Wie sich Gewalt erkennen und verhindern lässt

Gewalt in der Pflege hat viele Formen und passiert oft im Verborgenen. Die Herausforderung liegt darin, sie zu erkennen und zu verhindern.

Auf dem Bild hält eine Person die andere am Handgelenk fest

Gewalt in der Pflege Kann die häusliche Pflege nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht Anspruch auf… tritt in unterschiedlichen Formen auf: Diese reichen von verbaler Aggression über Vernachlässigung bis zu seelischer und körperlicher Misshandlung. Wie kann es dazu kommen, dass ausgebildete Pflegefachpersonen Grenzen überschreiten? Wie können Einrichtungen vorbeugen? Wie kann die einzelne Pflegefachperson reagieren? Wichtig zu wissen: Auch pflegebedürftige Menschen können aggressiv werden - eine Herausforderung für das Pflegepersonal.

Essen hastig anreichen, Zimmer betreten, ohne anzuklopfen oder die Klingel weglegen. Schon bei diesen Verhaltensweisen bleibt die Würde des pflegebedürftigen Menschen auf der Strecke. Auch wenn er zum Beispiel unaufgefordert geduzt, im Zimmer eingeschlossen oder seine Bedürfnisse ignoriert werden. "Gewalt in der Pflege muss nicht körperlich sein", betont Werner Winter, AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… -Experte für Betriebliche Gesundheitsförderung Seit dem Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes zum 1. April 2007 sind die bisherigen… (BGF). "Gewalt hat viele Gesichter und kommt auch in der Pflege leider häufiger vor, als allgemein bekannt."

Gewalt passiert oft im Verborgenen

Jede Beziehung, die von großer Nähe und Abhängigkeit geprägt ist, ist anfällig für Gewalt. Das trifft auf Partnerschaften zu, auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und eben auch auf die Pflege - nicht nur, wenn Angehörige pflegen, sondern auch bei professionellem Pflegepersonal. So gibt fast jede dritte Pflegeperson an, dass Maßnahmen gegen den Willen von Patienten, Bewohnerinnen und Pflegebedürftigen alltäglich sind. Das besagt eine Studie des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (DIP) von 2017. In einer Befragung von Mitarbeitenden in ambulanten Pflegediensten gaben 40 Prozent zu, sich in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal problematisch verhalten zu haben: dass sie beispielsweise lauter geworden sind, eine Einschüchterung ausgesprochen oder den Pflegebedürftigen hart angefasst haben. "Die Dunkelziffer ist dabei sicherlich hoch, denn Gewalt passiert meist im Verborgenen", so Winter. "Die davon betroffenen Menschen nehmen entwürdigende Verhaltensweisen nicht immer wahr und sind in Befragungen auch nicht immer ehrlich, weil sie sich dafür schämen." Zudem wollen und können sich die Opfer aufgrund der Abhängigkeit zu den Pflegenden und/oder kognitiver Einschränkungen oft nicht dazu äußern. So taucht Gewalt in der Pflege in Kriminalstatistiken selten auf.

Anfassen, anschreien, anschnallen - viele Formen

Meistens ist Gewalt nicht so offensichtlich. Für pflegebedürftige Menschen ist es demütigend, wenn sie grob angefasst oder unbequem hingelegt werden, mit Medikamenten ruhiggestellt oder ohne Genehmigung mit Gurten angeschnallt werden. Auch anschreien, schimpfen, unter Druck setzen, beleidigen, unzureichend helfen, ausgrenzen oder Bedürfnisse übergehen sind Formen von Gewalt. Es kommt zudem vor, dass Pflegebedürftige finanziell ausgebeutet werden. Sexuelle Übergriffe sind ebenfalls nicht ausgeschlossen. "Sexualisierte Gewalt ist eine Form der Machtausübung - unabhängig von sexueller Attraktivität", betont AOK-Experte Winter. Studien weisen darauf hin, dass gerade hochaltrige Pflegebedürftige ab dem 80. Lebensjahr davon Opfer werden, also diejenigen Menschen, die besonders eingeschränkt und gebrechlich sind.

Überforderung ist eine Ursache von vielen

Das alles gehört nicht in den Pflegealltag. Dennoch passiert es und dafür gibt es vielfältige Gründe. "Überforderung - verbunden mit Zeitdruck, Personalmangel, Konflikten im Team und schlechtem Arbeitsklima - kann eine der Ursachen sein", sagt Winter. Risikofaktoren liegen aber auch bei der pflegenden Person selbst, etwa wenn sie selbst schon Gewalt erfahren hat, unter einem Alkoholproblem leidet, gesundheitliche oder finanzielle Sorgen hat. Auch wenn Pflegebedürftige demenzkrank sind, steigt das Risiko für gewaltsames Verhalten.

