Pflegedienst für queere Menschen

Ob lesbisch, schwul, bisexuell, trans oder inter: Ältere Menschen, die nicht heterosexuell sind, finden in der Pflege bislang wenig Berücksichtigung. Dabei ist der Bedarf da. Denn mit dem demografischen Wandel wächst auch diese Gruppe an Pflegebedürftigen. Häufig bleiben die Betroffenen unsichtbar, weil sie Angst haben, sich zu outen. Ein ambulanter Pflegedienst mit Niederlassungen in Hessen und Rheinland-Pfalz hat sich deshalb auf Diversität spezialisiert.

Vor dem Hintergrund einer Regenbogenfarbe sieht man eine farbige Hand und eine helle Hand, die zusammen eine Herzform bilden.

Für den damals jungen Pfleger Panajotis Neuert war es ein schockierendes Schlüsselerlebnis: Ein Pflegebedürftiger war in seinem Wohnzimmer gestürzt und konnte noch mit Not telefonisch Hilfe rufen. Doch als Neuert gemeinsam mit seiner Kollegin und dem Rettungsdienst In Notfällen gewährleistet der Rettungsdienst lebensrettende Maßnahmen und den Transport kranker und… die Wohnung betraten, fingen die Rettungskräfte - ein Mann und eine Frau - plötzlich an, sich über den betagten Mann lustig zu machen. Denn der hilflose Senior war lediglich bekleidet mit einem roten BH und einem Slip. Für Panajotis Neuert eine entsetzlich empathielose Reaktion. "Ich bin selbst Männer liebend. Die Situation habe ich heute noch vor Augen", schildert der heute 36-Jährige. "Da ist mir klar geworden, es gibt keine Sparte für queere Menschen, keiner interessiert sich für sie. Ich habe mich auch gefragt, was passiert mit dir, wenn du alt bist?" 

"Die Diversität ist bei uns umfassend"

Diese Erfahrung war für Neuert der Impuls, seinen eigenen ambulanten Pflegedienst zu gründen, spezialisiert auf interkulturelle und sexuelle Identität. Sein Credo: Alle Menschen sollen sich entsprechend ihrer eigenen Identität gleichermaßen akzeptiert und respektiert fühlen. Seit 13 Jahren betreibt er inzwischen sein Unternehmen "Pflege im Quadrat" in Mannheim. Mit 15 fing er an, in der Pflege Kann die häusliche Pflege nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht Anspruch auf… zu arbeiten. In seinem Berufsleben als Angestellter habe die ganze Klaviatur erlebt, die mit Grund für den Pflexit sind, sprich Pflegekräfte, die sich andere Jobs suchen, weil die Belastung zu hoch, die Wertschätzung zu gering und der Verdienst zu niedrig ist. Er wollte "alles, was mir nicht gefallen hat, ändern und Pflege besser machen", so der Mannheimer. Und vor allem Pflege für queere Menschen bieten. Zudem gehe es ihm aber auch darum, "Transfrau und Transmann" als Mitarbeitende im Team zu haben. "Die Diversität ist bei uns umfassend", unterstreicht der Betreiber. 

Die Umsetzung war für Neuert ein überraschend langer Weg. Um seinen Pflegedienst divers auszurichten, mussten viele Kleinigkeiten berücksichtigt werden. "Als schwuler Mann habe ich gedacht, wir erfüllen schon alle Kriterien und in zwei Wochen passt alles, doch es hat tatsächlich ein Jahr gedauert, um die vielen Details umzusetzen", erzählt er. Das reiche von der genderneutralen Stellenbeschreibung bis hin zur ersten Frage in Vorstellungsgesprächen, wie die bewerbende Person angesprochen werden möchte. Vor Kurzem sei erst wieder ein Bewerber dagewesen, der sich als Mann definiere, biologisch aber eine Frau sei. "Ich habe nie bedacht, dass sich dadurch jemand diskriminiert fühlen könnte. Genauso wie ich für mein Schwulsein nicht angefeindet werden möchte, wollen andere mit ihrer persönlichen Identität akzeptiert werden und sind verletzt, wenn das nicht der Fall ist", habe er gelernt. 

