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BSG 12.06.2024 - B 12 BA 8/22 R
BSG 12.06.2024 - B 12 BA 8/22 R - Sozialversicherungspflicht bzw -freiheit - Tätigkeit eines Arztes für die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (HEAE) - Durchführung von Erstuntersuchungen und Beurteilung von Erstuntersuchungsbefunden - abhängige Beschäftigung - selbstständige Tätigkeit
Normen
§ 7 Abs 1 SGB 4, § 7a SGB 4, § 130 SGB 4, § 62 AsylVfG 1992, § 36 Abs 4 IfSG, § 630a BGB
Vorinstanz
vorgehend SG Gießen, 2. September 2021, Az: S 17 R 278/17, Urteil
vorgehend Hessisches Landessozialgericht, 12. Mai 2022, Az: L 1 BA 76/21, Urteil
Tenor
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Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
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Der Kläger trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.
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Der Streitwert wird für das Revisionsverfahren auf 5000 Euro festgesetzt.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten darüber, ob der beigeladene Arzt in seiner Tätigkeit für die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (im Folgenden: Erstaufnahmeeinrichtung) während seiner Einsätze in der Zeit vom 29.1. bis 15.7.2016 aufgrund Beschäftigung der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), der sozialen Pflegeversicherung (sPV), der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag.
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Der beigeladene Arzt verpflichtete sich auf der Grundlage einer mit dem Kläger, vertreten durch die Erstaufnahmeeinrichtung, geschlossenen Vereinbarung vom 29.1.2016 zur Beurteilung von Erstuntersuchungsbefunden und Röntgenaufnahmen (§ 1 Abs 1). Der Vertrag regelt, dass der Arzt nicht in die Arbeitsorganisation der Erstaufnahmeeinrichtung eingegliedert werde (§ 1 Abs 2) und seine Tätigkeit nicht der Sozialversicherungspflicht unterliege (§ 1 Abs 3). Der Arzt verpflichtete sich dazu, eine Kopie seiner Approbationsurkunde vorzulegen (§ 2). Die Erstaufnahmeeinrichtung stellte eine namentliche Liste der Personen, deren Röntgenaufnahmen befundet werden sollten, sowie die entsprechenden Röntgenbilder zur Verfügung (§ 3). Die Beurteilungen erfolgten in den Räumlichkeiten der Erstaufnahmeeinrichtung nach einvernehmlicher zeitlicher Absprache (§ 4). Für seine Leistungen erhielt der Arzt ein Entgelt in Höhe von 50 Euro je Stunde (§ 5). Für fahrlässig verursachte Schäden stellte die Erstaufnahmeeinrichtung ihn frei, soweit diese nicht durch ein privates Versicherungsverhältnis abgedeckt waren (§ 6). Eine Kündigung des Vertrags war angesichts der zeitlichen Befristung der Einsätze nicht vorgesehen (§ 8).
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Am 14.2.2016 schlossen der beigeladene Arzt und die Erstaufnahmeeinrichtung einen weiteren Rahmenvertrag. In diesem verpflichtete sich der Arzt nach Vorlage einer Kopie seiner Approbationsurkunde (§ 1 Abs 3) zur ambulanten medizinischen Versorgung von in der Erstaufnahmeeinrichtung untergebrachten Personen nach Maßgabe des § 4 AsylbLG (§ 2 Abs 1) sowie zur Durchführung von Erstuntersuchungen nach § 62 AsylG, § 36 IfSG und den diesbezüglichen Erlassregelungen des Hessischen Sozialministeriums (§ 2 Abs 2). Seine Tätigkeit erfolgte zeitlich nach Vereinbarung (§ 2 Abs 3). Ein Not- oder Bereitschaftsdienst außerhalb der vereinbarten Präsenzzeiten war nicht geschuldet (§ 2 Abs 4). Die Erstaufnahmeeinrichtung verpflichtete sich zur kostenfreien Bereitstellung adäquater Räumlichkeiten, Geräte, Inventar, Verbandsstoffe uä sowie Medikamente und Impfstoffe (§ 3 Abs 1) sowie zur Übernahme etwaiger Miet-, Instandhaltungs-, Energieversorgungs-, Müllentsorgungs- und Reinigungskosten (§ 3 Abs 2). Sie hielt das zur Vor- und Nachbereitung sowie zur Durchführung der Sprechstunden erforderliche Hilfspersonal vor (§ 3 Abs 3). Für die Durchführung von Erstuntersuchungen und ambulanten Behandlungen erhielt der Arzt einen Stundensatz in Höhe von 75 Euro (§ 4). Die Erstaufnahmeeinrichtung stellte den Arzt für fahrlässig verursachte Schäden frei, soweit diese nicht durch ein privates Versicherungsverhältnis abgedeckt waren (§ 5). Eine Kündigung des Vertrags war auch hier angesichts der zeitlichen Befristung der Einsätze nicht vorgesehen (§ 7 Abs 1). Die Tätigkeit des Arztes werde freiberuflich ausgeübt, sei nicht sozialversicherungspflichtig und der Arzt sei nicht in die Arbeitsorganisation der Erstaufnahmeeinrichtung eingegliedert (§ 1 Abs 1).
