BVerfG 19.06.2013 - 1 BvR 2253/09 - Nichtannahmebeschluss: Ausnahmen von der Schulsprengelpflicht bei Vorliegen "gewichtiger pädagogischer Gründe" (hier: gem § 66 SchulG HE 2005) - Unzulässigkeit der Urteilsverfassungsbeschwerde mangels hinreichender Substantiierung - zudem in der Sache keine Grundrechtsverletzung feststellbar
Normen
Art 7 Abs 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, §§ 127aff SchulG HE 2005, § 60 Abs 4 SchulG HE 2005, § 66 SchulG HE 2005, § 127a SchulG HE 2005, § 127b Abs 2 SchulG HE 2005, § 4 Abs 2 Nr 3 SchulVerhGV HE 2011
Vorinstanz
vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 21. August 2009, Az: 7 B 2407/09, Beschluss
vorgehend VG Darmstadt, 12. August 2009, Az: 7 L 840/09.DA (3), Beschluss
vorgehend BVerfG, 26. August 2009, Az: 1 BvQ 37/09, Einstweilige Anordnung
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein verwaltungsgerichtliches Eilverfahren über die Einschulung der Beschwerdeführerin zu
1) in eine Grundschule außerhalb des für sie vorgesehenen Schulbezirks.
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Die in Hessen lebende Beschwerdeführerin zu 1) ist die Tochter der Beschwerdeführer zu 2) und 3). Sie hat nach dem Landesschulrecht
(§ 60 Abs. 4 Hessisches Schulgesetz - HSchG) grundsätzlich diejenige Schule zu besuchen, in deren Schulbezirk sie wohnt. Die
Schulbezirke werden durch Satzung des Schulträgers gebildet; sie sind jährlich zu überprüfen und bei Bedarf zu ändern (§ 143
Abs. 1 HSchG). Vor der Einschulung in die für sie zuständige M.schule in D. beantragten die Beschwerdeführer erfolglos, der
Beschwerdeführerin zu 1) aus wichtigem Grund den Besuch einer anderen, benachbarten Grundschule, der B. Schule zu gestatten,
weil diese bilinguale Angebote ab der ersten Klasse biete und als musikalische Grundschule zertifiziert sei. Das Verwaltungsgericht
lehnte ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Ihre dagegen eingelegte Beschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof
zurück. Der auch beim Bundesverfassungsgericht gestellte Eilantrag der Beschwerdeführer hatte ebenfalls keinen Erfolg (Beschluss
der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. August 2009 - 1 BvQ 37/09 -, juris).
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Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte der Beschwerdeführerin
zu 1) aus Artikel 12 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip (freie Wahl der Ausbildungsstätte
und Berufswahl), Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 GG ("schulisches Selbstverwirklichungsrecht") und Artikel
3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz) sowie des damit einhergehenden elterlichen Erziehungsrechts der Beschwerdeführer
zu 2) und 3) aus Artikel 6 Abs. 1 GG. Sie halten die angegriffenen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte und die Schulsprengelpflicht
nach § 60 Abs. 4 HSchG aufgrund der den Schulen durch die §§ 127a ff. HSchG eingeräumten Möglichkeiten zu einer weitgehenden
Profilbildung für verfassungswidrig.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen.
Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung
der von den Beschwerdeführern als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt.
