BVerfG 12.12.2012 - 2 BvR 1294/10 - Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch Nichtberücksichtigung eines mit einem falschen Aktenzeichen bezeichneten vorbereitenden Schriftsatzes im Zivilprozess - Gegenstandswertfestsetzung auf 8000 Euro
Normen
Artikel 103, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 129, § 130, § 495a
Vorinstanz
vorgehend AG München, 12. Mai 2010, Az: 411 C 4993/10, Beschluss
vorgehend AG München, 14. April 2010, Az: 411 C 4993/10, Urteil
Tenor
Das Urteil des Amtsgerichts München vom 14. April 2010 - 411 C 4993/10 - und der Beschluss des Amtsgerichts München vom 12. Mai 2010 - 411 C 4993/10 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
...
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe
I.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Reichweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör in einem mietrechtlichen Rechtsstreit.
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1. Die Beschwerdeführerin hatte an den Kläger des Ausgangsverfahrens bis zum Jahre 2009 eine Wohnung vermietet. Nach Beendigung
des Mietverhältnisses behielt die Beschwerdeführerin einen Teil der Sicherheitsleistung des Mieters ein. Daraufhin wurde sie
von ihrem Mieter auf Zahlung der Restsumme gerichtlich in Anspruch genommen und auf ihr Anerkenntnis vom Amtsgericht mit Anerkenntnisurteil
vom 21. Januar 2010 (422 C 29689/09) zur Leistung verurteilt.
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Im Jahre 2010 klagte der Mieter erneut gegen die Beschwerdeführerin und machte einen Anspruch wegen zu Unrecht durchgeführter
Schönheitsreparaturen geltend. Das Amtsgericht setzte der Beschwerdeführerin in dem Klageverfahren 411 C 4993/10 eine Frist
zur Klageerwiderung von zwei Wochen. Die Klageschrift und der Beschluss des Amtsgerichts wurden der Beschwerdeführerin am
24. März 2010 zugestellt
.
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Das Klageerwiderungsschreiben der Beschwerdeführerin vom 1. April 2010 erreichte das Amtsgericht am 6. April 2010 und wurde
zur Akte 422 C 29689/09 gegeben, weil es von dem Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin versehentlich mit dem Aktenzeichen
des abgeschlossenen Verfahrens versehen worden war. In dem Schriftsatz erhob die Beschwerdeführerin die Einrede der Verjährung
und bestritt die Höhe des geltend gemachten Klageanspruchs.
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Mit Urteil vom 14. April 2010 verurteilte das Amtsgericht die Beschwerdeführerin in Unkenntnis der Klageerwiderung vom 1.
April 2010 zur Zahlung der mit der Klage geltend gemachten Geldleistung. Die Klage sei schlüssig begründet. Die Beschwerdeführerin
habe sich trotz Fristsetzung zur Klageerwiderung und Hinweis auf die Folgen einer Fristversäumnis nicht zu der Klage geäußert,
so dass auf der Grundlage des klägerischen Vortrags zu entscheiden gewesen sei.
- 6
2. Die Beschwerdeführerin erhob mit Schreiben vom 4. Mai 2010 Anhörungsrüge. Das fristgemäß bei Gericht eingegangene Schreiben
vom 1. April 2010 sei bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt worden. Der Schriftsatz sei zwar mit dem Aktenzeichen 422
C 29689/09 versehen gewesen. In ihm seien jedoch Forderungen bestritten worden, die nicht Gegenstand des Anerkenntnisses in
dem Verfahren 422 C 29689/09 gewesen seien. Bei Kenntnis des übergangenen Schreibens wäre das Endurteil anders ausgefallen;
jedenfalls wäre im Hinblick auf die bestrittene Höhe der Klageforderung eine Beweisaufnahme erforderlich gewesen.
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Das Amtsgericht wies die Anhörungsrüge mit Beschluss vom 12. Mai 2010 zurück. Dass der Schriftsatz vom 1. April 2010 unberücksichtigt
geblieben sei, liege nicht in der Verantwortung des Gerichts, sondern in derjenigen des Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin,
der auf dem Schreiben das falsche Aktenzeichen angegeben habe. Wenn wie hier bei demselben Gericht in einem engen zeitlichen
Zusammenhang zwischen denselben Prozessbeteiligten mehrere Verfahren anhängig seien, die noch dazu hinsichtlich des Streitgegenstandes
zumindest teilweise identisch seien, treffe den anwaltlichen Vertreter eine gesteigerte Sorgfaltspflicht und er habe dafür
zu sorgen, dass Schriftsätze auch zum richtigen Verfahren eingereicht würden. Es sei in Fällen der vorliegenden Art nicht
die Aufgabe des Gerichts, zu überprüfen, welcher Schriftsatz zu welchem Verfahren gehöre. Dies sei auch praktisch nicht umsetzbar,
da aufgrund der Geschäftsverteilung des Gerichts die Verfahren, auch wenn dieselben Parteien beteiligt seien, nicht automatisch
demselben Richterdezernat zugeteilt würden. Wegen der Nachlässigkeit des Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin liege auch
kein so genannter "Pannenfall" vor, der nur Konstellationen erfasse, bei denen Schriftsätze aufgrund eines gerichtlichen Versehens
nicht vorgelegt worden seien.
