Offener Umgang mit Gewalt birgt Chancen
Ob Anfeindungen, Beschimpfungen oder körperliche Übergriffe – für viele Beschäftigte in Pflegeberufen gehören solche Erfahrungen zum Arbeitsalltag. Dennoch ist die Gewalt gegen Pflegende in vielen Einrichtungen ein tabuisiertes Thema. Warum das so ist und welche Möglichkeiten es gibt, mit Gewalterfahrungen umzugehen und Aggressionen vorzubeugen, erklärt Dr. Holger Pressel, Leiter der Stabsstelle Politik, Verbände & Gremienmanagement bei der AOK Baden-Württemberg. Er ist Autor des Buches: "Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz".
Interview
Statistiken zeigen: Gewalt in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern sind keine Seltenheit. Warum dringt dann so wenig nach außen?
Dr. Holger Pressel: Ich vermute, dass Pflegeheime oder Krankenhäuser negative Folgen für sich befürchten, wenn sie offen darüber sprechen. Und zwar in Hinblick auf ihre potentiellen „Kunden“, also Patientinnen und Patienten oder Pflegebedürftige und deren Angehörige. Denn der Begriff Gewalt könnte zum Beispiel bei Angehörigen Ängste auslösen, nach dem Motto: „Ich bringe meine Mutter doch nicht in ein Heim, wo Gewalt an der Tagesordnung ist“. Aber auch potenzielle neue Mitarbeitende könnten davon abgeschreckt werden. Niemand möchte in einer Einrichtung arbeiten, in der Menschen verbal oder körperlich angegriffen werden.
Sollten Einrichtungen hier transparenter mit solchen Ereignissen umgehen?
Pressel: Ja, das kann ich nur empfehlen. Denn der offene Umgang mit dem Thema birgt für die Einrichtungen vor allem Chancen, ihre Attraktivität zu erhöhen, und zwar für Kunden und Beschäftigte gleichermaßen. Eine Einrichtung würde damit zeigen, dass sie eine offene Kultur lebt und sich proaktiv auch mit schwierigen Themen auseinandersetzt. Trotzdem kann ich nachvollziehen, wenn sich viele damit schwertun, den ersten Schritt zu machen. Aber je mehr es sich trauen, mutiger mit dem Thema umzugehen, desto mehr werden dem Beispiel folgen und ihr Schweigen brechen.
Welche Folge haben Gewalterfahrungen für Betroffene?
Pressel: Bei betroffenen Menschen wirken sich solche Erlebnisse vor allem negativ auf die Psyche aus. Von Schlaflosigkeit über Angstzustände und Depressionen bis hin zum Wunsch, die Tätigkeit und den Arbeitgeber zu wechseln. Natürlich gibt es auch physische Folgen, wenn etwa jemand mit einem scharfen Gegenstand angegriffen wird. In aller Regel ist es aber die Psyche, die auch nach körperlichen Übergriffen leidet. Das bekommen auch Pflegeeinrichtungen zu spüren, beispielweise in Form von höheren Fehlzeiten, Produktivitätsausfällen oder gar Kündigungen.
Ist Gewalt immer vorsätzlich?
Pressel: Nein, um vorsätzliche Gewalt handelt es sich dabei nur sehr selten. Gerade in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern kommt es viel häufiger zu Übergriffen, weil Menschen sich hilflos, allein gelassen oder überfordert fühlen. Experten sprechen in diesem Zusammenhang von gewaltauslösenden Reizen. Ein Beispiel: Ein Mann bringt seinen Vater in eine Notaufnahme, er muss im Wartezimmer bleiben, die Zeit verstreicht, er bekommt keine Informationen, wie es dem Vater geht, er macht sich Sorgen, tigert durchs Wartezimmer. Da kann es schon mal passieren, dass man die Nerven verliert. Oft genügt dafür ein falsches Wort und die Situation heizt sich auf. Die meisten Menschen, die in die Notaufnahmen kommen, sind abergrundsätzlich nicht aggressiv. Sie sind meistens einfach nur besorgt und mit der Situation überfordert.
Was können Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser tun, um solche aufgeheizten Situationen erst gar nicht entstehen zu lassen?