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Die Beklagte stellte fest, dass die Tätigkeit des beigeladenen Arztes für die Erstaufnahmeeinrichtung an einzeln aufgeführten Tagen in der Zeit vom 29.1. bis 15.7.2016 im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt worden sei, für das Versicherungspflicht in der GKV, sPV, GRV sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung bestanden habe (Bescheid vom 18.11.2016; Widerspruchsbescheid vom 27.6.2017).
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Das SG hat die Klage abgewiesen und unter anderem ausgeführt, die "zur funktionsgerechten, dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess" verfeinerte Weisungsgebundenheit ergebe sich daraus, dass der Arzt verpflichtet gewesen sei, die vorgegebenen Befunde zu erheben und zu dokumentieren. Er sei nicht frei gewesen in der Wahl seiner Patienten, sondern habe die ihm von den Helfern zugewiesenen Geflüchteten im Hinblick auf Infektionskrankheiten zu untersuchen gehabt. Im Rahmen dieser Tätigkeit sei er vollständig fremdbestimmt in den von der Erstaufnahmeeinrichtung vorgegebenen Betriebsablauf eingegliedert und nicht berechtigt gewesen, die Untersuchungen an einem anderen Ort durchzuführen. Er habe wie die angestellten Ärztinnen und Ärzte die vorhandene Infrastruktur genutzt und dem nichtärztlichen Personal Anweisungen gegeben. Anknüpfend an die Erstuntersuchungen sei das Einscannen der Unterlagen durch weitere Mitarbeiter erfolgt. Diese Unterlagen hätten Ärzte - vorliegend der beigeladene Arzt - ausgewertet und entschieden, ob gesundheitliche Gründe einer Freigabe in die Kommune entgegenstünden. Über die Freigabe an sich sei wiederum an anderer Stelle entschieden worden. Der beigeladene Arzt sei somit in eine Organisationsstruktur eingebunden gewesen. Ein erhebliches unternehmerisches Risiko habe nicht bestanden. Eine Ausnahme- oder Befreiungsvorschrift greife nicht ein, zumal der beigeladene Arzt keine weitere Tätigkeit ausgeübt habe (Urteil vom 2.9.2021).
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Das LSG hat die Berufung unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des SG (§ 153 Abs 2 SGG) zurückgewiesen und ergänzend ausgeführt, maßgebend für die rechtliche Beurteilung sei vorliegend das "Wie" der Beauftragung und die tatsächliche Ausgestaltung der Tätigkeit. Auf die "(politische) Dimension des Zustroms von Flüchtlingen" komme es nicht an. Das SG habe eine Eingliederung des beigeladenen Arztes zutreffend festgestellt, diese zeige sich auch im vereinbarten Vergütungsmodell. Für eine Beschäftigung spreche auch die Vorschrift des § 130 SGB IV zur Beitragsfreiheit von Einnahmen aus Tätigkeiten von Ärztinnen und Ärzten in einem Impfzentrum. Eine Beitragsfreiheit müsse nur angeordnet werden, wenn grundsätzlich eine Versicherungspflicht aufgrund Beschäftigung vorliege. Bei den Tätigkeiten von Ärztinnen und Ärzten in Erstaufnahmeeinrichtungen handele es sich um vergleichbare Tätigkeiten, sodass grundsätzlich von einer Beschäftigung auszugehen sei (Urteil vom 12.5.2022).