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3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, dass das Gericht das Schreiben vom 1. April 2010 nicht berücksichtigt
und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. In der Zivilprozessordnung finde sich keine Vorschrift, die
für den fristgerechten Eingang eines Klageerwiderungsschriftsatzes die Angabe des korrekten Aktenzeichens fordere. Der Bundesgerichtshof
entscheide in ständiger Rechtsprechung, dass ein fristwahrender Schriftsatz auch dann rechtzeitig bei Gericht eingegangen
sei, wenn er ein falsches Aktenzeichen trage und deswegen im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht zu den Akten gelangt sei.
- 9
4. Der Kläger des Ausgangsverfahrens und das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz haben von einer
Stellungnahme abgesehen.
II.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Dies ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs.
1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die in der Verfassungsbeschwerde
aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt oder lassen
sich ohne Weiteres auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung beantworten (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde
ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.
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Das Urteil des Amtsgerichts München vom 14. April 2010 und der Beschluss des Amtsgerichts vom 12. Mai 2010 verletzen die Beschwerdeführerin
in ihrem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
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1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht, die Ausführungen
der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gericht verstößt gegen diesen Grundsatz, wenn
es einen ordnungsgemäß eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt; auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht
an (vgl. BVerfGE 11, 218 220>; 62, 347 352>; 70, 215 218>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. August
1992 - 2 BvR 1129/92 -, NJW 1993, S. 51).
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2. Im vorliegenden Fall ist das Schreiben der Beschwerdeführerin vom 1. April 2010 mit der Klageerwiderung vom Amtsgericht
nicht berücksichtigt worden, obwohl das Schreiben am 6. April 2010, also vor Ablauf der gerichtlich verfügten zweiwöchigen
Frist zur Klageerwiderung, beim Amtsgericht eingegangen war.
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Entgegen der in dem Beschluss vom 12. Mai 2010 deutlich werdenden Auffassung des Amtsgerichts war für den Eingang und daher
für die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch das Gericht allein entscheidend, dass die Klageerwiderungsschrift vor Ablauf der
Frist an das zur Entscheidung berufene Amtsgericht gelangt war. Unerheblich ist dagegen, ob der Schriftsatz innerhalb dieser
Frist in die für diese Sache bereits angelegte Akte eingeordnet war. Da der Rechtsuchende keinen Einfluss darauf hat, welche
Richter im einzelnen durch die Geschäftsverteilung zur Bearbeitung der Sache bestimmt worden sind, braucht er keine Sorge
dafür zu treffen, dass seine Eingabe innerhalb des angerufenen Gerichts unverzüglich in die richtige Akte gelangt. Demgemäß
schreibt das Gesetz in den § 129 Abs. 1, § 130 ZPO die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht
vor. Die Angabe eines Aktenzeichens soll die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung
sorgen. Es handelt sich um eine Ordnungsmaßnahme, die für die Sachentscheidung ohne Bedeutung ist (ständige Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs; vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juni 2003 - VIII ZB 126/02 -, NJW 2003, S. 3418; Beschluss vom 15. April
1982 - IVb ZB 60/82 -, VersR 1982, S. 673; Beschluss vom 2. Oktober 1973 - X ZB 7/73 (BPatG) -, NJW 1974, S. 48).
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Diese in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten und die Maßstäbe des Art. 103 Abs. 1 GG zutreffend berücksichtigenden
Grundsätze gelten auch dann, wenn das Amtsgericht - wie hier - sein Verfahren gemäß § 495a ZPO nach billigem Ermessen bestimmt
hat. Die Beschwerdeführerin traf mithin auch keine gesteigerten Sorgfaltspflichten etwa deshalb, weil - wie das Amtsgericht
meint - bei demselben Gericht in einem engen zeitlichen Zusammenhang mehrere Verfahren zwischen denselben Prozessbeteiligten
mit zumindest teilweise identischen Streitgegenständen anhängig gewesen seien. Abgesehen davon, dass es sich ohnehin nur um
zwei Verfahren gehandelt hat, von denen eines bereits durch Anerkenntnisurteil erledigt war, besteht auch grundsätzlich kein
Bedürfnis dafür, Klägern derartige Sorgfaltspflichten aufzuerlegen. Wie das vorliegende Verfahren zeigt, bietet die Anhörungsrüge
die Möglichkeit, durch Zuordnungsschwierigkeiten entstandene Probleme zu bewältigen. Dem hat sich das Amtsgericht allerdings
verschlossen und den Gehörsverstoß damit perpetuiert.
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3. Die Entscheidungen des Amtsgerichts beruhen auf diesem Gehörsverstoß. Der unberücksichtigt gebliebene Vortrag der Beschwerdeführerin
ist erheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass seine Einführung in das Gerichtsverfahren das Amtsgericht dazu bewogen hätte,
den Anspruch des Klägers in einer für die Beschwerdeführerin günstigeren Weise zu beurteilen.
III.
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Die Kammer hebt nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG das Urteil vom 14. April 2010 und den Beschluss vom
12. Mai 2010 auf und verweist die Sache an das Amtsgericht zurück.
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Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.