Pressel: Ein guter Weg ist das Deeskalationsmanagement. Es fängt mit der Gefährdungsanalyse an, die die Gründe, also gewaltauslösende Reize identifiziert, etwa die langen Wartezeiten oder zu wenige Sitzgelegenheiten für Angehörige in den Wartebereichen. Stehen sie erst einmal fest, können die Einrichtungen nach Möglichkeiten suchen, diese Reize zu minimieren. Daneben gibt es auch sogenannte Deeskalationstrainings. Sie zielen darauf ab, die Beschäftigten in verbaler Deeskalation zu schulen. Es geht darum, Wissen und Strategien zum Umgang mit problematischem Verhalten zu vermitteln. Wenn Angehörige oder Patienten zum Beispiel vorwurfsvoll artikulieren, bedeutet das nicht automatisch, dass sie Streit suchen. Vielmehr sind solche Äußerungen Ausdruck von Not und Hilflosigkeit. In solchen Situationen reicht es oft, ruhig zu bleiben und verständnisvoll zu reagieren. Damit lässt sich in vielen Fällen eine weitere Eskalation verhindern. Damit aber die präventiven Maßnahmen richtig greifen, sind zwei Voraussetzungen notwendig: die Enttabuisierung des Themas in allen seinen Facetten und ein klares Bekenntnis zu einer "Nulltoleranz-Strategie" gegenüber jeder Form von Gewalt.
Und was empfehlen Sie den Betroffenen?
Pressel: Was den Betroffenen wirklich hilft, ist, wenn sie das Erlebte aufarbeiten können. Ob das tatsächlich passiert, ist in hohem Maße eine Frage der Kultur, und vor allem der Fehlerkultur in dem jeweiligen Unternehmen. Davon hängt ab, wie mit dem Thema umgegangen wird und was getan wird, um Betroffenen zu helfen. Wenn Verantwortliche in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern den Gedanken zulassen, dass problematisches Verhalten auch in der eigenen Einrichtung vorkommen kann, ist die Chance groß, dass Signale von Gewalt erkannt und entsprechende Maßnahmen dagegen ergriffen werden. Wenn aber Beschäftigte, die Fälle von Gewalt melden, den Eindruck haben, von Vorgesetzten als ängstlich, überempfindlich oder überfordert angesehen zu werden, fehlt die Basis für künftige Meldungen sowie für erfolgversprechendes, präventives Handeln.
Betriebliche Gesundheitsförderung ist Aufgabe der Krankenkassen. Prävention von Gewalt ist ein Baustein davon. Wie unterstützt die AOK?
Pressel: Prävention Prävention bezeichnet gesundheitspolitische Strategien und Maßnahmen, die darauf abzielen,… von Gewalt kann nur gelingen, wenn Menschen bereit sind, das Problem beim Namen zu nennen, die kritischen Situationen zu analysieren und nach Lösungen zu suchen. Mit der Aktion “Gewaltfrei Pflegen“, mit der wir die ohnehin schon enorm belastete Pflegebranche stärken wollen, setzen wir gemeinsam mit unseren Partnerinnen und Partnern genau an dieser Stelle an. Das heißt, das Thema aus der Tabuzone holen, indem wir über Ursachen und Formen von Gewalt informieren und Wege aufzeigen, wie es gelingen kann, Gewaltsituationen zu vermeiden. Dazu zählen auch Angebote zur Betrieblichen Gesundheitsförderung ist ein fortlaufender Prozess mit dem Ziel, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über… .
Sie sind Mitarbeiter der AOK Baden-Württemberg. Was bietet ihr Haus in diesem Bereich an?
Pressel: Wir greifen das Thema im Rahmen unseres Angebots „Prävention in der Pflege“ (PiP) auf. Dieses richtet sich an stationäre Pflegeeinrichtungen. Die AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… unterstützt sie sowohl personell als auch finanziell dabei, ein ganzheitliches Gesundheitsmanagement aufzubauen und umzusetzen, das die Bedarfe und Bedürfnisse sowohl der Pflegebedürftigen als auch der beruflich Pflegenden berücksichtigt. Über 60 Pflegeeinrichtungen arbeiten bereits damit. Die Erfahrungen sind so gut, dass die AOK Baden-Württemberg überlegt, die Zielgruppe auszuweiten.
Zahlen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung belegen: Einrichtungen des Gesundheitswesens sowie stationäre Pflegeeinrichtungen sind von Gewaltereignissen überproportional oft betroffen. So ist mehr als jeder zehnte gemeldete Unfall (11,6 Prozent) in Pflege Kann die häusliche Pflege nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht Anspruch auf… - und Altenheimen ein Gewaltereignis. Im öffentlichen Dienst passieren Gewaltunfälle am häufigsten in psychiatrischen Krankenhäusern. Dort geht fast jeder dritte Unfall auf Gewalt, Angriff oder Bedrohung zurück (29 Prozent). Bei übrigen öffentlichen Kranhäusern war es jeder 20. Unfall (4,9 Prozent). Im Durchschnitt lag der Anteil der Gewaltunfälle an den meldepflichtigen Arbeitsunfällen bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften bei knapp zwei Prozent (1,7 Prozent) beziehungsweise im Bereich der Unfallkassen der öffentlichen Hand bei knapp vier Prozent (3,9 Prozent).