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Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 7 SGB IV in Verbindung mit § 130 SGB IV, § 62 AsylG, § 36 Abs 4 IfSG und § 630a BGB. Der beigeladene Arzt sei selbstständig tätig gewesen, weil er über Inhalt, Zeit und Umfang seiner Tätigkeit frei habe bestimmen können. Er habe eigenverantwortlich und weisungsfrei ärztliche Leistungen gegenüber den geflüchteten Menschen erbracht. Eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation der Erstaufnahmeeinrichtung im Sinne eines arbeitsteiligen Zusammenwirkens komme nicht in Betracht, weil es sich bei dieser nicht um eine medizinische Einrichtung gehandelt habe. Auch die Vergütung indiziere keine Eingliederung. Denn die Abrechnung mit Dritten sei im Bereich ärztlicher Leistungen nicht untypisch. Im Verhältnis zum jeweils betroffenen Flüchtling sei der beigeladene Arzt "Behandelnder" iS des § 630a BGB gewesen. Die Tätigkeit sei zudem im öffentlichen Interesse ausgeübt worden und einer Krisensituation geschuldet gewesen, sodass es sich um ein Ehrenamt gehandelt habe. Dass für den Einsatz von Ärzten in Erstaufnahmeeinrichtungen keine § 130 SGB IV entsprechende Sondervorschrift erlassen worden sei, lasse den Schluss zu, dass der Gesetzgeber von einer selbstständigen Tätigkeit ausgegangen sei.
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Der Kläger beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. Mai 2022 und des Sozialgerichts Gießen vom 2. September 2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Juni 2017 aufzuheben und festzustellen, dass der Beigeladene während seiner Einsätze für die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in der Zeit vom 29. Januar bis zum 15. Juli 2016 nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken-, sozialen Pflege- und gesetzlichen Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag.
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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Sie hält das angegriffene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat seine Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Der Kläger ist durch Bescheid der Beklagten vom 18.11.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.6.2017 nicht beschwert (§ 54 Abs 2 Satz 1 SGG). Der beigeladene Arzt unterlag in seiner Beschäftigung für die Erstaufnahmeeinrichtung der Versicherungspflicht in den Zweigen der Sozialversicherung.
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1. In der streitigen Zeit unterlagen Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, der Versicherungspflicht in der GKV, sPV, GRV und nach dem Recht der Arbeitsförderung (§ 5 Abs 1 Nr 1 SGB V, § 20 Abs 1 Satz 1 und Satz 2 Nr 1 SGB XI sowie § 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI, jeweils idF des Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung vom 24.4.2006, BGBl I 926, und § 25 Abs 1 Satz 1 SGB III). Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer Beschäftigung ist § 7 Abs 1 SGB IV (idF der Bekanntmachung vom 12.11.2009, BGBl I 3710). Danach ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis (Satz 1). Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (Satz 2). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine abhängige Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer von der Arbeitgeberin persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht der Arbeitgeberin unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann - vornehmlich bei Diensten höherer Art - eingeschränkt und zur "funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess" verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmensrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich danach, welche Umstände das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägen und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (stRspr; vgl zB BSG Urteil vom 1.2.2022 - B 12 KR 37/19 R - BSGE 133, 245 = SozR 4-2400 § 7 Nr 61, RdNr 12 mwN).
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Die sich an diesen Maßstäben orientierende Abgrenzung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit ist nicht abstrakt für bestimmte Berufs- und Tätigkeitsbilder vorzunehmen. Es ist daher möglich, dass ein und derselbe Beruf - je nach konkreter Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen in ihrer gelebten Praxis - entweder als Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird. Das gilt auch für die ärztliche Tätigkeit in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Daher ist mit der vorliegenden Entscheidung keine allgemeinverbindliche, für alle denkbaren Formen der ärztlichen Tätigkeit in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge gleichermaßen geltende Feststellung getroffen. Das hier gefundene Ergebnis betrifft allein die Tätigkeit des beigeladenen Arztes. Abstrakte, einzelfallüberschreitende Aussagen im Hinblick auf bestimmte Berufs- oder Tätigkeitsbilder sind dem Senat auch weiterhin nicht - auch nicht im Sinne einer "Regel-Ausnahme-Aussage" - möglich. Maßgebend sind stets die konkreten Umstände des individuellen Sachverhalts (stRspr; vgl zB BSG Urteil vom 24.10.2023 - B 12 R 9/21 R - juris RdNr 12 mwN - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen <Poolarzt>).
