Kind im Sinne des § 32 Abs. 4 EStG nicht entgegen. Zur Prüfung der Frage, ob der Grenzbetrag überschritten ist, sind daher auch die während der Vollzeiterwerbstätigkeit erzielten Einkünfte und Bezüge des Kindes einzubeziehen.
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2. NV: Ändert sich die Rechtsauffassung der Verwaltung zur Berücksichtigungsfähigkeit von Kindern, die während des Wartens auf einen Ausbildungsplatz einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen, mit der Folge, dass die Einkünfte aus dieser Tätigkeit bei der Prüfung der Grenzbetragsüberschreitung einzubeziehen sind, dann genügt eine derartige Änderung der Rechtsauffassung allein nicht, um die rückwirkende Korrektur der Kindergeldfestsetzung gemäß § 70 Abs. 4 EStG zu rechtfertigen.
Tatbestand
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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) bezog für seinen 1989 geborenen Sohn (S) zunächst Kindergeld. S beendete am 13. Juni 2008 seine Ausbildung zum Industrieanlagenmechaniker und wurde im Anschluss mit einem auf den 31. Dezember 2008 befristeten Arbeitsvertrag von der ausbildenden Firma eingestellt. Bei dieser Beschäftigung handelte es sich um eine Vollzeiterwerbstätigkeit. Seit August 2008 besuchte S eine Fachoberschule, für die er sich bereits am 23. Juni 2008 angemeldet hatte. Sein Arbeitsverhältnis wurde im Juli 2008 vorzeitig zum 17. August 2008 auf Wunsch des S beendet, um ihm den Besuch der Schule zu ermöglichen.
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Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) hob die Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 15. Juli 2008 ab Januar 2008 auf, da die zu berücksichtigenden Einkünfte und Bezüge des S voraussichtlich den maßgeblichen Grenzbetrag von 7.680 € überschreiten würden. Für den Zeitraum Januar bis Juni 2008 forderte sie das bereits ausgezahlte Kindergeld in Höhe von 924 € zurück. Der hiergegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg.
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Mit seiner Klage begehrte der Kläger die Änderung des Aufhebungsbescheids dahin, dass die Kindergeldfestsetzung nur für den Monat Juli 2008 aufgehoben wird.
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Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, S habe sich in der Zeit vom 1. Januar 2008 bis zum 13. Juni 2008 und seit dem 11. August 2008 in Berufsausbildung befunden und seine Einkünfte und Bezüge hätten in dieser Zeit den anteiligen Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 und 7 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) nicht überschritten. S habe zwar auch in dem Zeitraum, in dem er die Vollzeiterwerbstätigkeit ausgeübt habe (14. Juni bis 17. August 2008) nach dem Wortlaut des Gesetzes die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a (ab 11. August 2008) und Buchst. b (vom 14. Juni bis 10. August 2008) EStG erfüllt. Dies führe aber nicht dazu, dass die dieser Zeit zuzurechnenden Einkünfte und Bezüge in die Grenzbetragsberechnung einzubeziehen seien. Denn der Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in Höhe von 7.680 € wäre dann unstreitig überschritten. In diesem Fall sei § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG einschränkend dahingehend auszulegen, dass die Tatbestände des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a bis c EStG in den Zeiten der Vollzeiterwerbstätigkeit nicht erfüllt seien und somit die Einkünfte und Bezüge in diesem Zeitraum nicht in die Grenzbetragsberechnung einzubeziehen seien.
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Mit ihrer hiergegen gerichteten Revision rügt die Familienkasse eine unzutreffende Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG und nimmt Bezug auf das Senatsurteil vom 17. Juni 2010 III R 34/10 (BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982).
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Sie beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger hat sich zum Verfahren nicht geäußert und auch keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision der Familienkasse ist hinsichtlich der Monate August bis November 2008 begründet (unten 1.). Insoweit führt die Revision zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Abweisung der Klage, da die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für diese Monate zu Recht aufgehoben hat (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Hinsichtlich der Monate Januar bis Juni 2008 ist die Revision der Familienkasse als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Denn die Familienkasse war zu einer (rückwirkenden) Aufhebung der bestandskräftigen Festsetzung für diese Monate nicht berechtigt (unten 2.).
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1. Für ein über 18 Jahre altes Kind, das, wie S in 2008, das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, besteht nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG u.a. dann Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind für einen Beruf ausgebildet wird (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG), sich in einer Übergangszeit von höchstens vier Monaten zwischen zwei Ausbildungsabschnitten befindet (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG) oder eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) und seine zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmten oder geeigneten Einkünfte und Bezüge 7.680 € im Kalenderjahr nicht übersteigen.