Zu Pflegende bekommen einen Verhaltenskodex

Um die Standards zu gewährleisten, schaue "Pflege im Quadrat" bei der Kundschaft genau hin. Wer beleidigend wird, müsse sich eine andere Betreuung suchen, dabei sei man aber gerne behilflich. "Zu Pflegende bekommen zuerst einen Verhaltenskodex in dem steht, dass wir offen sind für alle. Wir laden die Menschen zu uns ein, sich vorzustellen und über ihre Erfahrungen in Gesundheitseinrichtungen wie Kliniken zu berichten". Dabei offenbarten sich etliche Defizite. "Uns ist aufgefallen, wieviel Aufklärungsbedarf es grundsätzlich noch über die Pflege hinaus im Gesundheitswesen Das Gesundheitswesen umfasst alle Einrichtungen, die die Gesundheit der Bevölkerung erhalten,… für die queere Community gibt", so Neuert.

Bei Intergeschlechtlichen fingen die Probleme bereits bei der Frage an, ob sie zum Frauenarzt oder zur Urologin gehen. Oder in welcher Station im Krankenhaus Krankenhäuser sind Einrichtungen der stationären Versorgung, deren Kern die Akut- beziehungsweise… die Person untergebracht werden möchte. „Da fangen die Diskriminierungen bereits an“, betont Neuert. Die Pflegekräfte im Mannheimer Unternehmen betreuten jede Person individuell. Wenn zum Beispiel „Günter“ mit dem Namen „Jessica“ angesprochen werden möchte, „ist das bei uns im System gespeichert und das machen alle Mitarbeitenden dann einfach ohne Diskussion“, berichtet der Betreiber. 

Der Prozess, alle Mitarbeitende mitzunehmen auf den Weg in die Diversität, dauere bis heute an. Aus dem kleinen Unternehmen sind sechs Niederlassungen mit 268 Kräften gewachsen. Sie fahren 4.000 zu Pflegende täglich an. Mit der Übernahme eines Betreuungsdienstes im vergangenen Jahr wurden und werden die 111 Mitarbeitenden in Schulungen sensibilisiert. Neuert ist es wichtig, dass daneben die Rahmenbedingungen stimmen. Statt dass die Mitarbeitenden zwölf Tage am Stück durcharbeiten und dann nur vier Tage frei hätten, wie vielerorts in dem Job an der Tagesordnung, hält er die Fünf-Tage-Woche hoch. 

Umgang auf Augenhöhe mit Mitarbeitenden und zu Pflegenden

Die Fluktuation sei entsprechend niedrig und liege laut Neuert seit der Gründung bei einem Prozent. Ihm sei ein Umgang auf Augenhöhe mit Mitarbeitenden und zu Pflegenden sehr wichtig. Auf ein eigenes Büro verzichtet er: "Ich möchte in jeder Niederlassung gleichermaßen Teil des Teams sein", sagt der Geschäftsleiter. Konflikte wolle er immer direkt klären und seinen Mitarbeitenden ein gesundes und gutes Arbeitsumfeld bieten mit Benefits wie Yoga- und Massage-Angeboten oder Beteiligung am Fitnessstudio-Beitrag. Gesunde Ernährung stehe zudem auf dem Plan mit Unterstützung der AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… -Beratung. Nachhaltigkeit und Klimaschutz finden ebenfalls ihre Berücksichtigung. Die Filiale in der Innenstadt komme ohne Auto allein mit E-Bikes aus. Neben einer hauseigenen Trainingsakademie gibt es eine festangestellte Kinästhetik-Lehrerin.