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2. Die Tätigkeit des beigeladenen Arztes ist nicht als eine - unter bestimmten Voraussetzungen sozialversicherungsfreie - ehrenamtliche Tätigkeit zu qualifizieren. Eine solche erhält ihr Gepräge durch ihre ideellen Zwecke und Unentgeltlichkeit (vgl zuletzt BSG Urteil vom 12.12.2023 - B 12 R 11/21 R - juris RdNr 18). Auch wenn die Tätigkeit des beigeladenen Arztes vorliegend auch aus altruistischen Motiven erbracht worden sein mag und im Interesse der Allgemeinheit lag, hat er sie gleichwohl bei objektiver Betrachtung vorrangig zu Erwerbszwecken ausgeübt. Dies ergibt sich schon aus dem vereinbarten Stundenlohn, der über eine reine Aufwandsentschädigung offenkundig hinausging.
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3. Unter Zugrundelegung der oben genannten Maßstäbe und ausgehend von den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) überwiegen nach dem Gesamtbild die Indizien für die abhängige Beschäftigung.
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a) Bei Vertragsgestaltungen, in denen - wie hier - die Übernahme einzelner Dienste individuell vereinbart wird und insbesondere kein Dauerschuldverhältnis mit Leistungen auf Abruf vorliegt, ist für die Frage der Versicherungspflicht allein auf die Verhältnisse abzustellen, die während der Ausführung der jeweiligen Einzelaufträge bestehen (stRspr; zB BSG Urteil vom 19.10.2021 - B 12 R 17/19 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 63 RdNr 19 mwN). Relevant sind daher nur die in der Zeit vom 29.1.2016 bis zum 15.7.2016 erbrachten Einzeleinsätze des beigeladenen Arztes. Außerhalb dieser liegt schon deshalb keine die Versicherungspflicht begründende "entgeltliche" Beschäftigung iS des § 7 Abs 1 SGB IV vor, weil keine latente Verpflichtung des beigeladenen Arztes bestand, Tätigkeiten für die Erstaufnahmeeinrichtung auszuüben und diese umgekehrt auch kein Entgelt zu leisten hatte.
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b) Ausschlaggebend für die Annahme einer abhängigen Beschäftigung ist, dass der beigeladene Arzt in einer seine Tätigkeit prägenden Weise in die vom Kläger zur Erfüllung der ihm zugewiesenen Aufgaben organisierten Abläufe eingegliedert war, ohne hierauf nachhaltig unternehmerisch Einfluss nehmen zu können. Die in § 7 Abs 1 Satz 2 SGB IV genannten Anhaltspunkte der Weisungsgebundenheit und der Eingliederung stehen weder in einem Rangverhältnis zueinander noch müssen sie stets kumulativ vorliegen. Insbesondere bei Hochqualifizierten oder Spezialisten (sogenannten Diensten höherer Art) kann das Weisungsrecht auf das Stärkste eingeschränkt sein. Dennoch kann die Dienstleistung in solchen Fällen fremdbestimmt sein, wenn sie ihr Gepräge von der Ordnung des Betriebes erhält, in deren Dienst die Arbeit verrichtet wird. Die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers verfeinert sich in solchen Fällen "zur funktionsgerechten, dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess" (BSG Urteil vom 4.6.2019 - B 12 R 11/18 R - BSGE 128, 191 = SozR 4-2400 § 7 Nr 42, RdNr 29 mwN).
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c) Inwieweit der beigeladene Arzt weisungsunterworfen war, kann im Ergebnis offenbleiben. Der beigeladene Arzt hatte zwar weitgehende Freiheit bei der Gestaltung und Verteilung seiner Arbeitszeit. Anders als in einem typischen Arbeitsverhältnis hat er keine ständige Dienstbereitschaft zugesagt, innerhalb derer der Kläger über ihn durch Ausübung eines Direktionsrechts hätte verfügen können. Die Feststellung der Versicherungspflicht aufgrund Beschäftigung umfasst deshalb aber auch nicht die gesamte Laufzeit der Rahmenvereinbarung, sondern nur die Einzelaufträge (vgl unter ).
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Ob eine Weisungsunterworfenheit des beigeladenen Arztes schon im Hinblick auf die Abläufe der einzelnen Tätigkeit sowie hinsichtlich der Bestimmung der zu Untersuchenden bestand, lässt sich angesichts der fehlenden Feststellungen des LSG zu Inhalt und Dichte der Einzelvereinbarungen und deren praktischen Durchführung nicht beurteilen (vgl zur Weisungsgebundenheit iS von § 106 GewO und den sozialversicherungsrechtlichen Maßstäben BSG Urteil vom 23.4.2024 - B 12 BA 9/22 R - juris RdNr 20 ff - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).
