Leistungsangst: Wenn Kinder sich nichts mehr zutrauen

Aufgeregt sein vor einer Klassenarbeit, ein flaues Gefühl im Magen vor einer Prüfung – das ist normal. Doch manche Kinder sind durch ihre Ängste stark beeinträchtigt, wollen womöglich gar nicht in die Schule gehen. Kinder können lernen, ihre Ängste zu überwinden und gleichzeitig ein gewisses Maß an Angst zu tolerieren. Die Eltern sind Vorbild: Wie gehen sie mit ihren eigenen Ängsten um? Wie können Eltern sonst helfen? Wann ist professionelle Hilfe erforderlich? Antworten darauf hat Dr. Astrid Maroß, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie im AOK-Bundesverband.

Foto: Ein Junge lehnt mit dem Kopf und geschlossenen Augen an einer Tafel.

Ängste der Kinder ernst nehmen

Der achtjährige Noah traut sich nicht, sich im Unterricht zu melden. Kommt er dran, bringt er kein Wort heraus. Die zehnjährige Emilia fürchtet sich so vor den Klassenarbeiten, dass sie nachts nicht schlafen kann und nicht mehr in die Schule gehen möchte. Die Eltern versuchen die Kinder zu beruhigen mit einem „Du kannst das doch!“, „Du schaffst das schon!“ oder einem „Hat doch das letzte Mal auch geklappt!“. Doch weder Noah noch Emilia lassen sich damit beruhigen.

Viele Kinder und Jugendliche haben Ängste, fürchten, dass sie Fehler machen, dass ihre Leistungen nicht genügen. „Eltern sollten dann einfühlsam mit dem Kind über seine Gefühle und Gedanken sprechen“, sagt Medizinerin Maroß. „Dabei kommt es darauf an, das Kind ernst zu nehmen, denn die Angst ist ja real, mag sie auch von außen betrachtet unbegründet sein.“

Das zeigt sich auch in Zahlen: Über die Hälfte der Grundschülerinnen und Grundschüler gaben im IQB-Bildungstrend 2021 vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an, dass sie in den Fächern Mathematik und Deutsch eine mittlere bis hohe Angst erleben. Auch ältere Kinder sind betroffen: Jeder dritte Jugendliche hat oft Angst, mit dem Schulstoff nicht hinterherzukommen, so das Ergebnis einer anderen Untersuchung. Der Jungendrat des Kinderschutzbundes in Schleswig-Holstein hat dafür 300 Jugendliche im Jahr 2021 befragt.

Anzeichen von Leistungsangst

„Die anderen sind viel besser als ich.“ „Ich bin sowieso zu dumm.“ „So ein Berg! Das schaffe ich nie.“ „Meine Eltern werden ausrasten, wenn ich nicht bestehe.“ „Ich muss alles wissen!“ Solche Gedanken quälen die betroffenen Kinder häufig. Die Folge: Die jungen Menschen wirken bedrückt, demotiviert, ziehen sich zurück oder werden aggressiv. Sie können sich kaum auf die Schulaufgaben oder Prüfungsvorbereitungen konzentrieren, das Denken ist blockiert, was wiederum die Angst verstärkt und Misserfolge wahrscheinlicher macht. Jüngere Kinder reagieren vor allem mit körperlichen Problemen wie Bauchschmerzen, Übelkeit, Schlafstörungen oder Kopfschmerzen. Schweißausbrüche, Herzrasen, Einnässen, Erschöpfung können andere Symptome sein.

O-Ton von Dr. Astrid Maroß, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie im AOK-Bundesverband

Angstauslösende Situationen werden vermieden

Einige Kinder versuchen, die angstauslösende Situation zu vermeiden, wollen zum Beispiel gar nicht mehr in die Schule gehen. „Doch Vermeidung macht es nur schlimmer: Neutrale oder positive Erfahrungen können dann gar nicht erst gemacht werden, neue Kompetenzen im Umgang mit den Leistungssituationen nicht erworben werden. Zusätzlich kommen Schuld- und Schamgefühle dazu.  Ängste verstärken sich dann immer weiter“, sagt Dr. Maroß. Wenn ein Kind mal eine Nacht vor einer Klassenarbeit nicht schlafen kann oder morgens ein flaues Gefühl in der Magengrube hat, ist das allerdings vollkommen normal. „Doch wenn das Kind über einen längeren Zeitraum bedrückt und ängstlich wirkt und ein Vermeidungsverhalten an den Tag legt, eventuell die gesamte Familie dadurch belastet ist, braucht das Kind Unterstützung.“ 