Neuert wünscht sich in Pflegeheimen Regenbogen-Stationen

Als wichtige Grundlage für die Ausgestaltung würdevoller Pflege sowie Impulsgeber für den gesamten Bereich der Pflege gilt die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen des Bundesgesundheits- sowie des Familienministeriums. Bei der Pflege generell und speziell mit Blick auf Diversität sieht Panajotis Neuert aber gesundheitspolitischen Nachholbedarf. In Pflegeheimen sollte es zumindest eine Regenbogen-Station geben und dort Pflegekräfte mit Empathie für Diversität arbeiten, findet er. Denn für die Biografiearbeit, um auf zu Pflegende individuell einzugehen, kämen diverse Lebensentwürfe immer noch zu kurz. Dafür brauche es eine Vertrauensbasis, Feingefühl und Verschwiegenheit. Der Erfahrungshorizont sei ein anderer, beispielsweise galt Schwulsein bis 1994 als Straftat nach Paragraf 175. Die Betroffenen mussten in Angst und Heimlichkeit leben.

Schulungsbedarf hinsichtlich Diversität sieht Neuert auch bei Ärztinnen und Ärzten, die mit der Behauptung sozialisiert wurden, dass Homosexualität eine psychische Erkrankung sei. Der bis Januar 2022 gültige ICD-Code ordnete Transsexualität als Störung der Geschlechtsidentität und allgemein als Verhaltensstörung ein. Rückständig seien zudem Software-Systeme für die Verwaltung, bei denen bis heute nicht das Geschlecht "divers" zur Auswahl stünden. In Gesundheitseinrichtungen bräuchte es daneben Unisex-Toiletten und für den stationärem Aufenthalt Unisex-Zimmer. Und besonders für Menschen mit Demenz seien seiner Meinung nach Nachtpflege-Angebote wünschenswert sowie allgemein Kurzzeitpflegeplätze für Urlaube pflegender Angehöriger.

Aus Angst vor Diskriminierung bleiben Nicht-Heterosexuelle in Pflegeeinrichtungen häufig unsichtbar, weil sie ihre sexuelle Orientierung verschweigen, heißt es im Regenbogenportal.de der Bundesregierung, das über gleichgeschlechtliche Lebensweisen und geschlechtliche Vielfalt informiert. Ihre Bedarfe blieben daher unerkannt und Vereinsamung sowie Isolation können die Folge sein. Die Betroffenen entstammen Generationen, in denen ihre Orientierung gesellschaftlich abgelehnt oder sogar strafrechtlich verfolgt wurde. Ihre Furcht vor dem Verlust der Autonomie bei eintretender Pflegebedürftigkeit Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) vom 27. November 2015 wurde der Begriff der… sei zuweilen enorm. Entsprechend stark ausgeprägt sei der Wunsch nach dem Verbleib in der eigenen Häuslichkeit.

Dass Menschen aus der LGBTQI*-Community (Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer und Intersex) mit gesundheitlichen Folgen aufgrund von Diskriminierung kämpfen, belegen Studien. Verschiedene internationale Metaanalysen und systematische Reviews zeigen laut dem Lesben- und Schwulenverband, dass schwule und bisexuelle Männer beziehungsweise Männer, die mit Männern schlafen (MSM), im Vergleich zu heterosexuellen Männern häufiger durch Angst-Störungen, Depressionen sowie Suizidalität belastet sind.

Bei körperlichen Leiden mit potenziell stressbedingtem Auslöser sind LGBTQI*-Menschen laut Erhebungen fast doppelt so oft von Herzerkrankungen (zehn Prozent) und Migräne (zwölf Prozent) betroffen. Sie haben häufiger chronische Rückenschmerzen, 17 Prozent im Gegensatz zu zwölf Prozent der cisheterosexuellen Befragten, deren Geschlechtsidentität demjenigen Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Und sie leiden häufiger an Asthma. Bei Krebserkrankungen, Schlaganfällen und Gelenkproblemen lägen hingegen keine statistisch relevanten Unterschiede vor, heißt es auf der Homepage des Lesben- und Schwulenverbands. 

Um auf Pflegebedürftige individuell und vorurteilsfrei einzugehen, sollten Kräfte bei der Pflegeanamnese nicht automatisch von einer heterosexuellen Biografie ausgehen. Daneben können Einrichtungen und Dienste einen Verhaltenskodex aufstellen und sich ausdrücklich zur Vielfalt bekennen.