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d) Jedenfalls ergibt sich seine Eingliederung daraus, dass sich der beigeladene Arzt bei seinen Diensten in die vom Kläger vorgegebene Organisation einfügte. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG erbrachte der beigeladene Arzt seine Dienstleistung innerhalb eines ausschließlich vom Kläger vorgegebenen äußeren Rahmens und im Wesentlichen in Übereinstimmung mit den bereits vertraglich festgelegten Vorgaben. Der beigeladene Arzt übte seine Tätigkeit - vergleichbar mit einem bei der Erstaufnahmeeinrichtung festangestellten Arzt - in arbeitsteiligem Zusammenwirken mit deren Personal und unter Rückgriff auf deren Betriebsmittel in der Erstaufnahmeeinrichtung aus. Die zu untersuchenden Personen wurden ihm seitens der Mitarbeitenden der Erstaufnahmeeinrichtung angetragen (zur Indizwirkung dieses Kriteriums BSG Urteil vom 24.3.2016 - B 12 KR 20/14 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 29 RdNr 23 <Physiotherapeutin>). Ihre Vorstellung erfolgte in den Räumlichkeiten der Erstaufnahmeeinrichtung, die dort die für die medizinischen Untersuchungen und Behandlungen erforderlichen Geräte, Inventare, Verbandsstoffe, Medikamente und Impfstoffe zur Verfügung stellte. Für die Vor- und Nachbereitung sowie zur Durchführung der Erstuntersuchungen stellte die Erstaufnahmeeinrichtung dem beigeladenen Arzt Hilfspersonal. Grundlage seiner Beurteilungstätigkeit waren die von Mitarbeitenden der Erstaufnahmeeinrichtung eingescannten und in deren Datenbank eingepflegten Untersuchungsbefunde sowie Röntgenaufnahmen, auf die der beigeladene Arzt in den Räumlichkeiten der Erstaufnahmeeinrichtung Zugriff erhielt. Er hatte zu entscheiden, ob gesundheitliche Gründe einer Freigabe in die Kommune entgegenstehen, wobei die Freigabe selbst nicht durch ihn erfolgte. Die Abrechnung erfolgte ausschließlich im Verhältnis zwischen dem beigeladenen Arzt und der Erstaufnahmeeinrichtung. Eine unmittelbare Abrechnung zwischen dem beigeladenen Arzt und den Patienten bzw Krankenkassen oder anderen Kostenträgern fand nicht statt (zur Indizwirkung entsprechender Vergütungsregelungen zB BSG Urteil vom 19.10.2021 - B 12 KR 29/19 R - BSGE 133, 49 = SozR 4-2400 § 7 Nr 62, RdNr 24 <Notarzt>).
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e) Einer Eingliederung des beigeladenen Arztes in die Arbeitsorganisation der Erstaufnahmeeinrichtung steht nicht entgegen, dass dieser - anders als etwa einem Krankenhaus - kein medizinischer Versorgungsauftrag im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens zukommt. Der Kläger hat tatsächlich eine entsprechende Infrastruktur zur Bereitstellung von ärztlichen Leistungen geschaffen und den beigeladenen Arzt vertraglich zur Einhaltung seiner Vorgaben verpflichtet. Der beigeladene Arzt nahm vorliegend im Übrigen auch im Rahmen seiner Tätigkeit für die Erstaufnahmeeinrichtung Aufgaben der öffentlichen Gesundheitsvorsorge wahr. Denn sie war im streitbefangenen Zeitraum zur Organisation, Durchführung und Dokumentation von Erstuntersuchungen der in ihr untergebrachten Schutzsuchenden