Miteinander im Gespräch bleiben

„Versuchen Sie, miteinander ins Gespräch zu kommen, wenn Sie mitbekommen, dass Ihr Kind etwas bedrück, und seien Sie auch ansprechbar, wenn Ihr Kind das Gespräch sucht“, empfiehlt Maroß. Dabei sollten Eltern das Gefühl vermitteln, dass das Kind sich wegen seiner Angst nicht schämen muss. Vielleicht kommt dabei heraus, dass es sich vor einer bestimmten Lehrerin, einem bestimmten Lehrer fürchtet. Oder es hat die große Sorge, die Eltern zu enttäuschen. Oder jemand hat einmal gemein reagiert, als ihm ein Fehler passiert ist, und diese Erinnerung macht ihm zu schaffen.

Auch von eigenen Ängsten sprechen!

Besonders aufmerksam hören die Kinder zu, wenn Eltern von ihren eigenen Ängsten – als Kind oder als Erwachsener – berichten und was ihnen hilft beziehungsweise geholfen hat. Es ist auch nicht auszuschließen, dass sich zum Beispiel eine Schulangst von einem Elternteil auf das Kind überträgt. Aber nicht nur die Angst, sondern auch die erfolgreiche Bewältigung der Angst bei den Eltern wird von den Kindern übernommen – das ist die gute Nachricht.

Noten nicht so wichtig nehmen

Wichtig ist auch, dass die Eltern bewusst zwischen der erbrachten Leistung und der Anstrengung für eine Leistung trennen. Bringt das Kind eine schlechte Note nach Hause, sollten die Eltern nicht allzu kritisch reagieren und es schon gar nicht dafür bestrafen. Sondern es dafür loben, wenn es sich gut vorbereitet hat, auch wenn der Erfolg ausbleibt. Gerade dann ist Trost angesagt. Generell gilt: „Interessieren Sie sich eher für die Persönlichkeit Ihres Kindes und die schulischen Erlebnisse und weniger für die Noten“, so Dr. Maroß.

Steckt eine reale Überforderung dahinter?

Zusammen mit dem Kind sollten Eltern überlegen, was die nächsten Schritte sein könnten. „Es ist ratsam, mit der Klassenlehrerin beziehungsweise dem Klassenlehrer zu sprechen oder sich an den schulpsychologischen Dienst zu wenden“, empfiehlt die AOK-Expertin. Womöglich kommt bei den Gesprächen heraus, dass eine reale Überforderung hinter den Ängsten des Kindes steckt, zum Beispiel aufgrund einer Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung. Vielleicht kommt das Kind etwa nach einem Umzug in der neuen Schule nicht zurecht oder ist durch den Wechsel aufs Gymnasium überfordert. Eventuell gibt es in der Klasse mit den Mitschülern oder Mitschülerinnen Probleme oder mit einer bestimmten Lehrkraft. „Eine individuelle Verbesserung der äußeren Faktoren lässt sich oft im Gespräch mit Fachpersonen finden“, so Maroß.

Therapie kann helfen

Eine weitere Ansprechperson ist die Kinderärztin oder der Kinderarzt. Dort kann abgeklärt werden, ob bereits eine Angststörung oder andere Diagnosen vorliegen und eine Psychotherapie sinnvoll ist. Kinder mit Leistungsängsten unterschätzen systematisch ihre Fähigkeiten, überschätzen die Aufgaben und die Folgen eines Misserfolgs. „In einer Psychotherapie können sie beispielsweise lernen, ihre negativen Gedanken zu erkennen und durch mutmachende zu ersetzen“, berichtet Dr. Maroß. Insbesondere eine kognitive Verhaltenstherapie hilft den jungen Menschen, ihre Ängste deutlich zu vermindern, wie Studien zeigen.

Online-Selbsthilfe „Familiencoach Kinderängste“

Wann eine professionelle Abklärung notwendig ist, welche Anlaufstellen es gibt und vor allem wie Eltern ihr Kind im Familienalltag stärken können, das erfahren Eltern im „Familiencoach Kinderängste“ der AOK. Das kostenlose und frei zugängliche Online-Selbsthilfeprogramm wurde mit Unterstützung von wissenschaftlichen Expertinnen und Experten des Universitätsklinikums Köln entwickelt. Filme, interaktive Übungen und zahlreiche Beispiele erleichtern Eltern, die Ängste ihres Kindes zu verstehen. Sie lernen Strategien kennen, die dem Kind bei der Bewältigung der Angst helfen. „Wichtig ist es, dem Kind genug Zeit zu geben“, so Medizinerin Maroß. „Und letztlich braucht es die Botschaft: Wir lieben dich, auch wenn du mal nicht erfolgreich bist.“