Interview: „GKV und SPV müssen dringend finanziell stabilisiert werden“
Drei Fragen an Kai Senf, Politikchef des AOK-Bundesverbandes

Jetzt wird‘s ernst. Gut zwei Wochen nach der Bundestagswahl nehmen CDU/CSU und SPD Koalitionsverhandlungen auf.
Welche Erwartungen haben Sie an die Gespräche, Herr Senf? Gesundheit und Pflege haben im Wahlkampf eine eher untergeordnete Rolle gespielt.

Senf: Leider auch in den Sondierungsgesprächen. Das muss sich in den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag ändern. Gesundheit und Pflege Kann die häusliche Pflege nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht Anspruch auf… sind tragende Säulen des Sozialstaates. Die gesetzliche Kranken- und die soziale Pflegeversicherung Die Pflegeversicherung wurde 1995 als fünfte Säule der Sozialversicherung eingeführt. Ihre Aufgabe… müssen dringend finanziell stabilisiert werden. Und vor allem muss der Bund seiner Finanzverantwortung endlich gerecht werden. Es geht darüber hinaus um mehr Effizienz und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen Das Gesundheitswesen umfasst alle Einrichtungen, die die Gesundheit der Bevölkerung erhalten,… , eine bessere und zielgenauere Steuerung der finanziellen und personellen Ressourcen sowie echte Mehrwerte für Patienten und Pflegebedürftige. Die neue Bundesregierung muss schnell noch in diesem Jahr handeln. Die AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… -Gemeinschaft hat das durchgerechnet und in einem Sofortprogramm aufgeschrieben. Würden unsere Vorschläge umgesetzt, könnten GKV und SPV um 35 Milliarden Euro entlastet werden. In einem ersten Schritt wäre es sehr hilfreich, würden alle versicherungsfremden Leistungen und Investitionskosten aus Steuermitteln finanziert. Das würde beide Versicherungszweige schon einmal jeweils um etwa zehn Milliarden Euro entlasten. Aber auch auf der Ausgabenseite besteht dringend Bedarf, verantwortungsvoller mit den Beitragsgeldern umzugehen. Die neue Bundesregierung muss den Mut haben, die enormen Effizienzpotentiale im Krankenhaus Krankenhäuser sind Einrichtungen der stationären Versorgung, deren Kern die Akut- beziehungsweise… , in der ambulanten Versorgung und bei Arzneimitteln endlich zu heben.
Die Union hat aber auch im Wahlkampf gesagt, sie wolle die Klinikreform noch einmal aufschnüren, insbesondere Zahlungen aus dem Transformationsfonds vorziehen. „Da darf nicht erst in zwei Jahren ausgezahlt werden, weil das wäre eine kalte Strukturbereinigung“, sagte zum Beispiel der bisherige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Sepp Müller, zuständig für Pflege und Gesundheit, im Podcast „G+G Kassentreffen“.
Senf: Mit Blick auf den Transformationsfonds möchte ich ihm fast zustimmen. Den darf die Union gerne wieder aufschnüren und den Bund stärker in die Finanzverantwortung nehmen. Ein noch unbekannter Teil des geplanten Infrastruktur-Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro soll laut der ersten Sondierungsabsprachen Krankenhausinvestitionen zugute kommen. Hier ist unbedingt dafür zu sorgen, dass diese zusätzlichen Finanzmittel direkt in den Krankenhaustransformationsfonds fließen und den GKV-Anteil ersetzen. Es ist nicht einzusehen, warum die GKV zusätzlich die Investitionskosten in Höhe von 25 Milliarden Euro für die Transformation der Krankenhäuser tragen soll, obwohl es sich hier eindeutig um eine Staatsaufgabe im Rahmen der Daseinsvorsorge handelt.
Was den grundsätzlichen Kurs der Klinikreform angeht, kann ich nur davor warnen, die Umsetzung zu bremsen oder gar aufzuhalten. Die Modernisierung der Strukturen, die Spezialisierung der Krankenhäuser und die damit verbundene Steigerung der Behandlungsqualität sind jetzt endlich eingeleitet und dringend geboten. Die neue Bundesregierung muss die Krankenhausreform nun schnell um eine Reform der Notfallversorgung, des Rettungsdienstes und den Ausbau der Primärversorgung Unter Primärversorgung wird die gesundheitliche Grundversorgung und Beratung verstanden, in der auch… ergänzen. Ein wichtiger Schlüssel zur Steigerung der Versorgungseffizienz und effektiveren Ressourcensteuerung im Gesundheitswesen liegt in der besseren Verzahnung dieser Bereiche.
Der Vorstandsvorsitzende der DAK-Gesundheit, Andreas Storm, fordert einen Gesundheitsgipfel im Kanzleramt. Ist das eine gute Idee?
Senf: Die AOK ist immer gesprächsbereit, und im Sinne langfristig stabiler Finanzen hat Herr Storm sicher recht. Bei der Diskussion um Sondervermögen für Verteidigung und Infrastruktur sowie die Modernisierung der Schuldenbremse wird gerade viel über die Resilienz und Handlungsfähigkeit des Staates und der Demokratie diskutiert. Für Gesundheit und Pflege wäre es da sicher auch angezeigt, alle Beteiligten aus Politik und Gesundheitswesen an einen großen runden Tisch zu holen. Insbesondere Krankenhausvertreter, Ärzte, Apotheker Der Beruf des Apothekers setzt ein Pharmaziestudium voraus. Näheres zur Ausbildung und… und Pflegeanbieter täten gut daran, bei den Partikularinteressen abzurüsten und stärker die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems in den Blick zu nehmen. Das könnte vielleicht bei einem Kanzlergipfel gelingen. Für die kurzfristigen Handlungsnotwendigkeiten zur Stabilisierung der GKV- und Pflegefinanzen haben wir allerdings kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsdefizit. Vorschläge liegen mit dem AOK-Sofortprogramm auf dem Tisch. Die neue schwarz-rote Regierungskoalition muss jetzt handeln.