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a) In Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG befindet sich, wer sein Berufsziel noch nicht erreicht hat, sich aber ernsthaft und nachhaltig darauf vorbereitet (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsurteil vom 24. Februar 2010 III R 3/08, BFH/NV 2010, 1262). Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG ist ein Kind zu berücksichtigen, wenn es eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn das Kind noch keinen Ausbildungsplatz gefunden hat, sondern auch dann, wenn ihm ein Ausbildungsplatz bereits zugesagt wurde, es diesen aber aus schul-, studien- oder betriebsorganisatorischen Gründen erst zu einem späteren Zeitpunkt antreten kann (z.B. Senatsurteil in BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982).
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b) Zutreffend geht das FG zunächst davon aus, dass S im gesamten Kalenderjahr 2008 die Voraussetzungen eines Berücksichtigungstatbestands nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG erfüllt hat. In den Monaten Januar bis Juni 2008 (Ausbildung zum Industrieanlagenmechaniker) und in den Monaten ab August 2008 (Besuch der Fachoberschule) wurde er i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG für einen Beruf ausgebildet. Im Monat Juli 2008 befand er sich i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG in einer Übergangszeit von höchstens vier Monaten zwischen zwei Ausbildungsabschnitten und war im Übrigen als Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG zu berücksichtigen, denn er hatte sich nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) bereits im Juni 2008 bei der Fachoberschule für das nächste Schuljahr angemeldet.
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c) Entgegen der Auffassung des FG werden die Tatbestände des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und c EStG jedoch nicht dadurch ausgeschlossen, dass S in den danach auch zu berücksichtigenden Monaten Juni, Juli und August 2008 zeitweise --bzw. durchgängig im Juli-- einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachging. Insoweit verweist der Senat zur weiteren Begründung auf sein Urteil in BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982. Danach stand die Vollzeiterwerbstätigkeit des S seiner Berücksichtigung als Kind i.S. des § 32 Abs. 4 EStG nicht entgegen. Bei der Frage, ob der Grenzbetrag überschritten ist, sind daher auch die Einkünfte und Bezüge aus den Monaten Juni bis August 2008 in vollem Umfang einzubeziehen. Nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) überschritten die Einkünfte und Bezüge des S im Kalenderjahr 2008 den maßgeblichen Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, so dass dem Kläger auch für die Monate Januar bis Juni sowie ab August 2008 kein Anspruch auf Kindergeld zustand.
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2. Im Ergebnis zu Recht hat das FG allerdings den Bescheid der Familienkasse vom 15. Juli 2008 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 4. November 2008 aufgehoben, soweit die Familienkasse damit die für Januar bis Juni 2008 bereits bestandskräftige Festsetzung von Kindergeld aufgehoben hat. Denn die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung lagen nicht vor (vgl. Senatsurteil vom 21. Oktober 2010 III R 74/09, BFH/NV 2011, 250).
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a) Insbesondere kam eine rückwirkende Aufhebung der Festsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG nicht in Betracht. Denn im Streitfall haben sich nach den Feststellungen des FG hinsichtlich des Betrages der Einkünfte und Bezüge keine tatsächlichen Änderungen gegenüber den Annahmen in der Prognose ergeben. Vielmehr hat sich im Jahr 2008 allein die Rechtsauffassung der Verwaltung zur Berücksichtigungsfähigkeit von Kindern, die während des Wartens auf einen Ausbildungsplatz (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) oder in einer Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG) einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen, mit der Folge geändert, dass die Einkünfte aus der Vollzeiterwerbstätigkeit bei der Prüfung der Grenzbetragsüberschreitung einzubeziehen sind. Eine derartige Änderung der Rechtsauffassung genügt allein aber nicht, um eine rückwirkende Korrektur der Festsetzung gemäß § 70 Abs. 4 EStG zu rechtfertigen. Von den streitbefangenen Monaten konnte die Familienkasse unter Zugrundelegung ihrer geänderten Rechtsauffassung gemäß § 70 Abs. 3 EStG daher nur die Festsetzung von Kindergeld ab dem Monat August 2008 aufheben. Zur weiteren Begründung wird auf das Urteil in BFH/NV 2011, 250 Bezug genommen.
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b) Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass der Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 EStG dann wieder eröffnet ist, wenn nicht allein die Einbeziehung der Einkünfte aus der Vollzeiterwerbstätigkeit in Folge geänderter Rechtsauffassung zur nachträglichen Feststellung der Grenzbetragsüberschreitung führt, sondern sich zusätzlich tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrages der Einkünfte und Bezüge ergeben --z.B. durch eine bei Erlass der Prognoseentscheidung nicht absehbare Nebenerwerbstätigkeit des Kindes, die parallel zu einer avisierten Ausbildung an einer Schule oder Hochschule aufgenommen wird-- und diese tatsächlichen Änderungen bereits für sich genommen die nachträgliche Feststellung der Überschreitung des (anteiligen) Grenzbetrages ermöglicht hätten. Das Vorliegen eines solchen Sachverhalts hat das FG indes nicht festgestellt.
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