Gefahren benennen

Oft fehlt es in den Einrichtungen und Unternehmen an Konzepten und Strukturen, um solche Vorfälle aufzufangen oder zu verhindern. Eine Befragung des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) legt offen, dass es in knapp der Hälfte der Einrichtungen kein Personal gibt, das speziell für den Umgang mit Aggressionen und Gewalt geschult ist. Häufig bleibt das Thema sowohl im Leitbild der Einrichtung als auch im Qualitätsmanagement ausgespart. Doch auch hier gilt: "Erst wenn die Gefahr benannt wird, kann sie auch erkannt und gebannt werden", so BGF-Experte Winter.

Vorfälle aufarbeiten

Die meisten Pflegefachpersonen wünschen sich eine konstruktive Atmosphäre, die es ermöglicht, angstfrei und lösungsorientiert über problematisches Verhalten zu sprechen, wie die Befragung des ZQP zeigt. Viele wünschen sich bereits eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema in der Ausbildung zur Pflegefachperson sowie verstärkte Fortbildungsmöglichkeiten zum Umgang mit Konflikten, Aggression und Gewalt.

Tatsächlich sehen Expertinnen und Experten Trainings für die Mitarbeitenden als besonders hilfreich an, um Gewalt vorzubeugen beziehungsweise damit umzugehen. Auch kollegiale Fallbesprechungen, Supervision und eine Plattform, auf der anonym oder namentlich Gewaltereignisse gemeldet werden können, haben sich bewährt. Wünschenswert ist auch, dass jede Einrichtung eine Beauftragte oder einen Beauftragten für freiheitsentziehende Maßnahmen hat - dazu gehören zum Beispiel Bettgitter, Gurte, Ruhigstellung mit Schlafmitteln oder Psychopharmaka.

Wenn Pflegefachpersonen einen herabwürdigenden Umgang eines Kollegen oder einer Kollegin beobachten, sollten sie, wenn möglich, mit der pflegebedürftigen Person unter vier Augen sprechen und klären, wie sie die Situation empfunden hat. Auch mit der Kollegin oder dem Kollegen, die oder der sich problematisch verhalten hat, sollte gesprochen werden. "Zudem sind Pflegepersonen aufgrund des Schutzauftrags verpflichtet, den Vorfall zu melden", sagt Winter. "Am besten machen Sie sich Notizen, um ihre Beobachtungen genau festzuhalten." Bei akuter Gefahr für den pflegebedürftigen Menschen heißt es natürlich: eingreifen - möglichst ohne sich selbst in Gefahr zu bringen und gegebenenfalls die Polizei verständigen.

Unterstützung holen

Wenn Pflegepersonen an sich selbst demütigendes Verhalten beobachten, sollten sie sich ein paar Fragen stellen: Über welchen Patienten ärgere ich mich und warum? Welche Tätigkeiten mache ich ungern? Was stresst mich? Dann gilt es, sich Unterstützung zu holen, um nicht in Aggressionen abzurutschen. Fest steht: Die Gesundheitseinrichtungen haben eine Garantenpflicht, das heißt, die Pflicht, ihre Patienten, Bewohnerinnen und Pflegebedürftigen vor Gefahren für Leib und Seele zu schützen. Diese wiederum haben ein Recht auf Selbstbestimmung und Schutz der Unversehrtheit. 

 

Anzeichen für Gewalterfahrungen

Nicht erklärliche Verhaltensänderungen der pflegebedürftigen Person ohne medizinischen Grund könnten ein Zeichen sein, dass Gewalterfahrungen gemacht wurden. Die pflegebedürfte Person könnte etwa plötzlich scheu, verängstigt, teilnahmslos, aggressiv oder übertrieben respektvoll reagieren. Auch Selbstverletzungen können ein Alarmsignal sein.

Pflegende Angehörige, aber auch professionell Pflegende warten oft zu lange, bevor sie Hilfe suchen, obwohl sie überlastet sind und sich überfordert fühlen. Die Angehörigen haben zum Beispiel Anspruch auf eine kostenlose Pflegeberatung Bei der Pflegeberatung handelt es sich um eine individuelle Beratung und Hilfestellung durch eine… , die bei einer besseren Organisation der Pflege helfen kann. AOK-Versicherte können sich dazu an die AOK-Pflegeberatung wenden. Pflegende Angehörige können auch ambulante Pflegedienste zur Unterstützung heranziehen oder die betreute Person in einer Tagespflege betreuen lassen. Professionell Pflegende sollten ihre Überlastung mit Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzten besprechen und gemeinsam nach Lösungen suchen.

Hilfreiches Wissen

Auch pflegebedürftige Menschen können gewalttätig werden und Pflegefachpersonen beschimpfen, bespucken, kneifen, sexuell belästigen.Oft stehen dahinter kognitive Einschränkungen, beispielsweise durch eine Demenzerkrankung.

Es kann aber auch Unmut sein über zu wenig Bewegung und Beschäftigung, aber auch Verzweiflung und Scham angesichts der eigenen Hilflosigkeit. Diese Aggressionen können ein Grund sein, warum das Pflegepersonal ebenfalls mit Gewalt reagiert. Wie lässt sich das verhindern?