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1. Die Verfassungsbeschwerde zeigt mit ihrer Begründung die Möglichkeit einer Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte der
Beschwerdeführer nicht auf. Insbesondere setzt sie sich nicht in gebotener Weise mit den entscheidenden Ausführungen in den
angegriffenen Beschlüssen auseinander (§§ 92, 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
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Sowohl das Verwaltungsgericht als auch der Verwaltungsgerichtshof haben das Ergebnis ihrer jeweiligen Entscheidung maßgeblich
unter anderem darauf gestützt, dass das Vorliegen eines besonderen pädagogischen Konzepts an der B. Schule nicht ersichtlich
und die Unterschiede zur M.schule nicht von erheblichem Gewicht seien. Insbesondere das Verwaltungsgericht, auf dessen Beschluss
der Verwaltungsgerichtshof Bezug nimmt, hat hierzu detailliert aufgeführt, weshalb keine wesentlichen Unterschiede in den
pädagogischen Konzepten der Schulen zu verzeichnen seien: Auch die M.schule habe ein Konzept zur musikalischen und frühen
sprachlichen Förderung sowie zur Vermittlung von Medienkompetenz. Ein besonderer Unterschied der Konzepte der beiden Schulen
sei insoweit nicht zu erkennen. Mit diesen Ausführungen in den angegriffenen Entscheidungen, die nachvollziehbar und nicht
unplausibel sind, setzen sich die Beschwerdeführer in ihrer Verfassungsbeschwerde nicht auseinander. Sie stellen dem zwar
die Behauptung entgegen, ein vergleichbares Bildungsangebot liege wegen der Möglichkeit zur Profilbildung durch die Schulen
nicht mehr vor, so dass auch die Sprengelpflicht nicht fortbestehen könne. Hierbei gehen sie jedoch nicht darauf ein, dass
das Verwaltungsgericht auf der Grundlage detaillierter Ausführungen zur tatsächlichen Situation zu dem Schluss gekommen ist,
dass die Bildungsangebote der beiden Schulen durchaus noch hinreichend vergleichbar seien und unterschiedliche besondere Schulkonzepte
nicht vorlägen, sodass Gründe für ein Abweichen von der Einhaltung der Schulbezirke zu verneinen seien. Die Beschwerdeführer
haben mit ihrer Verfassungsbeschwerde nicht aufgezeigt, dass die Annahme der Gerichte, der Unterricht an den beiden Schulen
weise keine gravierenden Unterschiede auf, falsch ist. Sie wiederholen insoweit lediglich ihren Vortrag aus dem Verwaltungs-
und Gerichtsverfahren, ohne auf die Argumentation der Gerichte konkret einzugehen oder sonst zu belegen, dass grundlegende
Unterschiede tatsächlich bestehen. Unklar bleibt daher auch, ob die beiden Schulen überhaupt bereits ein eigenes Schulprogramm
nach § 127b Abs. 2 HSchG entwickelt haben, um sich ein pädagogisches Profil zu geben. Auch Belege hierfür lässt die Verfassungsbeschwerde
vermissen. Namentlich die vom Verwaltungsgericht in Bezug genommene Stellungnahme des Schulleiters der M.schule, in der dieser
wohl das Bildungsangebot seiner Schule erläutert, haben die Beschwerdeführer nicht vorgelegt und auch ihrem wesentlichen Inhalt
nach nicht wiedergegeben.
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Da die Beschwerdeführer eine solche Profilbildung als Grund für die Verfassungswidrigkeit der Sprengelpflicht benennen, hätten
sie auch substantiiert aufzeigen müssen, dass entgegen den gerichtlichen Ausführungen eine wesentliche Profilbildung bereits
stattgefunden hat und es sich nicht um bloße Gestaltungsspielräume handelt, die sich die Schulen zunutze machen und die mit
der Sprengelpflicht nicht zwingend unvereinbar sind. Die Sprengelpflicht erfordert nicht, dass Schulen und Bildungsangebote
exakt gleich sind. Eine solche Übereinstimmung ist in der Realität kaum zu erreichen. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass
den Schulen pädagogische Gestaltungsspielräume verbleiben müssen, ohne dass dadurch die Bindung an Schulbezirke gleich zu
einer Grundrechtsverletzung führt. Auch damit haben sich die Beschwerdeführer nicht auseinandergesetzt.
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Wie bereits im Verfahren nach § 32 BVerfGG haben die Beschwerdeführer nach wie vor nicht in tatsächlicher Hinsicht aufzeigen
können, dass die Unterschiede zwischen den beiden Schulen von solchem Gewicht wären, dass sie sich durchgreifend auf den weiteren
schulischen Bildungsweg oder gar auf die künftigen Berufschancen der Beschwerdeführerin zu 1) auswirken könnten (vgl. BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. August 2009 - 1 BvQ 37/09 -, juris).
