BVerfG 23.11.2011 - 1 BvR 2682/11 - Nichtannahmebeschluss: Grundrechtsverletzung durch unzureichende Beteiligung des betroffenen Unternehmens in einem unionsrechtlichen vorläufigen Beihilfeprüfverfahren nicht hinreichend substantiiert dargelegt
Normen
Artikel 2, § 490, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, Art 6 Abs 1 EGV 659/99
Vorinstanz
vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 17. Oktober 2011, Az: OVG 10 S 22.11, Beschluss
vorgehend VG Berlin, 1. Juni 2011, Az: 20 L 151.11, Beschluss
Gründe
I.
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Die Beschwerdeführerin, deren Begünstigung durch eine staatliche Beihilfe von der Europäischen Kommission untersucht wird,
erstrebt ihre Beteiligung in einem vorläufigen Beihilfeprüfverfahren, bevor die Bundesrepublik Deutschland auf Anfrage der
Kommission dieser gegenüber eine abschließende Stellungnahme abgibt. Die Beschwerdeführerin hat vergeblich versucht, im Verwaltungsverfahren
und mit Eilanträgen vor den Verwaltungsgerichten Rechte auf Akteneinsicht und Anhörung geltend zu machen. Die Verfassungsbeschwerde
richtet sich gegen den abschlägigen Bescheid und den Widerspruchsbescheid des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie
sowie gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin und einen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg.
Die Verfassungsbeschwerde und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sind darauf gerichtet, dem Bundesministerium
für Wirtschaft und Technologie aufzugeben, gegenüber der Europäischen Kommission in dem vorläufigen Beihilfeprüfverfahren
nur nach Beteiligung der Beschwerdeführerin abschließend Stellung zu nehmen.
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Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung von Grundrechten, insbesondere von aus Art. 2 Abs. 1 GG hergeleiteten Verfahrensrechten
geltend.
II.
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1. Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen nicht vor. Sie hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche
Bedeutung (
) und ihre Annahme erscheint auch nicht zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten der Beschwerdeführerin
angezeigt (
). Denn die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg, ihre Begründung zeigt die Möglichkeit einer Verletzung der
Beschwerdeführerin in ihren verfassungsmäßigen Rechten nicht hinreichend substantiiert auf.
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a) Soweit die Beschwerdeführerin ihre Grundrechte als verletzt betrachtet, weil durch die angegriffenen Entscheidungen eine
Schutzlücke nicht geschlossen worden sei, weshalb europäisches Verfahrensrecht hinter dem erforderlichen Grundrechtsstandard
zurückbleibe, genügt sie nicht den in diesem Zusammenhang durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten hohen Zulässigkeitsanforderungen.
Danach sind Verfassungsbeschwerden, die eine derartige Verletzung von Grundrechten bei Anwendung von Gemeinschaftsrecht durch
die nationale öffentlichen Gewalt geltend machen, von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die
europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach der sogenannten Solange
II-Entscheidung (vgl. BVerfGE 73, 339 378 - 381>) unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei. Deshalb muss
die Begründung der Verfassungsbeschwerde im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz
generell nicht gewährleistet ist. Dazu bedarf es einer Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene
in der Art und Weise, wie das Bundesverfassungsgericht sie in der Solange II-Entscheidung dargelegt hat (vgl. BVerfGE 102,
147 164>). Dem genügt die vorliegende Verfassungsbeschwerde nicht.
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b) Soweit die Verfassungsbeschwerde darauf zielt, eine Verletzung von Grundrechten und hier des Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes
im Umgang des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie mit dem Auskunftsersuchen der Europäischen Kommission in einem
vorläufigen Beihilfeprüfverfahren geltend zu machen, kann offen bleiben, inwiefern hier neben den europarechtlichen Regeln
zum Beihilfeprüfverfahren, in dem sich auch Regeln über die Beteiligung im förmlichen Prüfverfahren derjenigen finden, die
von staatlichen Beihilfen profitieren (vgl. Art. 6 Abs. 1 Beihilfeverfahrensverordnung (EG) Nr. 659/1999, Abl. EG Nr. L 83,
S. 1), der eigenständige Anwendungsbereich der Grundrechte eröffnet ist. Denn eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG ist vorliegend
jedenfalls nicht hinreichend substantiiert dargetan und daher nicht ersichtlich.
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c) Ob bereits die Abgabe einer Stellungnahme durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ohne vorherige Anhörung
der Beschwerdeführerin ihre aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete Grundrechtsposition entwertet, erschließt sich aus dem Vorbringen
der Beschwerdeführerin nicht.
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(1) Die Grundrechte beeinflussen nicht nur die Ausgestaltung des materiellen Rechts, sondern setzen zugleich Maßstäbe für
eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisations- und Verfahrensgestaltung (vgl. BVerfGE 69, 315 355>; stRspr). In
ihrer Verfahrensdimension können Grundrechte also auch durch eine fehlende Beteiligung im Verwaltungsverfahren verletzt werden.
Doch setzt dies voraus, dass es in dem jeweiligen Verfahren um Handlungen geht, die Grundrechte auch tatsächlich beinträchtigen
können.
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(2) Dass in der Stellungnahme des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie selbst ein Grundrechtseingriff liegen
kann, ist jedoch nicht erkennbar. Es handelt sich um eine Informationsvermittlung des Mitgliedstaates an die Kommission ohne
unmittelbare Rechtswirkung. Zwar hat eine Stellungnahme des von der Kommission um Auskunft ersuchten Mitgliedstaates Einfluss
auf die das vorläufige Prüfverfahren beendende Entscheidung, doch geht von ihr keine Bindungswirkung aus. Desgleichen wird
die mögliche Entscheidung der Europäischen Kommission über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens zwar veröffentlicht,
doch hat sie ebenfalls keine Dritte bindende Kraft, denn es handelt sich um eine vorläufige Würdigung des Sachverhaltes. Konkrete
grundrechtsrelevante Wirkungen hat die Beschwerdeführerin nicht dargelegt. Soweit die Beschwerdeführerin darauf verweist,
dass die nationalen Gerichte Schlüsse aus der Eröffnung des förmlichen Verfahrens ziehen könnten, geht sie daran vorbei, dass
die nationalen Gerichte an eine vorläufige Würdigung eines Vorgangs durch die Europäische Kommission als unionsrechtswidrige
Beihilfe nicht gebunden sind, sondern bis zum Abschluss des förmlichen Beihilfeprüfverfahrens das Vorliegen einer Beihilfe
selbst zu prüfen haben (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2011 - I ZR 136/09 -, EuZW 2011, S. 440). Konkreter Vortrag dazu,
dass die Kreditgeberin der Beschwerdeführerin eine Kündigung der Kredite im Fall der Eröffnung des förmlichen Verfahrens tatsächlich
beabsichtigt, fehlt. Auch der Hinweis auf § 490 Abs. 1 BGB genügt hier nicht, da sich daraus lediglich ergibt, dass der Kreditgeber
im Falle einer Kreditgefährdung kündigen kann. Zudem ist die allgemeine Behauptung einer dann bevorstehenden Insolvenz nicht
geeignet, um die Möglichkeit einer Beeinträchtigung von Grundrechten substantiiert darzulegen.
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d) Von einer weiteren Begründung sieht die Kammer nach
ab.
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2. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos
(vgl. § 40 Abs. 3 GOBVerfG).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.