Emotionsregulation: Kühlen Kopf bewahren bei Ärger, Angst oder Wut

Der Bus fährt gerade vor der Nase weg, der Kuchen ist nichts geworden: Widrigkeiten im Alltag, die immer wieder passieren. Wie gehen wir damit um? Sollten wir unserem Ärger freien Lauf lassen und uns den negativen Gefühlen hingeben? Schließlich lautet ein oft gehörter Rat: „Lass deine Wut raus!“ Das könnte jedoch schiefgehen: Die schlechte Laune vermiest einem womöglich den ganzen Tag, man stößt eventuell noch andere Menschen vor den Kopf. Die Gefühle zu unterdrücken ist auch nicht die Lösung. „Für die Psyche ist es am gesündesten, unsere Gefühle wahrnehmen und bewusst regulieren zu können“, sagt Dr. Sylvia Böhme, Psychologin und Psychotherapeutin bei der AOK. Sie erklärt, wie das funktionieren kann.

Foto: Eine Frau hat einen Wutanfall vor einem Laptop.

Gefühle ständig wegzudrücken, macht krank

Ob Ärger oder Wut, Trauer oder Traurigkeit, Angst, Eifersucht oder Neid: Eigentlich wollen wir diese unangenehmen Gefühle gar nicht haben. „Doch drücken wir diese Gefühle immer weg, sorgt das für einen ständigen Stress im Hintergrund, der zu körperlichen und psychischen Erkrankungen führen kann“, so Psychologin Böhme. „Auch immerwährende Vermeidungsversuche durch viel Arbeit, Essen, Alkohol, Drogen, Sport oder viele Aktivitäten mit dem Ziel, weniger zu spüren, machen auf Dauer krank.“

Situation neu bewerten

Manche Menschen befürchten, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, wenn sie solche belastenden Emotionen bei sich bemerken. Doch negative Gefühle gehören zum Leben dazu. Es heißt also, sie anzunehmen und ihre Ursache zu verstehen. Niemand ist ihnen passiv ausgeliefert. „Unsere eigene Bewertung der Situation löst sie aus. Daher ist es zunächst einmal wichtig, Gefühle überhaupt wahrnehmen, das heißt differenziert benennen zu können. Das ist die erste große Lernaufgabe. Danach können wir die auslösenden Bewertungen bewusst machen und hinterfragen – eine schwierige Aufgabe, denn sie laufen blitzschnell und automatisiert ab. Kennen wir diese oft wenig hilfreichen, zugrunde liegenden Gedanken, fällt es leichter, die Situation neu zu bewerten, Reframing genannt“, erklärt AOK-Expertin Böhme.  Genau das ist das Ziel der Emotionsregulation, nämlich Gefühle zu verstehen, um sie mithilfe der Bewertungen, die sie auslösen, besser steuern zu können. Es geht also nicht darum, Emotionen mit allen Mitteln zu unterdrücken.

O-Ton von Dr. Sylvia Böhme, Psychologin und Psychotherapeutin bei der AOK

So kann es klappen – Beispiele

Ein Beispiel für eine alternative Bewertung: „Was ist so schlimm daran, dass ich den Bus verpasst habe? Dann warte ich eben auf den nächsten und sage Bescheid, dass ich ein wenig später komme. Vielleicht kann ich die Wartezeit sogar gut gebrauchen? Um noch ein paar Nachrichten zu schreiben, einen Artikel zu lesen oder einfach nur, um mal durchzuatmen.“

Oder: Wenn ich Angst vor etwas habe, lautet eine mögliche Frage, um mich selbst zu beruhigen: „Was ist das Schlimmste, was mir passieren kann?“ Bei einer Bewerbung beispielsweise lautet die Antwort: „Dass ich den Job nicht bekomme und mich traurig und minderwertig fühle.“ Doch ich könnte dann diesen – vermeintlichen – Misserfolg auch anders interpretieren: „Scheinbar passten die Erwartungen der Arbeitgeber nicht zu meinen Qualifikationen. Gut, dass das so früh aufgefallen ist. Ich wäre dort nicht glücklich geworden.“

Achtsamkeit kultivieren

Achtsamkeit hilft dabei, die zahlreichen unangenehmen Gefühle im Alltag überhaupt wahrzunehmen und zuzulassen – etwa den Frust darüber, dass das Konzert ausverkauft ist – und dann gelassen darauf zu reagieren. Eine Studie der Bergischen Universität Wuppertal zeigte: Meditierten die Teilnehmenden zehn Minuten am Morgen, indem sie sich auf den Atem fokussierten, konnten sie während des Arbeitstages Emotionen, Gedanken und Verhalten besser steuern. Sie gerieten sogar leichter in einen regelrechten Flow bei ihrer Arbeit, als wenn sie auf die Morgenroutine verzichteten.

Psychischen Erkrankungen vorbeugen

Emotionen regulieren zu können ist also entscheidend für das eigene Wohlbefinden und für zwischenmenschliche Beziehungen. „Wenn wir Ärger, Wut, Neid oder Traurigkeit besser verstehen und steuern können, fühlen wir uns nicht als Spielball unserer Emotionen“, sagt Dr. Böhme. Mit einem kühlen Kopf lassen sich Konflikte eher lösen. Man kann besser über seine Gefühle reden und wird gleichzeitig sensibler für die Gefühle anderer. Zudem kann man sich besser konzentrieren, wenn man emotional nicht so belastet ist. Ein innerliches Schmunzeln über sich selbst, vielleicht sogar ein lautes Lachen über die eigene Schusseligkeit kann außerdem die schlechte Laune vertreiben. „Langfristig beugen wir psychischen Erkrankungen vor, wenn wir unsere Emotionen regulieren können“, so Psychologin Böhme weiter.

Der Körper mischt mit

Schon Säuglinge und Kleinkinder verfügen über ein gewisses Repertoire, um sich selbst zu beruhigen: Sie lutschen am Daumen, schaukeln hin und her und suchen körperliche Nähe. Ein Hinweis für Erwachsene, dass sich Emotionen auch über den Körper regulieren lassen – indem man zum Beispiel dafür sorgt, genug zu schlafen, sich vollwertig zu ernähren, sich ausreichend zu bewegen, einige Minuten bewusst zu atmen oder mit dem Kind, dem Partner oder der Partnerin zu kuscheln. Auch Entspannungsübungen tragen zu mehr Gelassenheit bei. Doch kinderleicht sei es nicht, Gefühle zu steuern, weiß Böhme: „Man muss es üben, sich die eigenen automatisierten Gedanken bewusst zu machen und hilfreiche Alternativen zu finden, die zu einer angemesseneren emotionalen Reaktion führen. Emotionen vereinnahmen uns nur dann, wenn wir sie nicht verstehen und alles tun, um sie nicht zu spüren. Ich vergleiche sie gern mit einem Ball, den wir versuchen unter Wasser zu drücken. Er wird an anderer Stelle wieder aufpoppen. Verstehen wir allerdings, wie er funktioniert, öffnen wir einfach das Ventil – das ist Emotionsregulation.“