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Überdies haben die Beschwerdeführer nicht dargelegt, ob die Bejahung der Verfassungswidrigkeit der Sprengelpflicht überhaupt
zu dem im Ausgangsverfahren geltend gemachten unmittelbaren Anspruch auf Zulassung zu der gewünschten anderen Grundschule
(B. Schule) führen könnte (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Dezember 2000 - 1 BvL 15/00 -, juris).
Insbesondere ist nicht substantiiert vorgetragen, ob hinreichende Kapazitäten für die Aufnahme der Beschwerdeführerin zu 1)
in der B. Schule zur Verfügung gestanden hätten. Schon das Verwaltungsgericht hat darauf hingewiesen, dass nicht einmal sicher
gewesen wäre, ob die Beschwerdeführerin zu 1) bei einem Besuch der B. Schule überhaupt am bilingualen Unterricht hätte teilnehmen
können, da auch insoweit nur begrenzte Kapazitäten zur Verfügung stünden. Auch mit dieser Feststellung hat sich die Verfassungsbeschwerde
nicht substantiiert auseinandergesetzt.
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2. Dessen ungeachtet lässt sich eine Grundrechtsverletzung in der Sache nicht feststellen.
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Die gesetzliche Schulsprengelpflicht (hier § 60 Abs. 4 HSchG) als solche ist - in Ausgestaltung des staatlichen Erziehungsauftrages
(vgl. Art. 7 Abs. 1 GG) - für die Grundschüler nicht zu beanstanden. Sie rückt den Aspekt der "kurzen Wege" für die noch sehr
jungen Schüler und die Nähe der Wohnung der Sorgeberechtigten in den Vordergrund. Auch die möglichst gleichmäßige Auslastung
der einzelnen Schulen und die Ermöglichung eines einheitlichen Bildungsgangs für alle schulpflichtigen Kinder unabhängig von
ihrer sozialen Herkunft sind legitime gesetzgeberische Ziele. Die damit verbundenen Einschränkungen für Grundschüler und ihre
Sorgeberechtigten sind in aller Regel nicht unangemessen und nicht unzumutbar. Das sehen auch die Beschwerdeführer im Grundsatz
nicht anders.
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Allerdings ist mit zunehmender Einräumung von eigenständigen pädagogischen Profilbildungen in den Grundschulen zu erwarten,
dass der Gesetzgeber bei der Gestaltung der Ausnahmeregelungen zur Schulsprengelpflicht darauf Rücksicht nimmt und die Schulbehörden
und Verwaltungsgerichte dies bei der Auslegung und Anwendung der bestehenden Ausnahmevorschriften berücksichtigen und diese
gegebenenfalls weit interpretieren, namentlich wenn es um die Frage des Vorliegens "gewichtiger pädagogischer Gründe" für
eine Ausnahme geht (§ 66 Nr. 3 HSchG a.F., § 66 HSchG n.F. i.V.m. § 4 Abs. 2 Nr. 3 VO zur Gestaltung des Schulverhältnisses
vom 19. August 2011).
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Dies hat der letztinstanzlich entscheidende Verwaltungsgerichtshof im Ausgangsverfahren im Ergebnis nicht verkannt. Er hat
in vertretbarer Weise die Unterschiede der Schul- und Unterrichtsgestaltung in den beiden in Rede stehenden Grundschulen gewürdigt
und diese für nicht so gewichtig erachtet, als dass sie eine Ausnahme von der Schulsprengelpflicht geböten. Diese Bewertung
lässt - als Tatsachenwürdigung - schlechterdings unhaltbare Erwägungen nicht erkennen. Auch die Beschwerdeführer tragen nichts
vor, was dies belegen könnte. Sie vertreten lediglich ihren bereits im Ausgangsverfahren bezogenen Standpunkt weiterhin. Eine
Verfassungsverletzung zeigen sie damit nicht auf.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.