verpflichtet. Erstuntersuchungen von Asylbewerbern auf übertragbare Krankheiten einschließlich einer Röntgenaufnahme der Atmungsorgane sind in § 62 AsylG (idF des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015 <BGBl I 1722>, zuvor inhaltsgleich in § 62 AsylVfG idF vom 2.9.2008 <BGBl I 1798> geregelt) zwingend vorgeschrieben. Nach § 36 Abs 4 IfSG (idF vom 5.11.2001, BGBl I 2960) haben Personen, die in eine Einrichtung zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern aufgenommen werden, der Leitung der Einrichtung vor oder unverzüglich nach ihrer Aufnahme ein ärztliches Zeugnis darüber vorzulegen, dass bei ihnen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer ansteckungsfähigen Lungentuberkulose vorhanden sind. Den Umfang der Erstuntersuchung und den Arzt, der die Untersuchung durchführt, bestimmte nach § 62 Abs 1 Satz 2 AsylG die oberste Landesgesundheitsbehörde. Als solche hat das Hessische Sozialministerium entschieden, dass Ausländer unmittelbar nach ihrer Einreise "von der Aufnahmeeinrichtung aufgefordert [werden], sich vom ärztlichen Dienst der Einrichtung oder einem anderen ärztlichen Dienst nach § 62 AsylVfG beziehungsweise § 36 Abs 4 IfSG untersuchen zu lassen" (Hessisches Ministerium für Arbeit, Familie und Soziales, Erlass vom 4.2.2009, StAnz 9/2009, 544 <Erlass>, Ziffer 1.2). Lehnte ein Ausländer die Erstuntersuchung ab, obwohl bei ihm Anzeichen für eine nach dem IfSG meldepflichtige Krankheit bestanden, hatte die Erstaufnahmeeinrichtung das Gesundheitsamt darüber zu unterrichten (Ziffer 1.4 des Erlasses). Die Dokumentation der Erstuntersuchungsbefunde erfolgte in der Erstaufnahmeeinrichtung (Ziffer 1.5 iVm 1.6.1 des Erlasses). Offenbleiben kann, in welchem Verhältnis hierzu ein etwaiger privatrechtlicher Behandlungsvertrag (§ 630a BGB) des beigeladenen Arztes mit den zu Untersuchenden stünde.
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Zwar war die Dichte der Eingliederung des beigeladenen Arztes in die Organisation der Erstaufnahmeeinrichtung nicht mit derjenigen von Honorarärzten im Krankenhaus (vgl hierzu BSG Urteil vom 4.6.2019 - B 12 R 11/18 R - BSGE 128, 191 = SozR 4-2400 § 7 Nr 42, RdNr 26 <Honorararzt>) oder Notärzten im Rettungsdienst (vgl hierzu BSG Urteil vom 19.10.2021 - B 12 KR 29/19 R - BSGE 133, 49 = SozR 4-2400 § 7 Nr 62, RdNr 22 <Notarzt>) vergleichbar. Denn die hier zu beurteilenden konkreten organisatorischen Begleitumstände entsprachen nicht den vielfältigen und komplexen Abläufen eines Krankenhausbetriebs oder einer den notärztlichen Dienst kennzeichnenden Rettungskette. Weniger komplexe und kooperationspflichtige Abläufe stehen der Annahme einer Eingliederung indes nicht entgegen (BSG Urteil vom 24.10.2023 - B 12 R 9/21 R - juris RdNr 20 mwN - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen <Poolarzt>). Entscheidend ist, dass die Tätigkeit des beigeladenen Arztes ihr Gepräge von der Ordnung der Erstaufnahmeeinrichtung erhielt, in deren Dienst er seine Arbeit verrichtete (vgl zB BSG Urteil vom 19.10.2021 - B 12 R 1/21 R - BSGE 133, 57 = SozR 4-2400 § 7 Nr 60, RdNr 21 mwN).