    Pflegepersonen, die solche negativen Erfahrungen im Pflegalltag erleben, sollten:

    • Nicht widersprechen, belehren oder schimpfen
    • Verhalten direkt ansprechen und deutliche Grenzen setzen, im Sinne von „Ich möchte das nicht!“
    • Bei großer Aufregung den Raum kurz verlassen
    • Für Ablenkung sorgen, zum Beispiel mit Musik
    • Die Ursachen für das herausfordernde Verhalten herausfinden, am besten zusammen mit den Angehörigen
    • Sich mit der Ärztin oder dem Arzt Die ärztliche Berufsausübung, die Ausübung der Heilkunde, setzt nach der Bundesärzteordnung eine… besprechen, damit regelmäßige Visiten durch neurologische beziehungsweise gerontopsychiatrische Fachärzte oder Fachärztinnen veranlasst werden.
    • Für eine ruhige Atmosphäre sorgen
    • Das Gefühl vermitteln, dass die Bedürfnisse der zu pflegenden Person ernst genommen werden.

    Kulturelle und soziale Einflüsse, gesellschaftliche Normen und persönliche Werte - all das prägt das Verständnis von Gewalt. Nicht alles, was in der Pflege als Gewalt verstanden wird, ist rechtlich verboten. Auch respektlose Kommunikation gegenüber Pflegbedürftigen oder aggressives Verhalten können demütigend sein und die Würde verletzen.

    Die Ursachen, warum es zu Gewalt im Pflegebereich kommt, sind vielfältig: Überforderung, Zeitdruck, Personalmangel. Und nicht immer steht Absicht dahinter. Doch pflegebedürftige Personen können ebenfalls gewalttätig sein. Das gilt etwa für Demenzkranke, die mitunter aggressiv, laut oder handgreiflich werden.

    Auch zwischen pflegebedürftigen Menschen kann Gewalt stattfinden - zum Beispiel in Form von Beleidigungen, aggressivem Verhalten bis hin zu körperlicher Gewalt oder sexueller Belästigung. Auslöser dafür sind oft alltägliche Situationen in Pflegeeinrichtungen wie der Streit über den Platz im Speiseraum, ständiges Rufen anderer Bewohner oder unerlaubtes Betreten eines fremden Zimmers. Für das Pflegepersonal ist das oft eine Herausforderung, denn es hat die Pflicht, pflegebedürftige Menschen zu schützen. In solchen Fällen sollte das Pflegepersonal möglichst früh eingreifen und die Konfliktparteien trennen. Dabei ist es wichtig, selbst ruhig zu bleiben und den Betroffenen zu zeigen, dass man sie ernst nimmt - ohne zu schimpfen oder zu belehren.

    Allgemein lassen sich folgende Aspekte von Gewalt in der Pflege unterscheiden:

    Körperliche Gewalt

    Dazu gehören unter anderem Schlagen, Kratzen, Spucken oder grobes Anfassen, aber auch unbequemes Hinsetzen oder Hinlegen sowie die unerlaubte Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen (Bettgitter, Gurte, Ruhigstellung mit Schlafmitteln oder Psychopharmaka). Kratzer, Hautverletzungen oder blaue Flecken können Hinweise auf körperliche Gewalt sein, aber auch Abdrücke auf der Haut, beispielsweise von Schnallen oder Gürteln.

    Psychische Gewalt

    Sie wird immer dann ausgeübt, wenn eine Person angeschrien, beschimpft, beleidigt, ignoriert oder gedemütigt wird. Auch ungefragtes Duzen oder das Betreten des Zimmers ohne Anklopfen ist eine Grenzüberschreitung.

    Vernachlässigung

    Vernachlässigung ist ebenso eine Form von Gewalt - dazu zählen zum Beispiel das Unterlassen von Hilfen im Alltag, mangelhafte Pflege und Hygiene oder der Entzug von Nahrung oder Flüssigkeit. Vernachlässigung ist nicht immer leicht nachzuweisen. Wenn die pflegebedürftige Person ungepflegt, dehydriert oder unterernährt erscheint oder sich ihr Allgemeinzustand in kurzer Zeit ohne medizinischen Grund stark verschlechtert hat, sollte man das Gespräch mit der Einrichtungsleitung und dem behandelnden Arzt suchen. Wer einen Schutzbefohlenen pflegt und sich nicht ausreichend kümmert, kann sich der Misshandlung strafbar machen -  das gilt auch für pflegende Angehörige.

    Finanzielle Ausnutzung

    Eine Form von Gewalt ist auch die finanzielle Ausbeutung durch Pflegepersonen, Angehörige oder Betreuerinnen und Betreuer, indem diese mit dem Vermögen der anvertrauten Pflegebedürftigen nicht rechtmäßig umgehen, diese zu Geldgeschenken nötigen oder Geld beziehungsweise Wertgegenstände stehlen.

    Sexualisierte Gewalt

    Dazu gehören beispielsweise sexuelle Andeutungen, das Verletzen von Schamgefühl und Intimsphäre oder erzwungene Intimkontakte.