Hilfe bei Vernachlässigung
Mit der Aktion „Gewaltfrei Pflegen“ will die AOK auf ein wichtiges Thema in der Pflege aufmerksam machen und Hilfsangebote für Betroffene aufzeigen. Welche Unterstützung es im Falle von Vernachlässigung gibt, erklärt Daniela Sulmann, Geschäftsleiterin im Zentrum für Qualität in der Pflege und Pflegeexpertin, im Interview.
Frau Sulmann, ab wann liegt eine Vernachlässigung von Pflegebedürftigen vor?
Daniela Sulmann: Allgemein kann man sagen, Vernachlässigung einer pflegebedürftigen Person liegt vor, wenn eine angemessene Reaktion auf deren Bedarf oder Bedürfnis im Rahmen einer familialen oder professionellen Pflegebeziehung unterbleibt und ihr dadurch Schaden zugefügt wird. Vernachlässigung ist eine Form von Gewalt und sie kann emotional, geistig und körperlich erfolgen. Durch Vernachlässigung kann es zu sehr schweren Gesundheitsproblemen bis hin zum Tod kommen.
Auf welche Signale gilt es zu achten?
Sulmann: Ob pflegebedürftige Menschen bei der Pflege Kann die häusliche Pflege nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht Anspruch auf… vernachlässigt werden, ist nicht immer direkt erkennbar. Denn viele Probleme und Symptome können auch bei einer sehr guten Versorgung auftreten und ganz andere Gründe als Vernachlässigung haben. Gleichwohl ist es sinnvoll, aufmerksam zu sein und Anzeichen nachzugehen. Körperliche Anzeichen können beispielsweise Untergewicht, Flüssigkeitsmangel oder mangelnde Körperhygiene sein. Anzeichen im Verhalten können Ängstlichkeit, Teilnahmslosigkeit, Traurigkeit oder Aggressivität sein.
Was sind die Ursachen für Vernachlässigungen in der Pflege?
Sulmann: Oftmals sind es mehrere Faktoren, die dazu beitragen. Wahrscheinlich steht in vielen Fällen nicht die Absicht dahinter zu schädigen. Gründe hierfür können beispielsweise Zeitmangel, Stress und Überforderung, körperliche oder psychische Überlastung sowie mangelnde finanzielle Mittel sein. Vernachlässigung kann aber auch in mangelndem Wissen oder ungenügender Empathie der Pflegenden begründet sein. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Vernachlässigung mit dem bewussten Ziel der Schädigung oder der Machtausübung erfolgt. Das kann zum Beispiel in stark gestörten Pflegebeziehungen oder bei psychischen Problemen der pflegenden Person geschehen. Die Form der Selbstvernachlässigung pflegebedürftiger Menschen, die möglicherweise gar nicht selten ist, ist in diesem Kontext aber nicht gemeint.
Was können Angehörige tun, wenn sie den Eindruck haben, dass die pflegebedürftige Person durch die professionelle Pflege schlecht versorgt wird?
Sulmann: Wenn bei der Pflege etwas nicht richtig erscheint, ist der erste Schritt, dies anzusprechen. Am besten spricht man zunächst mit der pflegebedürftigen Person selbst und fragt sie, wie sie die Situation sieht. Dann ist es ratsam, bei den zuständigen Pflegenden nachzufragen, weshalb etwas wie gemacht oder auch nicht gemacht wird. Wenn auf diesem Wege die Situation nicht geklärt werden kann, ist es im nächsten Schritt sinnvoll, sich an die Pflegedienstleitung oder Hausleitung zu wenden. Wenn dort auf Fragen oder Kritik nicht schnell und angemessen reagiert wird, kann man offizielle Stellen einbeziehen. Infos dazu bekommt man bei der Pflegekasse oder privaten Pflegeversicherung Die Pflegeversicherung wurde 1995 als fünfte Säule der Sozialversicherung eingeführt. Ihre Aufgabe… der pflegebedürftigen Person oder auch bei einer Pflegeberatungsstelle. Auch dem Medizinischen Dienst,dem PKV-Prüfdienst Die Krankenversicherungsträger, ihre Landesverbände, der GKV-Spitzenverband, die… oder der örtlichen Heimaufsichtsbehörde kann man Probleme melden. Außerdem gibt es vielerorts kommunale Beschwerdestellen für die Pflege. Deren Adressen sowie die der örtlichen Heimaufsicht kann man in der frei zugänglichen und werbefreien Datenbank des ZQP suchen.
Was sollten professionell Pflegende tun, wenn sie Anzeichen für Vernachlässigung durch Angehörige in der häuslichen Pflege beobachten?
Sulmann: Professionell Pflegende sind verpflichtet, pflegebedürftige Menschen vor Gefahren zu schützen, die zum Beispiel durch Vernachlässigung oder andere Formen von Gewalt entstehen können, sie haben eine sogenannte Garantenpflicht. Daher müssen sie aktiv werden, wenn sie Anzeichen für Vernachlässigung wahrnehmen. Auch hier ist der erste Schritt, die Beobachtungen anzusprechen und zwar auf professionelle Weise. Dann gilt es, die Sichtweisen und Empfindungen der Beteiligten, das heißt der pflegebedürftigen und der pflegenden Person, zu erfragen. Ganz wichtig: Alles nachvollziehbar dokumentieren und Vorgesetze informieren. Am besten auch noch den Hausarzt oder die Hausärztin einbeziehen. Im Weiteren ist gemeinsam zu erörtern, was getan werden kann, zum Beispiel für Entlastung sorgen. Dauern die Probleme an, sollte die Pflegekasse oder private Pflegeversicherung der pflegebedürftigen Person eingebunden werden.
An wen können sich pflegebedürftige Menschen, die sich bei der Pflege vernachlässigt fühlen, wenden?
Sulmann: Da kommt es darauf an, von wem und wodurch die pflegebedürftige Person sich bei der Pflege vernachlässigt fühlt. Je nach Situation würde ich raten, sich zunächst an eine Vertrauensperson zu wenden, zum Beispiel eine Angehörige, einen Freund oder Nachbarn, eine Mitarbeitende des Pflegediensts oder auch die Hausärztin. Wichtig ist aus meiner Sicht, pflegebedürftige Menschen dazu zu ermutigen. Denn ich schätze, dass viele von ihnen das nicht tun, vielleicht weil sie denken, dass es keine Lösung gibt. Dabei stimmt das sicher oftmals nicht. Natürlich können pflegebedürftige Menschen wie Angehörige ebenfalls bei den genannten offiziellen Stellen Hilfe erbitten. Außerdem gibt es sogenannte Krisentelefone, die akut unterstützen können. Auf der Webseite des ZQP werden die Telefonnummern von solchen aktuell verfügbaren Stellen angezeigt.
Wann sollte oder muss sogar die Polizei eingeschaltet werden?
Sulmann: Wenn eine pflegebedürftige Person bei der Pflege massiv vernachlässigt wird, und anders keine direkte Abhilfe geschaffen werden kann, sollte die Polizei eingeschaltet werden. Allerdings: Professionell Pflegende müssen dabei zwischen ihrer Garantenpflicht und ihrer Schweigepflicht abwägen. Grundsätzlich gilt, dass der Wille der betroffenen Person ausschlaggebend dafür ist, ob Informationen an die Polizei weitergegeben werden. Die Schweigepflicht darf aber in manchen Fällen gebrochen werden: Wenn ein rechtfertigender Notstand vorliegt, etwa die Unversehrtheit von Leib, Leben oder Freiheit der Person gefährdet sind.