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f) Umgekehrt bestehen nach den Feststellungen des LSG keine Anhaltspunkte, die mit einem derartigen Gewicht für Selbstständigkeit sprechen würden, dass sie die Eingliederung des beigeladenen Arztes auf- oder überwiegen könnten. Zwischen der Erstaufnahmeeinrichtung und dem beigeladenen Arzt bestand ein Rahmenvertrag, der die Grundlage für die jeweiligen Einsätze bildete. Einem nennenswerten Unternehmerrisiko war der beigeladene Arzt nicht ausgesetzt. Er musste keine Vorhaltekosten tragen, hatte keinen Verdienstausfall zu befürchten und erhielt einen festen Lohn für geleistete Einsatzstunden. Er musste für die bereitgestellten Betriebsmittel kein Nutzungsentgelt entrichten. Für ihn bestand auch nicht die Chance, durch unternehmerisches Geschick seine Arbeit so effizient zu gestalten, dass er das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu seinen Gunsten entscheidend hätte beeinflussen können. Da es lediglich auf eine Betrachtung der konkret verrichteten Tätigkeit ankommt, ist das einzig in Betracht kommende Risiko des beigeladenen Arztes, keine weiteren Folgeaufträge zu erhalten, für die Frage seines Status in dieser Tätigkeit irrelevant. Denn aus dem (allgemeinen) Risiko, außerhalb der Erledigung einzelner Aufträge zeitweise die eigene Arbeitskraft gegebenenfalls nicht verwerten zu können, folgt kein Unternehmerrisiko bezüglich der einzelnen Einsätze (BSG Urteil vom 24.10.2023 - B 12 R 9/21 R - juris RdNr 21 mwN - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen <Poolarzt>). Gleiches gilt für die den beigeladenen Arzt persönlich treffende Gefahr der Haftung für durch vorsätzliches Verhalten entstandene Schäden (vgl BSG Urteil vom 23.2.2021 - B 12 R 15/19 R - BSGE 131, 266 = SozR 4-2400 § 7 Nr 54, RdNr 29 mwN). Dass der beigeladene Arzt auch für andere Auftraggeber tätig werden durfte, spricht nicht für seine Selbstständigkeit im Rahmen der Einzelaufträge. Auch wenn ein Wettbewerbsverbot grundsätzlich für Arbeitnehmer typisch ist, stellt dessen Fehlen kein Indiz für die Selbstständigkeit des beigeladenen Arztes dar (vgl auch BSG Urteil vom 31.3.2017 - B 12 R 7/15 R - BSGE 123, 50 = SozR 4-2400 § 7 Nr 30, RdNr 49), zumal er nach den Feststellungen des LSG neben der streitgegenständlichen Tätigkeit tatsächlich keine weitere Tätigkeit ausgeübt hat.
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g) Da nach dem Gesamtbild die Indizien für eine abhängige Beschäftigung überwiegen, kommt dem diesem Ergebnis abweichenden Willen der Vertragsparteien keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Gleiches gilt für die vereinbarte Honorarhöhe. Weil diese ebenfalls zur Disposition der Vertragsparteien steht, kann ihr allenfalls dann eine indizielle Bedeutung beigemessen werden, wenn - anders als hier - die Umstände der Tätigkeit gleichermaßen für Selbstständigkeit wie für eine Beschäftigung sprechen (BSG Urteil vom 4.6.2019 - B 12 R 11/18 R - BSGE 128, 191 = SozR 4-2400 § 7 Nr 42, RdNr 36 f <Honorararzt>; BSG Urteil vom 24.11.2020 - B 12 KR 23/19 R - juris RdNr 26; BSG Urteil vom 28.6.2022 - B 12 R 3/20 R - SozR 4-2400 § 7 Nr 65 RdNr 12 <Musiklehrerin>).
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4. Auch der Regelung zur Beitragsfreiheit von Ärzten in Impfzentren kommt keine Aussagekraft zu. Nach § 130 SGB IV (idF des MTA-Reform-Gesetzes vom 24.2.2021, BGBl I 274) unterliegen Einnahmen aus ärztlicher Tätigkeit in einem Impfzentrum oder einem angegliederten mobilen Impfteam nicht der Beitragspflicht. Diese Vorschrift regelt lediglich eine Ausnahme von der Beitragspflicht. Eine Indizwirkung für die Beurteilung einer abhängigen Beschäftigung ist ihr nicht zu entnehmen.
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5. Anhaltspunkte dafür, dass der beigeladene Arzt aufgrund anderer Vorschriften von der Versicherungspflicht in den Zweigen der Sozialversicherung ausgenommen war, sind weder vom LSG festgestellt noch ersichtlich. Insbesondere war er nicht wegen Geringfügigkeit iS des § 8 Abs 1 Nr 1 und 2 SGB IV in den Zweigen der Sozialversicherung versicherungsfrei (vgl § 7 Abs 1 Satz 1 SGB V, § 20 Abs 1 Satz 1 SGB XI, § 5 Abs 2 Satz 1 SGB VI, § 27 Abs 2 Teilsatz 1 SGB III).
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6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 1, § 162 Abs 3 VwGO. Der unterlegene Kläger ist als Land gerichtskostenbefreit (§ 2 Abs 1 Satz 1 GKG).
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7. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 1 Satz 1, § 52 Abs 2, § 47 Abs 1 GKG.
Beck
Padé
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